Für eine rationale Debatte der Linken angesichts der schnurstracks auf uns zu brandenden Omikron-Welle
Nochmals aktualisierte und erweiterte Fassung vom 22.12.2021
Während Covid-19-Totimpfstoffe auf sich warten lassen, warnte der Covid-Expertenrat Deutschlands gerade, dass mit der bisher „nie dagewesene Verbreitungsgeschwindigkeit“ von Omikron die kritische Infrastruktur des Landes ins Schlingern kommen könnte. Zugleich ist mit Nuvaxovid nun erstmals auch in Europa eine Alternative zu den bisherigen mRNA- und Vektorimpfstoffen zugelassen – allerdings erst ab Jänner erhältlich. Und zu alledem führt auch noch die gängige Dichotomie Totimpfstoffe contra neuen Impftechnologien in ihrer erratischen Entgegensetzung in die Irre.
Gemeint ist denn auch etwas anderes: Wie hältst Du es mit „genetischen Impfstoffen“? Was bis zu einem gewissen Grad wiederum genauso missverständlich ist – wie wir sehen werden. Und selbes gilt nicht minder für das vereinfachte Votum für Totimpfstoffe, gibt es doch, wenngleich eingeschränkt, ebenso eine Reihe wichtiger und erfolgreicher Lebendimpfstoffe. So etwa die Vakzine gegen Masern, Mumps, Röteln, Gelbfieber, Kinderlähmung oder Windpocken. Diese enthalten vermehrungsfähige, aber nicht mehr schädigende Viren – und finden Lebendimpfstoffe darüber hinaus übrigens teils auch gegen Grippe Verwendung –, währenddessen mRNA-Impfstoffe unter die Klasse der Totimpfstoffe fallen.
Das Kind nicht mit dem Bade ausschütten
Natürlich sind der marxistische Gesundheitsbegriff und sein Medizinverständnis sowie eine linke Antwort auf die Corona-Pandemie tiefer und breiter gefasst und grundlegender angelegt und beinhalten unauflöslich auch gesellschaftskritische sowie gesellschaftstheoretische Dimensionsebenen und antikapitalistische Bestimmungsstücke. Und einer linken, solidarischen Antwort auf die grassierende Seuche eignet freilich weit mehr als Impfquoten oder die Versorgung der Menschheit mit Vakzinen.
Allerdings darf man das Kind nicht mit dem Bade ausschütte. Es liegt nun mal schon im Gatsch. Weniger euphemistisch gesprochen: Die Welt steckt in einem globalen Seuchenzug und einer globalen Gesundheitskrise, deren auch nur ansatzweise Verharmlosung oder Relativierung sich schlicht verbietet. Einer Pandemie, die sich nicht ohne Serum sowie nur global überwinden lässt und mit der Omikron-Welle in geradezu atemberaubendem Tempo über uns fegen wird.
Und in diesem Zusammenhang zugleich noch ein prinzipielles Wort: bei aller berechtigten Kritik an der Pharma- und Gesundheitsindustrie, werden Impfstoffe auch nicht nur für eine gewisse (aktuell gesundheitspolitisch wie auch historische) Übergangsetappe nötig sein, sondern auch unter umgewälzten gesellschaftlichen Verhältnissen stets eine medizinische Funktion ausfüllen.
Marxismus versus Impfstoff-Geschwurble
Und so kritische Fragen sich neue Technologien wie etwa RNA-basierte Impfstoffe auch gefallen lassen müssen, damit neue Fragekomplexe aufwerfend und ältere in der Debatte ein Stück weit in den Hintergrund drängend, hebt die Frage des Marxismus nicht auf absonderliche Dichotomien wie „Natürlichkeit“ versus „Künstlichkeit“ ab oder stellt sich dieser gar gegen die gegebenen wissenschaftlich-technischen Fortschrittspotentiale in der Medizin. Er rekurriert im Fragefeld der von den Widersprüchen des Kapitalismus gebrochenen und pervertierten Möglichkeiten (in freilicher Abwägung der Gefahren) vielmehr vorrangig auf die Herstellungskonditionen, Profitinteressen, Gebrechen und Verteilungsverhältnisse. Das Monitum liegt nicht darin, dass die in historisch kurzer Zeit entwickelten Impfstoffe auf neuen Methoden basieren, sondern die Eigentumsrechte und die Profit-Logik in den kapitalistischen Kernländern höher als universelle Menschenrechte und Menschenleben rangieren.
Erneut und nochmals ausführlicher zu mRNA-Impfstoffen
Natürlich gilt es auch die Vor- und Nachteile der modernen Vakzine abzuwägen. Der – unter anderem – unzweifelhafte Vorteil der mRNA-Impfstoffe liegt sicherlich darin, dass sie sich überhaupt in dieser historisch kurzen Zeit entwickeln ließen und sie sich der Infektionsdynamik entsprechend sehr schnell anpassen lassen, während etwa die herkömmlichen jährlichen Grippeimpfstoffe eine Vorlaufzeit von sechs bis neun Monaten aufweisen, weshalb sie zur Grippesaison auch nicht mehr abänderbar und anpassbar sind. Natürlich weisen die mRNA-Impfstoffe aufgrund ihrer schwierigeren Lagerbarkeit wie der notwendigen Kühlketten oder ihrer derzeit noch erforderlichen zwei- bzw. eigentlich dreimaligen Verabreichungsnotwendigkeit auch (noch) Nachteile auf. Ähnliches ließe sich im Einzelnen auch hinsichtlich ihrer unumstrittenen direkteren „Neutralisierung“ des Spike des SARS-CoV-2 Virus im Verhältnis zur dagegen zurückhängenden Bildung zytotoxischer T-Zellen diskutieren, usw. usf. Umgekehrt wiederum allerdings auch, dass mRNA-Impfstoffe dafür keine Fremdstoffe aus Produktionszellen (z.B. Hühnereiweiß) und Konservierungsmittel wie Formaldehyd oder Quecksilbersaltz enthalten.
Die an die Wand gemalten und durch die Schwurblerszenerie geisternden bzw. von dieser ausgehenden Schreckgespenste – da man mit den neuen Impfstoffen mittels RNA den Bauplan für Antigene in Körperzellen schleust und diese damit direkt auf der Arbeitsebene veranlasst Antigene zu produzieren – sind indes Humbug und hängen sich vielfach am missverständlichen Begriff „genetische Impfstoffe“ auf, der in der Tat genauso missverständlich ist wie der Begriff „Totimpfstoffe“ (gelten Viren der Wissenschaft recht eigentlich gar nicht als Lebewesen bzw. bestenfalls als Grenzfall des Lebens). Ein besonders kruder Mythos darunter ist, dass mRNA-Impfstoffe gar unser Erbgut verändern würden. Dass die RNA, die im Grunde eigentlich nur ein Bauplan für ein Protein ist, um ihre Aufgabe zu bewerkstelligen, in die Zellen eingeschleust werden muss, liegt dabei in der Natur der Sache. Daraus aber abzuleiten, die in das Zellplasma geschleuste chemisch einsträngige (recht instabile) RNA (die als vierte Base zudem anstatt Thymin Uracil enthält und noch andere chemische Unterschiede aufweist) könnte unsere DNA, das berühmte und auch chemisch nicht auf gleicher Ebene stehende Doppelhelixmolekül das im Zellkern sitzt, „umschreiben“, ist schon eine Erzählung, die mit Wissenschaft ungefähr so viel zu tun hat wie der Rat, von der modernen Chemie zur Alchemie des Mittelalters oder von der Astronomie zur Astrologie zurückzukehren.
Der aus der DDR stammende Biochemiker Martin Holtzhauer vermerkte dazu schon vor längerem: „Manche(r) wird sich fragen, ob die verwendete Virus-Erbsubstanz in den mRNA-Vakzinen in das menschliche Erbgut eingebaut werden und vielleicht dort später Unheil anrichten kann.“ Und verneint dies als Wissenschaftler vom Fach und ehemaliger Mitarbeiter des Zentralinstituts für Molekularbiologie der Akademie der Wissenschaften nachdrücklich. Hinblicklich „der mRNA-Vakzine müsste die Erbinformation in den Zellen zuerst in DNA umgeschrieben werden, doch dafür fehlen den Säugerzellen die nötigen Enzyme.“ Weniger gehalten über die mRNA-Debatte unter Linken reagierte, manchen und mancher vielleicht schon untergekommen, die lange auf dem Gebiet der Sicherheitsbewertung von Mikroorganismen arbeitende Molekulargenetikerin und Mitbegründerin des Marx-Engels-Zentrum-Berlin Marianna Schauzu. Nicht viel weniger Kopfschütteln würde die hiesige Debatte wohl auch bei ForscherInnen des Finlay-Instituts in Havanna, ganz zu schweigen von MitarbeiterInnen des Forschungsinstituts der chinesischen Volksbefreiungsarmee hervorrufen, das selbst an mRNA-Impfstoffen arbeitet.
Die Mitglieder der marxistisch orientierten internationalistischen Ärzteplattform Günther Bittel und Willi Mast wiederum halten zu derartige Befürchtungen ihrerseits fest: „Was würde [eigentlich] passieren, wenn … diese Kopie des Impfstoffs [dennoch] in einigen wenigen Zellen in die DNA integriert [würde]? Dann würden diese Zellen dauerhaft Virusprotein herstellen. Das ist dann eigentlich genau derselbe Vorgang wie der durch die Impfung bezweckte! Diese einzelnen Zellen würden dann entweder für eine anhaltende Immunisierung sorgen oder vom Immunsystem eliminiert.“
Ebenso hartnäckig hält sich die Mär, die mRNA-Technologie wäre gleichsam gänzlich neu, ihre Funktionsweise noch kaum erforscht, der Impfstoff zur Zulassung irgendwie nur sozusagen mit zugedrückten Augen „durchgewunken“. Die Technologie ist im Verhältnis zu herkömmlichen Impf-Techniken freilich neu, hat als solche aber schon einige Jahrzehnte am Buckel und ist in ihrer Funktionsweise auch sehr gut erforscht. Nachdrücklicher noch: Die Wegbereitung der heutigen mRNA-Impftechnologie nahm ihren entscheidenden Anfang ursprünglich mit den Forschungen in den 1970er Jahren an der Universität Szeged in Ungarn durch Katalina Karikó. Nach Ende ihrer Postdoc-Anstellung an der Ungarischen Akademie der Wissenschaften wanderte Karikó 1985 in die USA aus und forschte dort zunächst an der Temple University in Philadelphia und danach an der University of Pennsylvania weiter. 1997 begann dann ihre Zusammenarbeit Drew Weissman. Parallel arbeiteten um diese Zeit auch etwa Douglas Melton (ab 1987), sowie ab Anfang der 1990er Jahre Pierre Meulien intensiv an der mRNA-Technik, die aber auch mit Namen wie David Curiel, Eli Gilboa, Robert Conry, Ingmar Hoerr oder Derrick Rossi und anderen verbunden ist. 2005 gelang Karikó und Weissman dann der entscheidende Durchbruch. Hier ist freilich nicht der Ort einer Geschichte der mRNA-Technologie, mit Sars-CoV-2 plötzlich neu und unverstanden in die Welt getreten, wie oft suggeriert, ist sie jedenfalls keineswegs. Die Impfstoffe selbst wiederum wurden im Zulassungsverfahren sowohl in ihren klinischen Phasen wie in der entscheidenden und aufwendigen sogenannten Phase III. intensiv geprüft und zählen heute zu den wohl mit am besten erforschten Impfstoffen der Geschichte. Es geht denn aus marxistischer Sicht salopp gesprochen mitnichten um ein „Nein zu Impfstoffen“, sondern um sichere und wirksame „Impfstoffe ohne Profit“!
Gentechnologie und Impfstoffe
Und während für manche Linke mit „der Gentechnik“ nicht, wie zuvor die tote Materie, nun auch die lebende Materie zum Arbeitsgegenstand wird, sondern diese irgendwie eine Art verdammenswerte Ausgeburt des Kapitalismus darstellt, arbeitet etwa das Forschungsinstitut der chinesischen Volksbefreiungsarmee selbstredend auch an mRNA-basierten Impfstoffen.
Beiher noch, um jedweder verfehlten Impfstoff-Romantik vorzubauen, basieren auch herkömmliche Totimpfstoffe (mit abgetöteten Viren oder Virusbestandteilen) vielfach auf Oberflächenproteinen gentechnischen Ursprungs, ebenso wie Lebendimpfstoffe (mit abgeschwächten und nicht mehr schädigenden Viren). Und auch im zu Recht als Meilenstein gefeierten kubanische Impfstoff Soberana 2, mit dem auf der roten Karibikinsel bereits 90% (zumindest mit einer ersten Dosis) geimpft wurden, entstammen die CoV-2 spezifischen Proteine gentechnischer Herstellung.
Linke Herausforderung auf pharmazeutischen Feld
Die mehr oder weniger einzig geopolitischen Motiven entspringende bisherige Nichtzulassung von Nicht-mRNA-Impfstoffen wie Sinovac, Sputnik oder Soberana 2 in der EU, die Unglaubwürdigkeit und wahrlich nur bedingt einer konzisen Gesundheitspolitik folgenden Corona-Maßnahmen, das ständige changieren der Epidemie-Politik zwischen unbedingter Aufrechterhaltung der Kapitalverwertung und gesundheitspolitischen Notbremsen, sowie das epidemiologische Staatsversagen haben zu Recht einen tiefen Vertrauensschwund in Regierung und Staat gezeitigt. Nur kann das nicht heißen, gegen jede epidemische Expertise deshalb in den Chor der Impfskeptiker einzustimmen. Zumal die Zahl der Geimpften nach wie vor viel zu gering ist und mit Omikron eine ganz neue Welle auf uns zu brandet.
Diesbezüglich werden wir auch nicht umhinkommen, neue Einsichten miteinzubeziehen. Von Impfbeginn an war nicht ausgemacht, ob nicht eine dritte Dosis nötig sein würde. Diese läuft nun unter Booster-Impfung – als eine Art letztes Gütesiegel. Viel richtiger wäre es allerdings, den WissenschafterInnen exakt zu folgen: „Es ist für uns schon seit einiger Zeit klar, dass wir dreifach impfen müssen“. „Wir müssen [folglich] beginnen, eine vollständige Impfung als eine Impfung mit drei Dosen zu betrachten“, so der bekannte Virologe Christian Drosten jüngst. Damit verändert sich allerdings auch das Bild der Durchimpfungsrate nochmals enorm. Denn das heißt, wollen wir die aktuelle und nächste Welle brechen, gar das Virus besiegen, oder auch nur seine Verbreitung eindämmen, wird sich auch die Linke dieser Herausforderung ernsthaft stellen müssen.
Nuvaxovid – Lage – und Impfschwurbeleien
Mit Nuvaxovid (NVX-CoV2373) des US-Herstellers Novavax ist von der EMA nun erstmals auch in Europa eine Alternative zu den bisherigen mRNA- und Vektorimpfstoffen zugelassen. Ab Jänner beginnt die Auslieferung. Es gibt zwar keinen Grund darauf zu warten, aber immerhin, eigentlich könnte sich die erhitzten Gemüter der Impfskeptiker nun ein Stück weit beruhigen. Das Vakzin enthält winzige Partikel, die aus einer im Labor gentechnisch hergestellten Version des Spike-Proteins von SARS-CoV-2 bestehen, was aber, wie gesehen, eigentlich relativ unspektakulär ist. Jedenfalls steht damit jetzt auch ein vertrauteres Serum, sozusagen niederschwelligerer Impftechnologie auf Protein-Basis zur Verfügung. Und das ist, nimmt man die düstere, aktuelle Warnung des Covid-Expertenrats der deutschen Bundesregierung, dass durch die „explosionsartige Verbreitung“ von Omikron „die gesamte kritische Infrastruktur“ Deutschlands ins Wanken geraten könnte, ernst, auch bitter nötig. Man darf gespannt sein, wie viele bislang mit der mRNA-Karte geschürte Befürchtungen möglicher Gefahren, Nebenwirkungen und Spätfolgen sich damit ausräumen lassen, oder ob auch angesichts einer ebenso Österreich bevorstehen könnenden Lage einer auf mehr oder minder einen Schlag breitflächiger Personal- und Infrastrukturausfälle, vielmehr schon die nächsten Impfschwurbeleien parat stehen und stechen.
Zumal wir sogenannte „sterile Immunitäten“, also dass Impfungen (oder Genesungen) eine vollständige Immunität erzeugen bzw. man sich nicht wieder reinfizieren und erkranken kann, überhaupt nur bei an einer Hand abzählbaren Viren kennen. Impfungen verhindern Ansteckungen bzw. schränken diese drastisch ein, schützen vor schweren Verläufen und schützen solidarisch das Umfeld (zumal Hochrisikogruppen und jene, die wie Menschen mit Immunschwächen oder Säuglinge nicht geimpft werden können) vor einer Übertragung der Infektion – und durch sie (wenn auch nicht allein durch sie) lassen Epidemien und Pandemien eindämmen, brechen und gegebenenfalls beenden. Corona selbst würde uns freilich in nichtpandemischer Ausprägung sonach auch dann noch länger begleiten als den meisten gemeinhin vorschwebt. Allerdings in diesem Fall ähnlich der Influenza und nicht mehr als Seuchenzug, in dem niemand mehr was im Griff hat. Die Zeit allerdings drängt.
Foto: aesthetics of crisis, Flickr, (CC BY-NC-SA 2.0), cropped