Der 20. ÖGB-Kongress und die Neuvermessung der Arbeit

Die gewerkschaftliche Agenda in Zeiten wie diesen ist vielfältig wie selten. Aus der Vielzahl der Anforderungen soll hier nur ein Punkt herausgegriffen werden: Die in jüngerer Zeit wieder stärker aufgeworfene Forderung nach einer Arbeitszeitverkürzung. Marx betrachtete die zu seiner Zeit errungene 10-Stunden-Bill in England bekanntlich als einen „Sieg der politischen Ökonomie der arbeitenden Klassen“ und charakterisierte den damals im Fokus der unmittelbaren sozialen Forderungen stehenden 8-Stunden-Tag als die „bescheidene Magna Charta“ der Arbeitenden. 150 Jahre später wäre für ihn wohl die „Kurze Vollzeit“ für alle und gesamthafte Verkürzung der Wochen-, Tages-, Jahres- und Lebensarbeitszeit ein solch neuer „Sieg der politischen Ökonomie der arbeitenden Klassen“ und Gewerkschaften.

John Maynard Keynes, der wirkmächtige Ökonom und „Arzt am Krankenbett des Kapitalismus“ wiederum, prognostizierte seinerseits 1930, dass wir dank des technischen Fortschritts im Jahre 2030 wohl nur mehr 3 Stunden am Tag arbeiten müssen. Quasi zeitgleich schloss sich der berühmte englische Philosoph Bertrand Russel, mit zahlreichen weiteren bekannten Köpfen seiner Zeit, der in den USA aufgrund der enorm gestiegenen Arbeitsproduktivität bereits vor fast einem Jahrhundert aufgekommenen Forderung nach einem 4-Stunden-Tag an.

Knapp 100 Jahre später herrscht, nach anfänglichen Durchsetzungsschüben der Arbeitszeitverkürzung im Kielwasser der Oktoberrevolution und nach dem Zweiten Weltkrieg, jahrzehntelanger Stillstand hinsichtlich einer weiteren Verkürzung der Arbeitszeit. Ja, Österreich weist realiter sogar die dritthöchste Realarbeitszeit in der EU auf.

In den letzten Jahren nehmen die Debatten und Forderungen zur Arbeitszeitverkürzung allerdings wieder etwas an Fahrt auf. Sowohl international wie national. Ob in der aktuellen Forderung der IG-Metall nach einer Senkung der Wochenarbeitszeit auf 32 Stunden und einer 4-Tage-Woche, oder auch etwa in Modell-Versuchen in Island, Schweden, Spanien aber auch etwa in Großbritannien. Und auch in Österreich ist mit den jüngeren Vorstößen in KV-Runden sowie des neuen SP-Vorsitzenden die Debatte um eine weitreichende Arbeitszeitverkürzung sowie eine 4-Tage-Woche neu entflammt und stehen teils als Forderungen wieder auf dem Tableau.

Die Oktoberrevolution 1917 als Paukenschlag des 8-Stunden-Tags

Bereits um das Jahr 1830 forderte der utopische Sozialist Robert Owen unter der Losung: „Acht Stunden arbeiten, acht Stunden schlafen und acht Stunden Freizeit und Erholung“, als Erster den 8-Stunden-Tag. Mit der I. und II. Internationale (insbesondere dem Genfer Kongress der I. Internationale 1866 und dem Gründungskongress der II. Internationale 1889) avancierte die Forderung nach dem 8-Stunden-Tag dann zur wichtigsten unmittelbaren sozialen Forderung der internationalen Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung.

Der entscheidende Durchbruch (nach ersten Teilerfolgen etwa in den englischen Staatswerkstätten 1894, in den Staatsbetrieben Frankreichs 1914 oder für die Eisenbahnangestellten in den USA ab 1916 – sowie der anhebenden Morgenröte durch die Steinbrucharbeiter im australischen Victoria, die ihn sich 1856 in Melbourne als überhaupt Allererste bei vollem Lohnausgleich erkämpften) gelang schließlich im Zuge der russischen Oktoberrevolution. Erst die Umwälzungen des Roten Oktobers führten zum geschichtlich ersten Mal zur lückenlosen, gesetzlichen Einführung des 8-Stunden-Tages. Nur wenige Wochen nach ihrem Sieg führte die junge Sowjetmacht am 11. November als erstes Land den generellen 8-Stunden-Tag ein. Auf den revolutionären Wogen des Jahres 1918 gelang es dann, ihn ab 1. Jänner 1919 auch in Österreich gesetzlich zu verankern.

8-Stunden-Tag, 5-Tage-Woche, 5. Urlaubswoche … – als Eroberungen eines historisch neuen Nichtarbeitsbereichs

Mit der weltweit einhaltenden Durchsetzung des 8-Stunden-Tages avancierte daraufhin schnell die Forderung nach der 40-Stunden-Woche sowie nach 5 statt 6 Tagen Arbeit zum neuen Kampfziel.

Diesbezüglich handelte es sich freilich nicht „nur“ um eine Beschränkung der Arbeitszeit, sondern – noch darüber hinaus – um die historische Eroberung eines effektiven Nichtarbeitsbereichs und der Aufschließung frei verfügbarer Zeit jenseits der physischen und mentalen Regeneration (oder bloßen Reproduktion der Ware Arbeitskraft). Mit der 40-Stunden-Woche (die es in Österreich 1975 gesetzlich durchzusetzen gelang), dem der Verlängerung des Wochenendes um einen Tag, der 4. und 5. Urlaubswoche (1977 bzw. 1986) gewannen die Arbeitenden einen neuen Raum privat nutzbarer Zeit und kam es zu entscheidenden Veränderungen im Rhythmus Arbeit–Freizeit und tiefgreifenden kulturellen Umwälzung des Lebensrhythmus der Arbeiterinnen und Arbeiter.

Knappe 5 Jahrzehnte 40/h-Woche – 4 Jahrzehnte Papiertiger 35/h-Woche

Aber eingangs angezogene, jüngere Forderungen nach einer weiteren Arbeitszeitverkürzung sind oder waren bislang zaghafte Ausreißer in der arbeitszeitpolitischen Großwetterlage. Seit 1975, also bald einem halben Jahrhundert (!), kam es nach Einführung der 40-Stunden-Woche in Österreich denn auch zu keiner weiteren umfassenden und generellen Arbeitszeitverkürzung mehr. Zwar konnten seither in verschiedenen Branchen kollektivvertragliche Arbeitszeitverkürzungen durchgesetzt werden. Von einer flächendeckenden Arbeitszeitverkürzung oder gar Einführung einer gesetzlichen 35-Stunden-Woche als erstem und überfälligem Schritt einer weitreichenden Arbeitszeitverkürzung sind wir nichts desto trotz meilenweit entfernt.

Die gesetzliche Regelarbeitszeit liegt unverändert bei 40 Wochenstunden. Die seit 1983 von ÖGB und AK vielfach geforderte 35-Stunden-Woche ist auch nach mittlerweile vier Jahrzehnten nicht durchgesetzt. Damals wurde diese bereits als (Produktivitäts-)Abgeltung der Effektivierungen der 1970er Jahre (!) gefordert. Heute begründet sie sich dahingehend, wie der weitere Schritt in Richtung einer weitreichenderen Arbeitszeitverkürzung auf 30 Stunden, ökonomisch natürlich in nochmals drastisch gestiegenem Ausmaß aus der enormen seitherigen Produktivitätssteigerung, die sich in diesen 50 Jahren „pro geleistete Arbeitsstunde verdoppelte“ hat, während sich „bei der gesetzlichen Arbeitszeit … nichts getan hat“, wie auch Sybille Pirklbauer seitens der AK unlängst hervorstrich.

Der damit mit einhergehenden, gestiegenen Arbeitsintensität, Belastungen und Stress entsprechend, sprechen sich denn einer neuen Umfrage der AK zufolge, und zwar quer durch alle Branchen, auch deutliche 82% der Beschäftigten für eine weitergehende sowie vielfach radikale Reduzierung der Wochenarbeitszeit aus. Und zwar in einem Korridor zwischen 35 bis 25 Stunden – sprich: bis zu Forderung nach einer neuen „Kurzen Vollzeit“.

Denn entgegen machen stumpfsinnigen Gerede, stellt die Arbeitswelt unverändert nicht nur den kompaktesten Block unseres Lebensalltags dar, sondern drückt auch unserer übrigen Lebenszeit immer stärker ihren Stempel auf: Von der ausufernden Verfügbarkeit unserer Arbeit, über die Intensivierung der Arbeitsprozesse und Arbeitsverdichtung, bis zu gegenüber früher längeren Anfahrtszeiten zum Betrieb. Mit all den damit einhergehenden physischen und psychischen Belastungen und Folgen: Stress, Überarbeitung, Burn-Out und anderen stressbedingten Erkrankungen, steigendem Arbeitsunfallrisiko, akutem privaten Zeitmangel, zunehmender Unvereinbarkeit von Beruf und Privatem und fehlender ausreichender Erholung.

Demgemäß gab auch jede/r dritte Beschäftigte der Umfrage an, sich nicht vorstellen zu können seinen/ihren aktuellen Job bis zur Pension ausüben zu können. Entsprechend schreien die Verhältnisse denn auch geradezu nach einer Wende in Richtung „kurzer Vollzeit“ für alle.

Für eine Neuvermessung der Arbeit!

Neben der unabdingbaren Abfederung der gestiegenen Arbeitszeitverdichtung und als beschäftigungspolitischer Hebel, ist eine radikale Arbeitszeitverkürzung (über eine rein monetäre Konsumpartizipation hinausgehende) und gesellschaftliche Umverteilung der Arbeit auf alle, denn zugleich ebenso zu verstehen als Aneignung der Produktivitätssteigerung seitens der Arbeitenden auch in Form von mehr freier Zeit: fürs Private, für Muße, Genuss, Selbstentfaltung und Individualitätsentwicklung. Oder um ein weiteres Mal einen bloß bürgerlichen Ökonomen ersten Ranges heranzuziehen und daher noch einmal mit John Maynard Keynes geredet: Wir sind schon „zu lange“ darin verfangen, im Job „immer das Äußerste zu geben“, und anschließend nur mehr oder zumindest vorrangig danach zu trachten irgendwie ‚abzuschalten‘, und „haben nicht gelernt uns zu entspannen“ und „den Tag auszukosten“. Dass dies freilich auch den Wandel der Arbeiter- und Alltagskultur, Lebensstile und sozialen Verhältnisse und Beziehungen auf ebenso vielfältige wie widersprüchliche Weise mitgeprägt hat, kann hier lediglich vermerkt werden.

Last but not least würde eine radikale Arbeitszeitverkürzung auch das Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern reduzieren: Sie ermöglicht es Frauen, leichter aus den mannigfach erzwungenen flexiblen Arbeitszeiten und „Zwangs-“ Teilzeit mit zu wenig Lohn für ein selbständiges Leben in Vollzeitbeschäftigung auszubrechen, während männliche Beschäftigte wiederum mehr Zeit hätten, um ihren Teil an Haushalt und Kinderbetreuung zu übernehmen.

Hinzu gilt es Arbeitszeitverkürzung darüber hinaus allerdings zugleich in all ihren Dimensionen auf die Agenda zu setzen, im Sinne der einer gesamthaften Verkürzung der Wochen-, Tages-, Jahres- und Lebensarbeitszeit – also ebenso erweiterte Urlaubsansprüche und eine Senkung des Pensionsantrittsalters umfassend.

Arbeitszeitverkürzung als „Sieg der politischen Ökonomie der arbeitenden Klassen“ … (K. Marx)

Für eine solche Neuvermessung der Arbeit bedarf es allerdings entschiedener und ganz anders gelagerter Maßnahmen als etwa die jüngste „Aufforderung“ der AK an Arbeits- und Wirtschaftsminister Kocher, ein neues Arbeitszeitgesetz Richtung „gesunder Vollzeit“ unter „Einbindung aller Sozialpartner“ auf den Weg zu bringen. Dergleichen gilt noch mehr für einen bloßen, neuerlichen programmatischen Papiertiger des ÖGB. Auch der an sich richtige Hinweis auf seinerzeitige Generalkollektivverträge mit den Wirtschaftsvertretern zur Arbeitszeitverkürzung im Nachkriegs-Österreich geht „sozialpartnerschaftlich“ konnotiert frappant an den heutigen gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen vorbei. Die Industriellenvereinigung hat dem denn auch bereits mit nichts zu deuteln übriglassendem Nachdruck eine Absage erteilt. Getoppt nur von der von interessierter Seite suggerierten trügerischen Hoffnung einer (perspektivischen) Erlangung der 32-Stunden-Woche auf den Samtpfoten einer hiesigen Ampelkoalition – für die, von der Wahlarithmetik und anderweitigen Programmpunkten einmal ganz abgesehen –, schon schlicht die Neos mitnichten ins Boot zu holen sein werden. Da geht dann wohl wirklich eher das biblisch-sprichwörtliche Kamel durchs Nadelöhr.Diesbezüglich wäre hinsichtlich des gegenwärtig immer wieder herangezogenen Inflationsvergleichsjahr 1975 überhaupt herauszustellen: Damals wurde in Hochinflationszeit nicht nur die schrittweise Einführung der gesetzlichen Arbeitszeitverkürzung auf 40 Wochenstunden (von vormals 45 Stunden) abgeschlossen, sondern erwirkten die Gewerkschaften im selben Jahr „nebenbei“ immerhin auch noch eine Lohnerhöhung von 13%. Beides zusammen (also einschließlich Arbeitszeitverkürzung) wiederum, ergab ein Plus von 18,6%.

Ohne entschiedenem Klassenkampf und bloßem „Appell“, der „Resolution“ oder dem „sozialpartnerschaftlichen Ringen“ am „Grünen Tisch“ als höchster gewerkschaftlichen Kampfform jedenfalls, wird es heute und erneut bei warmer Luft und wirklosen Programmüberschriften für die Schreibtischlade verbleiben. Eine kämpferische Auseinandersetzung um eine neue „kurze Vollzeit“ und des Zugewinns an emanzipatorischer Lebensqualität indes, eröffnete hingegen nicht nur die einzige Möglichkeit diese auch durchzusetzen – also mit Marx gesprochen einen neuen „Sieg der politischen Ökonomie der arbeitenden Klassen“ zu erringen –, sondern ist zugleich mit einer kämpferischen Verschiebung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse verbunden und könnte eine insgesamte soziale Wende einleiten.

Ein solches Kampfprogramm einer gesamthaften Neuvermessung der Arbeit umfasst – neben den vielen wichtigen Einzel- und Detailforderungen des ÖGB-Kongresses (Kap. 7.2.3) – als basale Eckpunkte wiederum:

  • Eine neue „Kurze Vollzeit“ bzw. „gesunde Vollzeit“ für alle (32 resp. 30 Stunden, ggf. über eine Etappe einer generellen 35-Stunden-Woche) als neuen Normalarbeitstag! (Für kontinuierliche Produktion mit Nachtschicht würde dies als 6-Stunden-Tag letztlich zwei verkürzte Nachtschichten bedeuten.)
  • Ein Verbot von All-in-Verträgen und die Aufhebung der AZG-Regelungen über den 12-Stunden-Tag von 2018!
  • Strafrechtliche und öffentliche Sanktionen gegen Unternehmen die gegen arbeitszeitgesetzliche und KV-rechtliche Regelungen verstoßen!
  • Den entschiedenen politischen und Arbeitskampf für eine neue „Kurze Vollzeit“ mit der Möglichkeit einer 4-Tage-Woche!
  • Darüber hinaus muss sich die Gewerkschaftsbewegung einer unabdingbaren gesamten Neuvermessung der Arbeit verpflichtet sehen, d.h. die notwendige Arbeitszeitverkürzung in all ihren Dimensionen auf die Agenda setzen, im Sinne der einer gesamthaften Verkürzung der Wochen-, Tages-, Jahres- und Lebensarbeitszeit – also neben genanntem ebenso die 6. Urlaubswoche für alle sowie eine Senkung des Pensionsantrittsalters und grundlegenden Pensionsreform!

(Vgl. hierzu etwa unser Pensionsmodell: 40/60 /80: eine maximale Lebensarbeitszeit von 40 Jahren, spätestens mit 60 in Pension gehen können und das bei einer Pension in Höhe von 80% des Einkommens der besten Jahre.)

Ähnliche Beiträge

Gefällt dir dieser Beitrag?

Via Facebook teilen
Via Twitter teilen
Via E-Mail teilen
Via Pinterest teilen