Westlicher Werte-Diskurs und Menschenrechte unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts

Das von der UNO nach jahrzehntelangem Ringen auf II. UN-Menschenrechtskonferenz in Wien 1993 erklärte Gleichgewichtigkeit und die Unteilbarkeit der Individual- und Freiheitsrechte (Rechte der 1. „Dimension“) und der sozialen Menschenrechte (Rechte der 2. „Dimension“) sowie die Rechte der Völker auf Entwicklung und Selbstbestimmung (Rechte der 3. „Dimension“), ist in der herrschenden, profitdominierten Welt(un)ordnung regelrecht verglüht. Ja, ganze existenzielle Dimensionen und Problemlagen des Menschenrechts sind aus dessen Katalog exkommuniziert. Mehr denn je gilt in den Worten des Kampflieds der Arbeiterbewegung denn auch: „Die Internationale erkämpft das Menschenrecht!“

Die Individual- und Freiheitsrechte stehen weltweit unter Beschuss, die sozialen Menschenrechte wurden unter Dominanz des Metropolenkapitalismus geradezu suspendiert und das Recht der Völker auf Entwicklung und Selbstbestimmung verglüht zusehends im imperialistischen Hegemonismus. Im Kampf um die globale Vorherrschaft haben die imperialistischen Zentren des Metropolenkapitalismus zudem ihren globalstrategischen Konfrontationskurs nochmals hochgeschraubt und den „Kampf der Systeme“ gegen die „systemischen Rivalen“ (China und Russland) ausgerufen sowie einen Sanktions-Amoklauf von A wie Afghanistan bis Z wie Zimbabwe angezettelt und einen globalen Weltordnungs-Wirtschaftskrieg entfesselt. Die geopolitische Absicht Russland – What ever it takes – in den Kollaps zu zwingen bzw. „zu ruinieren“, ruiniert als billigend in Kauf genommene „Kollateralschäden“ auf breiter Front zugleich auf mehrfache Weise und in nochmals ganz anderer Dimension die armen Länder des Globalen Südens, die daher auch darin den eigentlich schmerzhaften über den Globus verhängten Wirtschaftskrieg erleben. Oder wie, worauf wir die Tage gerade verwiesen, der Guardian jüngst Tacheles redete, die Sanktionen treffen den Globalen Süden nicht nur mit durchwegs vorhersehbarer Wucht, sie gründen zudem „auf der neoimperialistischen Annahme, dass westliche Staaten berechtigt seien, die Welt zu ordnen, wie sie wollen.“ Und dies noch: koste es, was es wolle – bis hin zur humanitären Dramatik des anrollenden Welthunger-Tsunamis für 828 Millionen Menschen. Hatte die UN-Generalversammlung 2015 noch als Ziel formuliert hatte, bis zum Jahr 2030 den Hunger ausrotten zu wollen, wächst dieser seit 2017 wieder stetig, seit Ausbruch der Corona- und Wirtschaftskrise 2020 gar rasant an – und explodierte im Zuge des entfesselten Wirtschaftskriegs und der „regelbasierten“ mörderischen Wetten auf Lebensmittel auf den Agrarbörsen und Weizenmärkten und damit einhergehenden spekulationsgetriebenen Preisexplosion von 690 Millionen 2019 auf aktuell 828 Millionen.

Dazu kommt: Aufgrund der kapitalistisch-fossilistisch verursachten Erderhitzung und extremen Hitzeperioden werden die den kommenden Jahrzehnten ganze Weltregionen – große Teile Afrikas (wie der Sahelzone, das Horn von Afrika), Teile des Mittleren Ostens sowie Süd- und Südwestasien – für Menschen schlicht unbewohnbar, wie jüngst ein UN-Bericht nochmals unterstrich. Aber obwohl das Kippen des Weltklimas ohne massive Aufwendungen im Rahmen des Konzepts einer Klimagerechtigkeit nicht mehr zu verhindern ist, die Welt auf eine globale Klimakatastrophe und chaotischen Zustände zusteuert, sperrt sich der „Kollektive Westen“ resp. „Globale Norden“ vor seiner schon von UN-Generalsekretär U Thant bereits vor exakt einem halben Jahrhundert zur ersten UN-Umweltkonferenz 1972 in Stockholm eingemahnten „historischen Verantwortung“ sowie seiner immer drastischeren „Klimaschulden“. Das politische Konzept der Klimagerechtigkeit beinhaltet nämlich neben den Verpflichtungen zur rigorosen Emissionsreduktion der hochindustrialisierten Länder, auch einen Ausgleich der Anpassungsmaßnahmen in den armen Ländern, sowie eine Deckung der von den industriekapitalistischen Klimakillern verursachten und hervorgerufenen „Verluste und Schäden“ und „Reparationszahlungen“, zumal an die besonders klimaverletzlichen peripheren Länder. Aber nicht nur der bereits 2010 auf der COP 16 in Cancún beschlossenen 100-Milliarden-Dollar Klimaschutzfonds ist bis heute säumig, noch weniger existiert ein auch nur ansatzweiser Finanzmechanismus für den in Scharm El-Scheikh formal beschlossene Loss and Damage Fonds, dessen eigentlich nötige Dotierung sich jährlich auf 2,4 Billionen Dollar bis 2030 beläuft.

Man muss die politischen Ansichten des bekannten Unternehmers und Kritikers Chandran Nairs nicht teilen um seiner Problembestandsaufnahme und Problemakzentuierung doch Gewichtiges abzugewinnen. „Der Westen argumentiert gerne mit Menschenrechten, um seine Positionen durchzusetzen“ – eine Auffassung, die auch der langjährige außenpolitische Falke und Machtpolitiker Henry Kissinger als die geschickteste Form der westlichen Interessensdurchsetzung offen aussprach. „Ich glaube jedoch, dass wir im 21. Jahrhundert neue Prioritäten [in der Gewichtung der Menschenrechte] setzen müssen: … das Recht auf sanitäre Anlagen, Elektrizität, sauberes Wasser und Bildung. Heute leben allein in Indien 400 Millionen Menschen ohne Strom. Das ist, als lebe die gesamte Europäische Union in kompletter Dunkelheit. … Im Jahr 2060 wird es etwa fünf Milliarden Asiaten geben. Wenn alle diese Menschen denselben Lebensstandard haben wollen wie die etwa 600 Millionen First-Class-Konsumenten in Amerika und Europa heute, wird unser Planet zusammenbrechen … Schon heute haben mehr Inder ein Handy als eine Toilette … Deshalb brauchen wir starke staatliche Institutionen, die in die Kapitalflüsse eingreifen können, um für die Menschen die grundlegenden Bedingungen eines würdevollen Lebens zu schaffen.“ „Es ist“, so Nair weiter, „eine rein westliche Wertvorstellung, die Freiheit des Individuums über die Grundversorgung des Kollektivs zu stellen. Sie ist unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts nicht mehr zu halten“. In dieser Apodiktik widerspricht er freilich implizit seinerseits der einst in Wien festgehaltenen Gleichrangigkeit der Menschenrechte der 1., 2. und 3. Dimension. Allerdings in der Absicht, die unerträgliche Selbstgerechtigkeit und das notorisch gute Gewissen „des Westens“ (das der heutige Imperialismus oder die transatlantisch vielfach beschworene Pax Americana mit der Pax Romana des Römischen Reichs teilt) mit existenziellen Problemlagen des 21. Jahrhunderts zu konfrontieren, die im „Menschenrechts-Narrativ“ von Washington, über Brüssel, Berlin, Paris, London, Tokio bis Wien keinen Platz finden.

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