Sans papiers et sans avenir – Hungerstreik der Entrechteten in Belgien

60 Tage lang befanden sich hunderte Geflüchtete in Belgien im Hungerstreik. Nach zwei Monaten zeigte sich die belgische Regierung jetzt bereit Gespräche mit den Betroffenen aufzunehmen, weshalb sie ihren Hungerstreik vorerst beendeten, der Widerstand bleibt jedoch ungebrochen.

Sans-papiers (ohne Papiere), werden in Belgien Personen ohne Aufenthaltsgenehmigung genannt. 150.000 Menschen und damit mehr als 1% der Einwohner, leben in Belgien ohne Bleiberecht, ohne Recht auf medizinische Versorgung und auch ohne die Möglichkeit (legaler) Arbeit nachzugehen. Die meisten von ihnen kommen aus Afghanistan, Pakistan oder den Maghreb-Staaten und damit aus kriegsgebeutelten Ländern, in denen politische, ethnische oder religiöse-konfessionelle Verfolgung alltäglich sind.

Entrechtet und ausgebeutet

Dem belgischen Kapital scheint die derzeitige Lage jedoch mehr als willkommen zu sein: viele der Sans-papiers arbeiten illegal in menschenunwürdigen Arbeitsverhältnissen, bis zu 15 Stunden am Tag für einen Stundenlohn von 2,7 €. Das belgische BIP/Kopf ist mit jenem von Österreich vergleichbar, der Mindestlohn liegt bei 10 €/Stunde. Von sklavenähnlicher Ausbeutung und Lohndumping will in Belgien, im Zentrum der Europäischen Union, der selbsternannten Menschenrechtsunion, niemand etwas wissen. Solche Arbeitsbedingungen sind kurzweiliger Zustand, auch in Belgien erhalten viele Menschen erst nach Jahren, teilweise erst nach Jahrzehnten, einen Asylbescheid, viele werden nach jahrelanger Arbeit unter den widrigsten Umständen dann erst recht abgeschoben. Zugang zum Gesundheitswesen erhalten sie in all diesen Jahren keinen, während des Hungerstreiks und auch jetzt noch sind die Protestierenden auf freiwillige Hilfe vor Ort angewiesen.

Ein Grund dafür ist die – selbst für EU-Staaten – ungleich restriktive Asylgesetzgebung. Bleibemöglichkeiten bestehen nur aus medizinischen oder humanitären Gründen. Während medizinische Bestimmungen äußerst eng gefasst sind, sind humanitäre Asylgründe erst gar nicht wirklich definiert. Die Entscheidung wer bleiben darf und wer abgeschoben wird unterliegt somit de facto allein dem Gutdünken der Behörden, denn gesetzliche Regelungen gibt es hier kaum. Die ohnehin alles andere als humanen EU-Asylbestimmungen wurden von Belgien bislang noch nicht in das nationale Recht integriert. Die EU-Herrschaften in Brüssel scheint der Sonderweg ihres Vorzeigestaats derweil kaum zu stören. Aufgrund der repressiven Gesetzgebung trauen sich viele Geflüchtete erst gar keinen Antrag auf humanitäres Bleiberecht zu stellen, da sie so eine Abschiebung in „sichere Herkunftsländer“ riskieren. Ähnlich wie in Österreich, stellen das kriegsgebeutelte Afghanistan, wo die NATO-Truppen nichts als verbrannte Erde hinterließen und die Taliban erneut auf den Vormarsch sind oder Pakistan mit seinen zahlreichen Menschenrechtsverletzungen, für die belgischen Behörden scheinbar keine Gefahr für die Menschen vor Ort dar.

Eine Gewerkschaft für Menschen ohne Recht auf Arbeit

Die beschriebenen Umstände führten zum derzeitigen Streik der Geflüchteten. Organisiert wurde dieser von der „Union des Sans-papiers pour la Régularisation“ (USPR). Die USPR ist als Teil der Sans-Papiers-Bewegung ein Untersützungsnetzwerk, in dem auch etliche sozialistische und linke Gewerkschaften und Parteien mitwirken. Neben diesen solidarisieren und organisieren sich hier auch Aktivist:innen, Wissenschafter:innen und diverse zivilgesellschaftliche Organisationen. Die kollektiv-bestimmten Delegierten entscheiden gemeinsam über die Vorgangsweise der Sans-papiers-Bewegung. Das Ziel ist klar: Die Erwirkung einer Aufenthaltsgenehmigung für die Sans-papiers, denn nur so können fundamentale Menschrechte gewährleistet werden.

Die aufkeimenden Proteste der vergangenen Monate sind zwar der bisherige Höhepunkt, aber die Sans-papiers-Bewegung ist keineswegs ein neues Phänomen. Um das Jahr 2000 organisierte sich bereits Widerstand in Belgien rund um die Lebensumstände der Geflüchteten. Damals gelang es immerhin ein Bleiberecht für 40.000 Menschen zu erwirken. Die gesetzliche Lage hat sich für die Geflüchteten aber seither nicht verbessert, ganz im Gegenteil: 2009 folgten erneute Proteste, durch die zwar einige, Wenige einen Aufenthaltstitel erhielten, im Zuge derer aber auch missbräuchliche Arbeitsverhältnisse legalisiert und etabliert wurden. In den kommenden Jahren wurden Verbesserungen für die Situation des Sans-Papiers, gleich wie rechtlich klare Regelungen, unter der Beteiligung der rassistischen, flämisch-nationalistischen Partei NV-A, von Vornherein ausgeschlossen.

Täter-Opfer-Umkehr und leere Versprechen

Von Beginn an versuchte die belgische Regierung, vorrangig in Person des zuständigen Staatsekretärs für Asyl, Samy Mahdi (selbst Sohn eines Migranten aus dem Irak), die Streikenden zu spalten, indem er einigen ein mögliches Bleiberecht in Aussicht stellte und anderen wiederum nicht. Tiefergreifende Verbesserungen schloss er vorab aus. Vielmehr noch versuchten die Christdemokraten die Proteste erst monatelang totzuschweigen, um dann in zynischer Ignoranz verlautbaren zu lassen, dass man sich nicht erpressen lassen würde und es die Schuld der Unterstützer:innen des Streiks sei, sollte es zu Todesfällen kommen. Für viele der Streikenden war der Zustand gegen Ende kritisch und nachdem in den vergangenen Tagen zusätzlich ein Trinkstreik ausgerufen wurde, erklärten sich viele der beteiligten Sans-Papiers bereit für ihre Rechte zu sterben. Die an den taggelegte Selber-Schuld-Attitüde der handelnden Politik und die Blindheit gegenüber den Umständen, die Menschen zu einer solchen Entscheidung treiben, ist sinnbildlich für das Sittenbild der Herrschenden in den kapitalistischen Zentren. Menschenverachtenden Umstände und schamlose Ausbeutung, nimmt das Kapital für die Maximierung der eignen Profite gerne in Kauf, während Widerstand kriminalisiert wird und eine moralischen Täter-Opfer-Umkehr erfolgt, um sich selbst aus der Verantwortung zu ziehen.

Schlussendlich scheint sich die Regierung doch zu Gesprächen durchgerungen zu haben. Wie die USPR bekannt gab, wurde der Hungerstreik durch Versprechungen, die den Sans-papiers in bilateralen Gesprächen gemacht wurden, vorerst ausgesetzt. Davon will die belgische Regierung aber nichts wissen. Die Besetzung der Kirche und Freien Universitäten dauert jedenfalls weiterhin an. Sollte die belgische Regierung ihre Verspechen wie bereits angedeutet brechen, könnte der Widerstand erneut entflammen, solange bis den Sans-papiers endlich fundamentale Menschenrechte gewährt werden.   

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