Für eine kämpferische Neuvermessung der Arbeit!

John Maynard Keynes, der wirkmächtige Ökonom und „Arzt am Krankenbett des Kapitalismus“, prognostizierte 1930, dass wir dank des technischen Fortschritts im Jahre 2030 wohl nur mehr 3 Stunden am Tag arbeiten müssen. Quasi zeitgleich schloss sich der berühmte englische Philosoph Bertrand Russel, mit zahlreichen weiteren bekannten Köpfen seiner Zeit, der in den USA aufgrund der enorm gestiegenen Arbeitsproduktivität bereits vor fast einem Jahrhundert aufgekommenen Forderung nach einem 4-Stunden-Tag an.

Knapp 100 Jahre später herrscht, nach anfänglichen Durchsetzungsschüben der Arbeitszeitverkürzung nach dem Zweiten Weltkrieg, jahrzehntelanger Stillstand hinsichtlich einer weiteren Verkürzung der Arbeitszeit. Ja, Österreich weist realiter sogar die dritthöchste Realarbeitszeit in der EU auf.

In den letzten Jahren nehmen die Debatten und Forderungen zur Arbeitszeitverkürzung allerdings wieder etwas an Fahrt auf. Sowohl international wie national. Ob in der aktuellen Forderung der IG-Metall nach einer Senkung der Wochenarbeitszeit auf 32 Stunden und einer 4-Tage-Woche, oder auch etwa in Modell-Versuchen in Island, Schweden, Spanien aber auch etwa in Großbritannien. Und auch in Österreich ist mit jüngsten Vorstößen die Debatte um eine weitreichende Arbeitszeitverkürzung sowie eine 4-Tage-Woche neu entflammt oder stehen, wie in der aktuellen KV-Runde Elektro- und Elektronikindustrie, auf der Agenda.

Knappe 5 Jahrzehnte 40/h-Woche – 4 Jahrzehnte Papiertiger 35/h-Woche

Aber Letztes sind zaghafte Ausreißer in der arbeitszeitpolitischen Großwetterlage. Seit 1975, also bald einem halben Jahrhundert (!), kam es nach Einführung der 40-Stunden-Woche in Österreich denn auch zu keiner weiteren umfassenden und generellen Arbeitszeitverkürzung mehr. Zwar konnten seither in verschiedenen Branchen kollektivvertragliche Arbeitszeitverkürzungen durchgesetzt werden. Von einer flächendeckenden Arbeitszeitverkürzung oder gar Einführung einer gesetzlichen 35-Stunden-Woche als erstem und überfälligem Schritt einer weitreichenden Arbeitszeitverkürzung sind wir nichts desto trotz meilenweit entfernt.

Die gesetzliche Regelarbeitszeit liegt unverändert bei 40 Wochenstunden. Die seit 1983 von ÖGB und AK vielfach geforderte 35-Stunden-Woche ist auch nach mittlerweile vier Jahrzehnten nicht durchgesetzt. Damals wurde diese bereits als (Produktivitäts-)Abgeltung der Effektivierungen der 1970er Jahre (!) gefordert. Heute begründet sie sich dahingehend, wie der weitere Schritt in Richtung einer weitreichenderen Arbeitszeitverkürzung auf 30 Stunden, ökonomisch natürlich in nochmals drastisch gestiegenem Ausmaß aus der enormen seitherigen Produktivitätssteigerung, die sich in diesen 50 Jahren „pro geleistete Arbeitsstunde verdoppelte“ hat, während sich „bei der gesetzlichen Arbeitszeit … nichts getan hat“, wie auch Sybille Pirklbauer seitens der AK gerade hervorstrich.

Der damit mit einhergehenden, gestiegenen Arbeitsintensität, Belastungen und Stress entsprechend, sprechen sich denn einer neuen Umfrage der AK zufolge, und zwar quer durch alle Branchen, auch deutliche 82% der Beschäftigten für eine weitergehende sowie vielfach radikale Reduzierung der Wochenarbeitszeit aus. Und zwar in einem Korridor zwischen 35 bis 25 Stunden – sprich: bis zu Forderung nach einer neuen „kurzen Vollzeit“.

Denn entgegen machen stumpfsinnigen Gerede, stellt die Arbeitswelt unverändert nicht nur den kompaktesten Block unseres Lebensalltags dar, sondern drückt auch unserer übrigen Lebenszeit immer stärker ihren Stempel auf: Von der ausufernden Verfügbarkeit unserer Arbeit, über die Intensivierung der Arbeitsprozesse und Arbeitsverdichtung, bis zu gegenüber früher längeren Anfahrtszeiten zum Betrieb. Mit all den damit einhergehenden physischen und psychischen Belastungen und Folgen: Stress, Überarbeitung, Burn-Out und anderen stressbedingten Erkrankungen, steigendem Arbeitsunfallrisiko, akutem privaten Zeitmangel, zunehmender Unvereinbarkeit von Beruf und Privatem und fehlender ausreichender Erholung.

Demgemäß gab auch jede/r dritte Beschäftigte der Umfrage an, sich nicht vorstellen zu können seinen/ihren aktuellen Job bis zur Pension ausüben zu können. Entsprechend schreien die Verhältnisse denn auch geradezu nach einer Wende in Richtung „kurzer Vollzeit“ für alle.

Für eine Neuvermessung der Arbeit!

Neben der unabdingbaren Abfederung der gestiegenen Arbeitszeitverdichtung und als beschäftigungspolitischer Hebel, ist eine radikale Arbeitszeitverkürzung (über eine rein monetäre Konsumpartizipation hinausgehende) und gesellschaftliche Umverteilung der Arbeit auf alle, denn zugleich ebenso zu verstehen als Aneignung der Produktivitätssteigerung seitens der Arbeitenden auch in Form von mehr freier Zeit: fürs Private, für Muße, Genuss und Selbstentfaltung. Oder um ein weiteres Mal einen bloß bürgerlichen Ökonomen ersten Ranges heranzuziehen und daher noch einmal mit John Maynard Keynes geredet: Wir sind schon „zu lange“ darin verfangen, im Job „immer das Äußerste zu geben“, und anschließend nur mehr oder zumindest vorrangig danach zu trachten irgendwie ‚abzuschalten‘, und „haben nicht gelernt uns zu entspannen“ und „den Tag auszukosten“.

Last but not least würde eine radikale Arbeitszeitverkürzung auch das Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern reduzieren: Sie ermöglicht es Frauen, leichter aus den mannigfach erzwungenen flexiblen Arbeitszeiten und „Zwangs-“ Teilzeit mit zu wenig Lohn für ein selbständiges Leben in Vollzeitbeschäftigung auszubrechen, während männliche Beschäftigte wiederum mehr Zeit hätten, um ihren Teil an Haushalt und Kinderbetreuung zu übernehmen.

Hinzu gilt es Arbeitszeitverkürzung darüber hinaus allerdings zugleich in all ihren Dimensionen auf die Agenda zu setzen, im Sinne der einer gesamthaften Verkürzung der Wochen-, Tages-, Jahres- und Lebensarbeitszeit – also ebenso erweiterte Urlaubsansprüche und eine Senkung des Pensionsantrittsalters umfassend.

Arbeitszeitverkürzung als „Sieg der politischen Ökonomie der arbeitenden Klassen“ … (K. Marx)

Für eine solche Neuvermessung der Arbeit bedarf es allerdings entschiedener und ganz anders gelagerter Maßnahmen als die „Aufforderung“ an Arbeits- und Wirtschaftsminister Kocher, ein neues Arbeitszeitgesetz Richtung „gesunder Vollzeit“ unter „Einbindung aller Sozialpartner“ auf den Weg zu bringen. Ohne entschiedenem Klassenkampf und dem „Appell“ als höchster gewerkschaftlichen Kampfform wird es erneut bei warmer Luft und wirkloser Resolutionen für die Schreibtischlade verbleiben. Eine kämpferische Auseinandersetzung um eine neue „kurze Vollzeit“ und des Zugewinns an emanzipatorischer Lebensqualität indes, eröffnete hingegen nicht nur die einzige Möglichkeit diese auch durchzusetzen – also mit Marx gesprochen einen „Sieg der politischen Ökonomie der arbeitenden Klassen“ zu erringen (wie er die seinerzeitige 10-Stunden-Bill in England bezeichnete) –, sondern ist zugleich mit einer kämpferischen Verschiebung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse verbunden und könnte eine insgesamte soziale Wende einleiten.

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