Karl Marx und der gewerkschaftliche Kampf gegen die Teuerung – Teil II

Wie in Teil I eingehend dargelegt, widmete sich Marx bereits früh und intensiv der Frage des gewerkschaftlichen Kampfes gegen die Inflation. Allerdings – wie wir Teil I bereits ausklingen ließen – nicht ‚nur‘ unter dem Aspekt der Verteidigung der materiellen Interessen der Arbeitenden „gegen die Gewalttaten des Kapitals“ und „die Marktschwankungen“, sondern auch in nochmals weit darüber hinausreichender Perspektive. Unter heutigen gewerkschaftspolitischen Bedingungen und der „sozialpartnerschaftlichen“ Integration der Gewerkschaftsspitzen ins System, ist man hinsichtlich Letzterer jedoch fast geneigt mit dem US-amerikanischen Schriftsteller Upton Sinclair zu äußern: „Es fällt schwer, jemanden von etwas zu überzeugen, wenn sein Gehalt davon abhängt, es nicht zu verstehen.“

Ohne gewerkschaftlichen Kampf, so Marxens Resümee in „Lohn, Preis und Profit“, würden die Arbeitenden schnell „degradiert“ zu einer „Masse ruinierter armer Teufel“. Entsprechend ist der Lohnkampf bzw. Kampf gegen die Teuerung für Marx im Kern auch eine Frage der gesellschaftlichen und Klassen-Kräfteverhältnisse, der Konfliktbereitschaft der Arbeitenden und Gewerkschaften und ihrer Kampfformen. „Sicher ist es der Wille des Kapitalisten“, so Marx weiter, Lohnsteigerungen durch Preisaufschläge weiter- oder überzuwälzen. Aber: „Uns kommt es darauf an, nicht über seinen Willen zu fabeln, sondern seine Macht zu untersuchen, die Schranken dieser Macht und den Charakter dieser Schranken.“ Und in diese fließen nicht zuletzt die „Kräfteverhältnisse der Kämpfenden“ ein. In alledem scheint, wie in Teil I zunächst nur abschließend angedeutet, auch bereits der Zusammenhang zwischen dem – im damaligen Sprachgebrauch – unabdingbaren „Kleinkrieg“ und einer weitergehenden Perspektive auf: „Würden sie [die Arbeitenden, Anm.] in ihren tagtäglichen Zusammenstößen mit dem Kapital feige nachgeben, sie würden sich selbst unweigerlich der Fähigkeit berauben, irgendeine umfassendere Bewegung ins Werk zu setzen“.

Hic Rhodus, hic salta – wie Marx mit Äsops Worten die Gewerkschaften vor die Feuerprobe gestellt hätte

Unter gewerkschaftlicher Perspektive lag in den KV-Auseinandersetzungen dieser Herbst-Lohnrunde geradezu eine Feuerprobe der Gewerkschaften. Zumal die Löhne und Gehälter heutzutage, anders als in der Hochinflationszeit der 1970er Jahre, der Teuerung schon des Längeren deutlich hinterherhinken. Die Ergebnisse der Lohnkämpfe waren damit mehr denn je eine Frage der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse, der Konfliktbereitschaft in konsequenter Mobilisierung und Einbeziehung der Beschäftigten bzw. deren Selbstermächtigung, sowie der gewerkschaftlichen Kampfformen.

Und entsprechend hoch war auch die in hunderten und aberhunderten Betriebsversammlungen bekundete sowie in vielfältigen Aktionen, Demonstrationen, teilweisen Arbeitsniederlegungen und Warnstreiks bewiesene Kampfbereitschaft der KollegInnen in den Betrieben – die von den Gewerkschaftsführungen aber zur bloßen „sozialpartnerschaftlichen Verhandlungsmasse“ degradiert wurden, anstatt zu einem „Heißen Herbst“ und damit zu durchaus erzielbaren Erfolgen weitergeführt zu werden.

In einem Land in dem Arbeitskämpfe weitgehend „sozialpartnerschaftlich“ stillgelegt sind, Streiks als beinahe verpönt gelten oder mit Begriffen wie „Katastrophe“ und „Sensation“ assoziiert sind und statistisch gewöhnlich gleichsam in Sekunden pro Jahr gezählt werden, kann die Bedeutung von Arbeitskämpfen jedoch gar nicht hoch genug veranschlagt werden. Zum einen, um überhaupt eine tatsächliche Abgeltung der Inflation zu erstreiten, Reallohnerhöhungen durchzusetzen und eine Sicherung der Kaufkraft zu erwirken. Zum anderen aber auch, damit sich die Arbeitenden in ihrer Selbsttätigkeit ihrer Kraft zu erreichbaren Erfolgen und über mögliche Verschiebungen der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse bewusst werden.

Der Anteil des Streiks an der Subjektwerdung der Arbeitenden

Der hier betonten Perspektive ist gleichzeitig ein deutlich unterschiedenes, revolutionäres Klassen- und Menschenbild eingeschrieben, das gegen die eingefahrene „Stellvertreterpolitik“ für die Arbeitenden unsere Selbstermächtigung stark macht. Zudem lässt sie den Werktätigen in ihrer Selbsttätigkeit und ihren Erfahrungen in Arbeits- und Klassenkämpfen eben die Einsicht in ihre gesellschaftliche und geschichtliche Kraft bewusst werden. Ein Bild, das dem Ideal der „sozialpartnerschaftlichen“ Gewerkschaftsspitzen nach „besonnenen ArbeitnehmerInnen“ – die nicht durch Kritik, kämpferischere Einstellungen oder gar eigenem Engagement lästig werden und vor dem Fernsehschirm oder über Soziale Medien noch zufrieden das hinnehmen, was als „das denkbar beste Ergebnis“ des „Ringens am grünen Tisch“ ausgegeben wird –, gleichsam geradezu diametral entgegengesetzt ist.

Und dies wiederum nicht zuletzt, weil Streikkämpfe für KommunistInnen mit Marx und Engelseine doppelte Bedeutung haben: einerseits des „unvermeidlichen Kleinkriegs“ zur Behauptung der Arbeits- und Lebensinteressen der Werktätigen im Kapitalismus und andererseits als eine Art „Kriegsschule“ zur Vorbereitung auf die revolutionäre Überwindung des Kapitalismus.

Denn erst in ihrer Selbsttätigkeit und ihren Kämpfen konstituiert sich die Arbeiterklasse als soziales Subjekt und wird sich ihrer revolutionären Kraft bewusst. Bereits der junge Marx schrieb hierzu in der „Deutschen Ideologie“: „Die einzelnen Individuen bilden nur insofern eine Klasse, als sie einen gemeinsamen Kampf gegen eine andere Klasse zu führen haben; im übrigen stehen sie einander selbst in Konkurrenz wieder feindlich gegenüber.“ Und rückte gegen abstrakte Aufklärungen gerichtet schon in seinen „Feuerbach-Thesen“ das praktische Handeln ins Zentrum real-dialektischer Bewusstwerdungsprozesse. Klassenbewusstsein bildet sich für Marx denn auch vorrangig im realen kämpferischen Widerspruch der Arbeitenden, im Kontext praktischen Handelns und der darin eingeschriebenen, bewusstseinsseitigen Einsichts- und Entscheidungsprozesse heraus. Denn, für eine tragfähigen Klassenpolitik bedarf es beidem: der sozial-ökonomischen Klassenanalyse sowie der Analyse der Entwicklungsmöglichkeiten und -bedingungen der Konstituierung der Klassen „an sich“ zur Klasse „für sich“.

Vom Alltagsbewusstsein zum sozialen Subjekt

Konkreter: In seinem Bewusstsein reflektiert der Mensch die Welt und seine Stellung in ihr. Jeder einzelne Arbeiter und jede einzelne Arbeiterin hat sonach denn auch eine bestimmte Weltanschauung. In dieser fügen sich die unsystematisch aufgenommenen Elemente – überlieferte Einstellungen, erlerntes Wissen, veröffentlichte Meinungen, ideologischer Vergesellschaftung von Oben, verallgemeinerte Erfahrungen, gemeinsame Diskurse, usw. – zu einer jeweiligen persönlichen, oft verworrenen und widersprüchlichen Einheit zusammen. In diesen jeweiligen weltanschaulichen Rahmen und Alltagsdenken bewegen sich die Menschen gewöhnlich durchs gesellschaftliche Leben und meistern ihren Alltag.

In Arbeitskämpfen wird der dem Kapitalismus eingeschriebene Klassengegensatz jedoch zum handfesten Erfahrungs- und Bewusstseinsmoment. Tausende KollegInnen stehen vor der Entscheidung: Streik oder Nicht-Streik, erwägen die Erfolgsmöglichkeiten des Streiks und seine richtige Führung, gewinnen Einsichten in ihre kollektive Kraft als Klasse und gesellschaftliche Zusammenhänge, haben Urteile zu fällen die sie zum Handeln entsprechend der eigenen Interessen befähigen, gewinnen praktische und organisatorische Erfahrungen, machen neue Erfahrungen mit sich und anderen, bilden neue Fähigkeiten aus, erweitern ihr gesamtes Handlungsrepertoire, erleben die Kraft der Solidarität und entwickeln neues Selbstbewusstsein. Darin brechen zugleich die Inadäquatheiten ihres Alltagsdenkens und ihre in der Regel keineswegs stimmige Weltanschauungen auf und öffnen sich neuen Einsichten und Möglichkeitsbedingungen der massenhafteren Entwicklung von Klassenbewusstsein.

Tausende KollegInnen zogen so etwa im Herbst für ihre Interessen und Anliegen auf die Straße, viele nahmen dabei das erste Mal an einer Demonstration teil. Die überwiegende Mehrheit der Beschäftigten trat etwa mit den teilweisen Warnstreiks der letzten Jahre und dem zurückliegenden Herbst überhaupt das erste Mal in ihrem Leben in Arbeitsniederlegungen und einen Streikkampf. Die erste Demonstration, der erste Arbeitskampf, zudem das erste Engagement in einem Streikkomitee, erste Auftritte als SprecherInnen der Anliegen und Forderungen der Belegschaft – das beinhaltet vielfach auch Einschnitte in der persönlichen Erkenntnis und Entwicklung mit weitreichenden Anstößen für Handlungspraxis, Verhalten und Lebensweise. Denn im „gemeinsamen Kampf“ stellen sie die Kooperation, die Klassensolidarität, (zumindest zeitweise) als Lebensprinzip über die Konkurrenz und überschreiten darin das bloße „an sich“ hin zum sozialen Subjekt samt je eigener Persönlichkeitsentfaltung. Oder, in den Worten Marxens und Engels‘: „Was … den … Turnouts (Streiks, Anm.) die eigentliche Wichtigkeit gibt, ist das, dass sie der erste Versuch der Arbeiter sind, die Konkurrenz aufzuheben. Sie setzen die Einsicht voraus, dass die Herrschaft der Bourgeoisie nur auf der Konkurrenz der Arbeiter unter sich beruht, das heißt auf der Zersplitterung des Proletariats, aus der Entgegensetzung der einzelnen Arbeiter gegeneinander.“

Die Besonderheit von Streiks in frauendominierten Branchen

Dazu kommt: Das Gros der Frauen hat in ihrer tradiert-patriarchalen Doppelbelastung neben ihrer Erwerbsarbeit noch eine Reihe zusätzlicher Tätigkeiten und Belastungen zu schultern: umfangreiche Hausarbeit, familiäre Versorgung, Erziehung und Pflege von Kindern, Pflege von Alten, uvm. Da bleibt vielfach keine Zeit und keine Kraft für politische Tätigkeit und gesellschaftliches Engagement. Und oftmals führt jahrelange patriarchale Unterdrückung im Privaten auch zu extremen Hinnahmen und Aushaltepraxendes Drucks, der Arbeitshetze, systematischen Diskriminierung, Erniedrigungen, schwieriger Arbeitsverhältnisse und zahllosen Ungerechtigkeiten im Erwerbsleben.

Doch gerade der betrieblich-gewerkschaftliche Boden kann auch ins Gegenteil umgebogen werden. Denn Arbeitskampf im Betrieb ermöglicht es nicht zuletzt Frauen mit umfangreichen Sorgepflichten und mangelnderFreizeit aufgrund der Reproduktionsarbeit, trotzdem politisch aktiv zu werden: Denn gestreikt wird immer in der Arbeitszeit.

Und die kollektive Selbsttätigkeit in betrieblichen Auseinandersetzungen führt ihrerseits nicht selten zu einer Stärkung von Frauen, die das gewonnene Wissen um Durchsetzungsmacht, Handlungsfähigkeit und Selbstvertrauen auch im Privaten ein- und umsetzen können.

Streikformen und Beweglichkeit des Arbeitskampfs

Diesbezüglich ist es, zumal in Österreich, vielfach auch zweckmäßig, den Arbeitskampf mit entweder Warnstreiks zu beginnen oder aber auch mit Schwerpunktstreiks bzw. rollenden Arbeitsniederlegungen, in denen die Arbeit zwar jeweils nur in Teilbereichen eingestellt wird, aber als solche kombiniert und aufeinander abgestimmt entweder den Gesamtablauf empfindlich stören oder systematische Nadelstiche setzen. Dies, um neben einer forcierteren Druckausübung auf die Unternehmensvertreter, auch die Konfliktbereitschaft der Beschäftigten zu „testen“, zu entwickeln, und den Streikkampf weiter steigern und jederzeit zulegen zu können. Und die freilich vergleichsweise wenigen, aber umso bedeutenderen Erfahrungen zeigen: die Kampffront der Arbeitenden würde stehen. Die Beschäftigten wären bereit und willens, den Kampf konsequent aufzunehmen, auszudehnen und zum Erfolg zu führen.Gleichzeitig konnten sie den Medien die Wirkungen und Resonanz ihrer Aktionen entnehmen und in ihren gelungenen ersten Ausständen anfängliche Unsicherheiten auf vielfach noch unbekanntem Terrain überwinden und Selbstbewusstsein schöpfen sowie Einsicht in die eigene Klassenkraft gewinnen.

Streikbesonderheiten für Lehrlinge und junge Arbeitende

Das gilt nicht zuletzt auch für Lehrlinge und junge Arbeitende. Erstere stehen wie SchülerInnen zwar ebenfalls in Ausbildung, sind im Unterschied zu den weitläufigeren kollektiven Erfahrungs- und Kampfmöglichkeiten jener aber schon in betriebliche Arbeits- und Unterordnungsverhältnisse integriert. Im Unterschied etwa zu Schulstreiks oder Hörsaalbesetzungen an Universitäten hängen die Kampfmöglichkeiten und Politisierungspotenzen von Lehrlingen und jungen Arbeitenden im Betrieb daher auch viel stärkervon der Konfliktbereitschaft der Erwachsenen in den Betrieben (in denen sich ihre „ArbeitskollegInnen“ zugleich als „GewerkschaftskollegInnen“ resp. „GenossInnen“ erweisen) sowie der Kampfbereitschaft der Gewerkschaften ab. Um die es in Österreich allerdings bekanntlich ausnehmend schlecht bestellt ist.

Der radikal neue Gedanke der Arbeiterschaft als sozialem Subjekt und Marxens Hohelied auf den Arbeitskampf

In seinem radikal neuen Gedanken der Arbeiterschaft als historischem Subjekt und darin eingeschriebenem neuen Menschenbild, stimmt Marx zugleich geradezu ein Hohelied auf die Selbsttätigkeit und den aktiven Arbeitskampf der vorher isolierten und vielfach geduckten Arbeitenden an. Denn in ihren Kämpfen, zumal Streiks und ihrer aktiven Klassensolidarität werden die Arbeiterinnen und Arbeiter, als „Herz“ und soziales Subjekt der gesellschaftlichen Umgestaltung und menschlichen Emanzipation, „am liebenswürdigsten, am edelsten, am menschlichsten“.

Der gewerkschaftliche Kampf gegen die Teuerung in Perspektive auf Marx – Schluss

Freilich bricht für viele nach beendetem Arbeitskampf der Alltag wieder an und stellt sich – eingedenk der erfahrenen Impulse für Handlungspraxis, Verhalten und Lebensweise – das Alltagsdenken wieder ein. Aber die gewonnenen Erfahrungen und Einsichten des zugespitzten Klassenkampfs gehen indes nicht verloren (so wenig wie die erfahrenen weiterreichenden Anstöße), sondern werden in der nächsten Auseinandersetzung reaktiviert, in denen die Arbeitenden aktiv auf sie zurückgreifen. Die massenhafte Herausbildung von Klassenbewusstsein verläuft sonach in einem dialektisch spiralförmigen Prozess, der – neben anderem – insbesondere die Selbsttätigkeit der Arbeitenden und der eigenen Erfahrungen beim eigenen Handeln erfordert.

Die verordnete Apathie und das Fehlen großer Klassenkonflikte seit Jahrzehnten verhindern zugleich ein breiteres Entstehen eines kämpferischen Widerstands und einer nötigen, starken Sozialbewegung. Nicht allein Arbeitskämpfe, sondern alle erdenklichen Formen der Selbsttätigkeit und Selbstermächtigung der Werktätigen werden verpönt. Der wachsende Unmut äußerst sich daher bislang noch stärker in der geballten Faust in der Tasche als auf der Straße und in den Betrieben. Die drückende Teuerungswelle enthält in einer Verbindung des ökonomischen und politischen Kampfes mit einer tieferen Aufklärung über ihre Ursachen und Auswege allerdings nicht nur das Potential sich von den Zuschauertribünen zu erheben und selbst die Bühne zu bespielen, sondern öffnet auch vielen bislang Zurückhaltenden und Nachdenklichen neue Zugangsmöglichkeiten, ihre Wut in Widerstand zu verwandeln.

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