#ZeroCovid – eine notwendige Debatte um eine linke Antwort auf die Corona-Pandemie
Benjamin Opratko / Mosaik-Blog
Der ZeroCovid-Initiative ist in kurzer Zeit viel gelungen. Innerhalb der gesellschaftlichen Linken wird nun erstmals um eine eigenständige Position in der Pandemiebekämpfung gerungen. In der weiteren politischen und medialen Debatte bricht sie – in Deutschland bislang noch mehr als in Österreich – die scheinbare Alternativlosigkeit der herrschenden Krisenbearbeitung auf und zeigt zugleich klare Kante gegen jede Verharmlosung der Pandemie. Besonders wichtig und richtig ist, dass ZeroCovid den Fokus auf Lohnarbeit als entscheidenden Faktor im Infektionsgeschehen richtet. Zugleich habe ich aber eine Reihe von Vorbehalten gegen die ZeroCovid-Strategie. Diese sind nicht grundsätzlich oder theoretisch, sondern ganz praktisch. Wenn ein so weitreichendes Vorgehen gefordert wird, müssen die konkrete Umsetzung und deren Effekte offen ausgesprochen werden.
Ich verstehe – und teile sogar – das Begehren nach dem Durchschlagen des gordischen Knotens: Wenn einfach endlich alle einmal für ein paar Wochen die Füße still hielten, hätten wir den Wahnsinn hinter uns. Aber das spielt es nicht, nicht in diesem Theater, nicht nach diesem Jahr. Die Initiative unterschätzt grob die enorme Mobilisierung von staatlicher Macht, von Repression und Überwachung, die notwendig wäre, um einen echten, mehrwöchigen Shutdown durchzusetzen.
Kein Konsens für „führenden“ Lockdown
Wir sollten uns nichts vormachen. Um das Virus wirklich auszuhungern statt nur seine Verbreitung einzugrenzen, werden auch weitere Einschränkung im Alltag, im Freizeitverhalten und im privaten Bereich notwendig sein. Abgesehen von den rechtlichen Grenzen (erinnern wir uns an die nachträgliche Aufhebung der Frühlings-Maßnahmen durch den Verfassungsgerichtshof in Österreich): Wir wissen, dass die Bereitschaft, den behördlichen Vorgaben zu folgen, im Laufe des Jahres gesunken ist. Ein echter, harter Shutdown würde unabsehbare soziale und politische Dynamiken auslösen, bis hin zur offenen Gewalt.
Für eine „führende“, nicht „herrschende“ Form des Lockdowns, also eine, die auf die massenhafte Zustimmung und den Konsens mit den politisch-medizinischen Autoritäten setzt, sind die Voraussetzungen so kurzfristig schlicht nicht gegeben. Um zum angegebenen Ziel zu kommen, wäre (im besten Fall) ein Vorgehen nach dem Vorbild der VR China notwendig. Was das ganz praktisch bedeutet, lässt sich (keineswegs nur bei anti-chinesischen Propagandist*innen) nachlesen. Selbst wenn ich das für akzeptabel hielte, wäre es ohne eine nachhaltige Beschädigung der bürgerlichen Demokratie nicht umsetzbar.
Wer ist systemrelevant?
Dazu kommen nur scheinbar banale Fragen der praktischen Umsetzung. Was „notwendige“ Tätigkeiten sind, die auch im ZeroCovid-Shutdown nicht ausgesetzt würden, wäre Gegenstand harter gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Es ist überhaupt nicht evident, was dazu gehört und was nicht. Akteur gegen die Interessen der Kapitalakkumulation könnte dabei aktuell nur der Staat sein, und zwar in seiner gegenwärtigen Form, mit dem bestehenden Personal, nicht nur in Exekutive und Legislative, sondern auch in der Verwaltung.
Im bürgerlichen Rechtsstaat heißt das, dass eine ausgehungerte, inkompetente Staatsbürokratie mit den bestbezahlten Unternehmensanwälten der Welt um jedes Produkt, jede Dienstleistung einzeln und bis ins letzte Detail verhandeln würde müssen. Stellt euch Kaufhaus Österreich versus Amazon vor. Im Grunde ruft das sehr alte Probleme einer staatlichen Kommandowirtschaft unter den Bedingungen einer kapitalistischen Weltwirtschaft auf. Da muss man noch nicht mal auf die Sowjetunion zurückschauen. Es reicht ein Blick auf die Erfahrungen lateinamerikanischer Mitte-Links-Regierungen der 2010er Jahre, die viel zaghafter versucht haben, die Produktion und Verteilung von Grundnahrungsmitteln zu regulieren – und dabei oft an der Macht des Kapitals zerschellt sind.
Praxis statt Fantasie
Insgesamt verschweigen Proponent*innen von ZeroCovid die notwendig unschöne Rolle des Staates in einer solchen Strategie etwas verschämt oder kleistern sie mit Fantasien einer kurzfristig herzustellenden ArbeiterInnen- oder gewerkschaftlichen Kontrolle – oder dem „Druck der Bewegungen“, die es nicht gibt und seit 50 Jahren nicht gab – zu. Es geht um die praktische Pandemiebekämpfung in den kommenden Wochen und Monaten. Da sollten wir uns nicht darauf verlassen müssen, dass Anfang 2021 urplötzlich der sozialistische Geist die europäischen Massen ergreift.
Es gäbe noch einiges mehr dazu zu sagen. Dass der Kapitalismus in Europa auf der permanenten Mobilität von ArbeiterInnen beruht, zum Beispiel. Oder zur Tatsache, dass bei aller Betonung des „Solidarischen“ im Shutdown völlig klar ist, dass die körperlichen und psychischen Lasten eines solchen die am stärksten prekarisierten und überausgebeuten Teile der Arbeiter*innenklasse treffen würden. Aber das ein andermal.
Ich hoffe trotz alledem, dass die Initiative die öffentliche Debatte in die richtige Richtung verschiebt und ganz grundlegend Möglichkeiten einer alternativen Pandemiepolitik diskutierter macht. Denn so wie es jetzt ist, ist es natürlich auch scheiße.