Grausame Kolonialkriege und Staatsverbrechen: Frankreichs Offenbarungseid

Frankreichs Offenbarungseid im Lichte der erhabenen Mär des europäischen Selbstbewusstseins

Es ist freilich eine erhabene Mär: die Gründung der Europäischen Gemeinschaft 1957 als „Friedensprojekt“. Sie ignoriert nur, wie der gestrige Beschluss der französischen Nationalversammlung unfreiwillig in Erinnerung ruft, die mörderischen Kolonialkriege Frankreichs und anderer EU-Mitgliedsstaaten, die diese außerhalb Europas führten und führen. Im kollektiven Bewusstsein des Westens daher weitgehend erfolgreich getilgt, hat alleine Frankreich über seinen grausamen Kolonialkrieg gegen Algerien 1954 – 1962, seit der Unabhängigkeit seiner afrikanischen Kolonien in diesen seither rund sechzig Mal militärisch interveniert. Statistisch also ziemlich genau einmal pro Jahr.

Natürlich ob seiner Geschichtsträchtigkeit allen im Gedächtnis ist Frankreich betreffend zunächst der Vietnamkrieg, der nach den Niederlagen Frankreichs dann von den USA übernommen wurde. Aber hier muss man hinsichtlich der „europäischen Friedensbotschaft“ sogleich gravierende wie einschneidende Abstriche machen.Oder wie sich US-Präsident Richard Nixon 1968 einmal ebenso freimütig wie alles sagend hinsichtlich der Gemetzel in Vietnam, diesem „verschissenen Land“ voller „Bastarde“, ausdrückte: Das juckt doch nur Linke, Außenseiter und Nestbeschmutzer – „Diese kleinen, braunen Leute, so weit weg, wir kennen sie doch gar nicht.“

Oder wie der große antikoloniale Schriftsteller Frantz Fanon vor dem Hintergrund des algerischen Befreiungskrieges gegen Frankreich bemerkte: „Die koloniale Welt ist eine manichäische Welt [des Reiches des Lichtes gegen das Reich der Finsternis, Anm.] … manchmal geht dieser Manichäismus bis zu seinem logischen Ende und entmenschlicht den Einheimischen… er macht ihn zum Tier.“ Eine Exklusion die dem europäischen Selbstbewusstsein und den europäischen Kriegsideologien in unterschiedlichen Graduierungen, Schattierungen und Ausprägungen seit den „Heiligen Kriegen“, über die Europaideen eines David Humes, John Lockes oder Alexis de Tocquevilles (man muss dazu wahrlich nicht erst auf Gestalten wie Gobineau oder Spengler zurückgreifen) bis heute immanent ist.

Vietnam: Freilich ein mehrere Millionen Kriegstote fordernder und dann mit My Lai 1968 zum Synonym US-amerikanischer Kriegsverbrechen avancierter Krieg. Aber außerhalb des europäischen Kontinents. Und im europäisch-abendländischen Selbstverständnis, bzw. um des notorisch guten Gewissens des „Kollektiven Westens“ willen, mehr eine Art „internationalen Polizeieinsatz“ mit „militärischen Mitteln“, wie US-Präsident Theodore Roosevelt bereits 1904 die ‚Aufgabe‘ „zivilisierter Gesellschaften“ als „internationaler Polizeimacht“ gegenüber Kolonien und abhängigen Staaten solch Kriege definierte.

Nicht mehr ganz so gewahr ist heute vielen dagegen der grausame Kolonialkrieg Frankreichs gegen Algerien mit seiner rund 1 bis 1,5 Millionen Toten und 2 Millionen in „Sammellager“ gepferchten „Nordafrikafranzosen“ (wie die amtliche koloniale Bezeichnung für Algerier:innen damals lautete), der nur wenige Monate nach der französischen Niederlage in Indochina (der Fall von Dien Bien Puh im Mai 1954) am 1. November 1954 begonnen hatte.

Noch viel weniger im kollektiven westlichen Gedächtnis in diesem Kontext überhaupt ist das Polizeimassaker am 17. Oktober 1961 in Paris. Erst nach über 60 Jahren hat die Nationalversammlung der „Grande Nation“ gestern dieses Massaker an den mindestens 200 algerische Demonstrantinnen und Demonstranten mitten in der französischen Hauptstadt offiziell einräumt. Auf Anordnung des Polizeipräfekten von Paris, Maurice Papon, erschossen, erschlagen und unter aktiver Mithilfe und Hetzjagden französischer Rassisten in der Seine ertränkt – weshalb sowohl die große antirassistische Demonstration „Marche pour l’égalité, contre le racisme“ 1983 einen Stopp an der Seinebrücke Pont de Bezons einlegte wie zum 30. Jahrestag des Massakers Aktivist:innen der Antirassismusorganisation MRAP auf der Seinebrücke Pont Saint-Michel die offizielle Anerkennung des Verbrechens im Herzen Frankreichs forderten. Rund 12.000 weitere, festgenommene Demonstrant:innen wiederum wurden in den Kellern der Polizeipräfektur, aber auch in dafür in Beschlag genommenen Sportstadien und unterirdischen Etagen der Pferderennbahnen wochenlang festgehalten und misshandelt. 200 viehisch hingemordete friedliche algerische Demonstrant:innen. 12.000 Inhaftierte – vielfach brutal misshandelt und gefoltert. Verschwundene.

Mitten im Herz des „Wertewesten“ und dessen platter Friedens-, Demokratie- und Freiheitserzählung im Gefolge der geradezu grotesk verzeichneten Römischen Verträge 1957. Als ob bis zu deren Abschluss (zumal 10 Jahre nach dem von Harry S. Truman ausgerufenen Kalten Krieg) ansonsten ein erneuter Krieg zwischen Deutschland und Frankreich gedroht hätte oder bis 1973 (dem Beitrittsjahr Großbritanniens) ein neuerlicher deutsch-britischer Krieg zwischen beiden Großmächten.

Umso beharrlicher hielt sich für die Bartholomäusnacht 1961 indes noch bis in die 1990er Jahre die staatsoffizielle Version des Staatsverbrechens von 2 oder 3 Toten bei „Auseinandersetzungen unter Algeriern“. Ein zur französischen Staatsraison erhobenes wie ins europäische Selbstbewusstsein eingefügtes Narrativ, das auch von seinen „wertebasierten“ Partnern nicht angeprangert wurde und zugleich auf die Millionen zählende Blutspur der erbaulichen Mär EU-Europas verweist. Allerdings mit einer zwischenzeitlichen Weiterung. Bestimmten die Römischen Verträge für‘s Militärische noch die ausschließliche Zuständigkeit der Mitgliedsstaaten, sind in den letzten anderthalb Jahrzehnten auch Brüssels Kompetenzen beträchtlich angewachsen. Damit wird nun auch die Großmacht EU als solche „kriegstüchtig(er)“ gemacht. Oder wie es im Manuskript der verkündeten „Zeitenwende“ steht: als „geopolitisches Europa“ muss dieses heute „das Gewicht des geeinten Europas viel stärker zur Geltung bringen.“

 

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