Wer mit naiver Neugier in einen der gängigen Lehrbuchklassiker der bürgerlichen Ökonomie blickt – etwa in „den“ Samuelson oder Mankiw –, wird vermutlich verdutzt die Augen rollen: Bezüglich eines systematisch durchgearbeiteten Kapitels zu Wirtschaftskrisen wird er nicht fündig werden.
Obschon in den bürgerlichen Lehrbuchweisheiten heute nicht mehr ganz so krude übergangen wie noch vor Keynes ebenso banaler wie damals bahnbrechender Frage nach ‚Marktungleichgewichten‘, gilt für die politische Ökonomie der bürgerlichen wirtschaftswissenschaftlichen Zunft und deren diffusen Zustand im Grunde nach wie vor das Wort des „Manchester Guardian“ von 1931: „Wir wissen mehr über den Kreislauf der Erde um die Sonne und der Sonne um das Universum, als wir über die Industriezyklen wissen.“ Ganz anders dagegen der am 5. Mai 1818 geborene, heutige Jubilar Karl Marx. Was vor dem Hintergrund des heurigen 150. Jahres der verheerenden Weltwirtschaftskrise 1873 und des kurz bevorstehenden 150. Jahrestags des „Schwarzen Freitages“ in Österreich, sowie der globalen Lage des Kapitalismus, gar nicht hinlänglich genug herausgestrichen werden kann.
Daran ändert auch das ebenso üppige, wie kunterbunte und im Einzelnen natürlich früh einsetzende bürgerliche Schrifttum über Konjunktur- und Krisenzyklen kaum etwas. Allerdings ist auch die – in einem größeren und systematischen Zusammenhang schon im „Manifest“ von Marx und Engels zugrunde gelegte – marxistische Krisentheorie nicht frei von harten, teils unfruchtbaren (sich mehr politisch denn ökonomisch begründenden) Kontroversen und einem gewissen krisentheoretischen Durcheinander. Dem kann im hiesigen Kontext freilich ebenso wenig nachgegangen werden, wie einer ausführlichen Analyse der einschneidenden Weltwirtschaftskrise 1873. Vorliegend ist es in der Tradition Marx-Lenin vielmehr vorrangig um deren historische Transformation des Kapitalismus der „freien Konkurrenz“ in den Imperialismus zu tun.
Denn, wie Georg Fülberth im gegebenen Zusammenhang jüngst zu Recht gerade schrieb: „Wer heute von Großer Depression spricht, denkt meist an die Folgen der Weltwirtschaftskrise von 1929. Doch schon einige Jahre vorher war der Begriff von Wirtschaftshistorikern gebraucht worden und bezog sich auf die Jahrzehnte nach dem Wirtschaftseinbruch von 1873.“ Und: „Vielleicht wird man später einmal die langfristigen Ergebnisse der Krise von 2007 ff. so bezeichnen.“
Nach den „wirtschaftlichen Blütejahren“ von 1867 bis 1872 und dem besten Wirtschaftsjahr der Monarchie in der Epoche des „freien Kapitalismus“ 1872, machten sich bereits zu Jahresende untrüglich die Indikatoren eines akut bevorstehenden Schwächeanfalls der Weltwirtschaft bemerkbar. Am 9. Mai 1873, dem sogenannten „Schwarzen Freitag“, krachte dann die Börse und brach sich die hartnäckige große Krise Bahn. Am Morgen des 9. Mai war zunächst das etablierte Kommissionshaus für Wertpapierhandel des Wiener Bankiers und Börsenmaklers Adolf Petschek gezwungen Konkurs anzumelden, woraufhin wiederum die Wiener Börse den Handel aussetzen mussten. Der „Schwarze Freitag“ brannte im Nu massenhaft Zombie- und Schwindelunternehmen ab, vernichtete die heillos überbordende Spekulation mit Eisenbahnaktien und im Bausektor und entzog dem wilden Spekulationsfieber die Alimentierung. Mit dem Börsenkrach kam es sogleich auf den Schlag zu 120 Insolvenzen an der Wiener Börse und Aktienmarkt.
Bis Herbst gingen dann unter anderem 8 bedeutende Banken und 2 große Versicherungsgesellschaften sowie 20 Industriegesellschaften und 19 Baugesellschaften in Konkurs. Hinzu kamen 40 Banken, 6 Versicherungen- und 52 Industriegesellschaften sowie ein Eisenbahnunternehmen, die sich bis Jahresende in Liquidation befanden. Die Wirtschaft stürzte regelrecht ab. Der Krise waren im vorangegangenen Boom eine Welle von Gründungen von Kapitalgesellschaften und ein wildes Spekulationsfieber vorausgegangen, die in verfehlten Kapitalbildungen und platzenden Spekulationsblasen mündeten. „Der gründerzeitliche Wirtschaftsaufschwung fußte zu einem beträchtlichen Teil auf bloßen Spekulationen und Scheingründungen von Unternehmen und Banken“, wie auch Christina Linsboth pointiert formulierte. Von daher – der Vielzahl an vorhergegangenen Unternehmensgründungen in (Groß-)Industrie und dem Handel, von Bankhäusern und Aktiengesellschaften diverser Couleur – auch die vielfache Bezeichnung als „Gründerkrach“.
Den kurzen „Blütenjahren“ der „Gründerzeit“ folgte der unsanfte Bauchfleck im „Gründerkrach“. „Wer seine Bankeinlagen retten konnte“, so nochmals Georg Fülberth die weltwirtschaftliche Folgewelle kurz skizzierend, „exportierte sein spekulatives Geldvermögen auf Finanzmärkte außerhalb Österreichs, die ihrerseits in Turbulenzen gerieten, zum Beispiel in den USA. Am 19. September fallierte die New Yorker Bank Jay Cooke & Company mit ihren Investitionen in Eisenbahnen und Immobilien. Die Börse blieb bis zum 29. September geschlossen. Einen Monat später, Ende Oktober 1873, war es dann auch in Deutschland soweit.“
Mit dem Zusammenbruch der Banken waren zugleich die Einlagen unzähliger kleiner Sparer vernichtet. Aber auch wohlhabendere Mittelschichten und wohlhabende Bürger wurden hart getroffen und bisweilen auch gezwungen ihr Sachvermögen zu veräußern – was eine Welle an Selbstmorden auslöste. Die Arbeitslosigkeit kletterte steil empor, die Löhne wurden „eingefroren“ und parallel kam es zu Lebensmittelverknappungen. Die akute Krise dauerte geschlagene sieben Jahre und zog anschließend eine lange, schwere Depression nach sich, die erst Mitte der 1890er Jahre endete.
Die Weltwirtschaftskrise 1873 gilt dabei gleichzeitig als die letzte klassische Krise des „klassischen Manchesterkapitalismus“. Denn die Geschichte des Kapitalismus kennt nicht nur zyklische, sondern zudem sogenannte „große Krisen“oder auch „ökonomische Systemkrisen des Kapitalismus“. „Das Charakteristikum dieser großen Krisen“ – 1873 – 1929 – 1975 – oder auch der ‚Doppelkrise‘ 2007/2020 – ist, so Thomas Kuczynski, „dass sie keine normalen zyklischen Überproduktionskrisen sind, sondern das kapitalistische System als ganzes ergreifen, nicht nur dessen Produktion, sondern auch dessen Regulation, also dessen gesamte Betriebsweise.“ Sie unterscheiden sich von den (sozusagen ‚bloß‘) zyklischen Krisen dadurch, „dass in ihnen“ – wie es seinerseits Georg Fülberth auf den Begriff zu bringen trachtet – „nicht nur Überakkumulation abgebaut, sondern der Kapitalismus selbst transformiert wird“. „Gemeinsam ist solchen Einbrüchen der wirtschaftlichen Aktivität, dass sie nicht nur aus einer seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bekannten zyklischen Rezession bestanden, nach der es sofort wieder aufwärts ging, sondern die Erholung sich sehr viel später einstellte. Die kam erst, nachdem ein neuer Wirtschaftsstil innerhalb des Kapitalismus, der sich dadurch erneuerte, durchgesetzt worden war.“
Mit der „Gründerkrach“-Krise endete mithin zugleich der Kapitalismus der „freien Konkurrenz“, der in das Stadium des Imperialismus überzugehen begann. „Die Krise ruinierte [weltweit] viele mittlere und kleine Betriebe … vernichtete [zugleich] riesige Kapitalwerte, [und] förderte Konzentration, Zentralisation und das Entstehen von Monopolen“, wie es wiederum Klaus Müller pointierte und komprimiert weiter fortfährt: „Großbetriebe gewannen an Bedeutung. Die neue Technik – Dynamomaschine (1867), verbesserte Zwei- und Drei-Zylinder-Dampfmaschine (1874), der Viertaktverbrennungsmotor (1878), Dampfturbine (1884), Dieselmotor (1893), Siemens-Martin-Verfahren der Stahlproduktion, Elektroschweißen, Elektrostahlschmelzen – konnte nur durch Großbetriebe genutzt werden. Diesen fiel es leicht, untereinander Abmachungen zu treffen und monopolistische Bündnisse zu schließen. Sie ersetzten die freie Konkurrenz, garantierten hohe Monopolpreise und höchste Profite. Am Ende des 19. Jahrhunderts wurden Kartelle, Syndikate und Trusts ‚zu einer der Grundlagen des ganzen Wirtschaftslebens‘ (LW 22). Der Kapitalismus hatte sich zum Imperialismus gewandelt.“
Mit der angetippten technologisch-industriellen Revolution traten gleichzeitig neue Industriezweige wie die Chemie- und Elektroindustrie, später auch Automobilindustrie mit Fanfarenstößen auf die Bühne. Zugleich gewann der Kapitalexport, insbesondere in die Kolonien – bzw. das österreichische Kapital betreffend namentlich in Bosnien, Rumänien, Serbien oder Bulgarien –, zunehmend an Bedeutung. Und damit eng verwoben, der Griff nach fremden Ländern und Regionen, die Sicherung der Rohstoffe (nunmehr zudem auch Öl) und die Kontrolle weit gespannter Transportwege sowie der Kampf um geopolitischer Einflusssphären. Damit einhergehend verschärften sich freilich sowohl die Konkurrenz der entwickelten Industrienationen wie zwischenimperialistischen Widersprüche. Während es bis ins letzte Viertel des 19. Jahrhunderts auf dem kolonialen Kräftefeld kaum Veränderungen gegeben hatte, änderte sich dieses in jenen Dezennien gravierend. Ein großer Teil der Welt – außerhalb Europas und Nordamerikas – wurde unter den imperialistischen Mächten nun neu aufgeteilt. „Etwa ein Viertel der Landoberfläche der Erde erhielt danach neue Besitzer“, wie es Gerd Schumann einmal plastisch auf den Punkt brachte. Dazu wurde auf Teufel komm raus aufgerüstet, die Interessensgebiet neu vermessen und abgesteckt, verteidigt und erweitert, sowie allenthalben Stellvertreterkriege geführt und erste Kriegsscharmützel losgetreten. Schlussendlich mündete die imperialistische Konkurrenz jener kleinen Staatengruppe dann bekanntlich im allergrößten Krach: dem Ersten Weltkrieg.
Die Brisanz der Erfahrung und Einsichten Marx und Lenins in diese multidimensionalen Zusammenhänge und längerfristigen Folgen, könnte kaum aktueller sein.