Soziale Protestwellen in der Türkei halten an

Neuer Mindestlohn von 5.200 Lira gefordert

„Geçinemiyoruz!“ – „Wir kommen mit unserem Einkommen nicht aus!“, hallt es seit längerem quer durch die Türkei. Seit Monaten nehmen aufgrund der sozialen Misere in der Türkei der Unmut und die Wut quer durch die Bevölkerung stetig zu. Immer weniger wissen wie sie angesichts der von Erdoğan mit seiner zum eisernen und bedingungslosen Staatsdogma erhobenen lockeren Geldpolitik angeheizten Inflation über die Runden kommen sollen. Nun hat der Autokrat die Lira mit der für diese Woche angekündigten neuerlichen Zinssenkung erneut auf Talfahrt geschickt und ist diese auf ein historisches Tief abgerutscht.

Ende November brachen sich die Unzufriedenheit und der aufgestaute Groll der Menschen im Ausbruch einer Protestwelle – die seitdem nicht abreißt – von Istanbul über Ankara bis Izmir und anderen Orten offen Bahn. Am Sonntag gingen auf Aufruf des linken Gewerkschaftsverbands DISK erneut zig Tausende gegen die erdrückenden Lebenserhaltungskosten und das immer unpopulärere und verhasstere Regime unter Parolen wie „Es reicht!“ und einem an die Arbeitenden und Massen gerichteten „Erhebt euch!“ auf die Straßen. Darunter allein in Istanbul bei Regen und Kälte zwischen fünf- und zehntausend Menschen.

Während die türkische Polizei gegen die Demonstrierenden zuletzt mit der für sie bekannt-berüchtigten Brutalität vorging, ließ sie die Demonstrationszüge in Istanbul dieses Mal weitgehend gewähren. Die Attacken hatten der Staatsmacht schon zuletzt keinen Erfolg beschieden. Die DemonstrantInnen trotzten den Polizeiangriffen entweder nach Kräften oder sammelten sich nach vorübergehender gewaltsamer Zerstreuung durch die Einsatzkräfte andernorts neu und setzten ihre Protestmärsche fort. Dabei schlossen sich ihnen spontan zahlreiche AnrainerInnen an.

In unter der Knute des Regimes seltener Offenheit wurden bereits im November quer durch die unterschiedlichen Demonstrationen und Sozialproteste von Tausenden nicht zuletzt auch Losungen gegen den Präsidenten und die Forderung nach einem Rücktritt Erdoğans und seiner AKP/MHP-Regierung skandiert. So, nochmals verstärkt, auch dieses Wochenende. In zahlreichen Parolen wurde das Kabinett lautstark und kämpferisch zum Rücktritt aufgefordert.

Von den Balkonen und aus Fenstern erfuhren die Demonstrierenden dabei auch von jenen die nicht selbst auf der Straße waren durch Tencere-Tava-Aktionen (das lautstarke Schlagen mit Kochlöffeln auf Töpfe, Pfannen oder Deckeln) durch die Straßen und Stadteile deutlich hörbaren Zuspruch und Unterstützung.

Erneut gewaltsam ging die Polizei hingegen gegen die von StudentInnenverbänden in Ankara mobilisierten sozialen Proteste vor. Die Studierenden am Bosporus ringen neben den durch die Decke geschossenen Preisen für Grundnahrungsmittel insbesondere auch mit dem mangelnden Wohnraum, der Explosion der Mieten und den fehlenden Kapazitäten in Wohnheimen. Der Initiative „Wir finden keinen Unterschlupf“ zufolge wurden mindestens 90 Studierende festgenommen.

Obwohl der Notenbankgouverneur auch in der Türkei formal „unabhängig“ ist, greift der „Sultan von Ankara“ immer wieder direkt und wirtschaftspolitisch erratisch in die Geld- und Kreditpolitik ein – und beschert der türkischen Lira mit seinem gelinde gesagt „unorthodoxen“, bedingungslosen Niedrigzins-Mantra einen regelrechten Niedergang. Entsprechend hat er zudem seit 2018 bereits drei Zentralbankgouverneure des Postens enthoben. Selbst sein davor mit aller Macht protegierter Schwiegersohn Berat Albayrak geriet im zinspolitischen Strudel als Finanzminister unter die Räder und musste im Herbst 2020 als Bauernopfer weichen. Und auch der erst diesen März ins Amt gehievte, neue, vierte Notenbankchef in den letzten zweieinhalb Jahren, Şahap Kavcıoğlu, dürfte trotzt aktueller Geldpolitik á la Erdoğan und seinem zweifelhaften Ruf als reiner Befehlsempfänger nicht der letzte Name auf dem Weg ins Jahr 2023 (dem 100. Jubiläumsjahr der Republik Türkei) sein. Sämtliche seiner Vorgänger waren in Ungnade gefallen, weil sie die von „Palast“ präferierte, bedingungslose lockere Geldpolitik nicht bis in jedwede Konsequenz durchgezogen haben. Seinem Vorgänger Naci Ağbal, dem Erdoğan auf Druck vorübergehend eine freiere Hand gelassen hat um die Kursverfall der Lira zu stoppen, wurde schließlich ebenfalls wegen einer weiteren Zinserhöhungen im März gefeuert. Wie zu erwarten musste Anfang Dezember zunächst aber erstmals Finanzminister Lütfi Elvan seine Koffer packen, ein dahingehendes Unikum des faschistischen Gruselkabinettes das zumindest noch durch ökonomischen Sachverstand auffiel und gelegentlich indirekt sein Unbehagen an der verheerenden türkischen Geldpolitik durchblicken ließ. Denn desaströse Folgen hin, erodierende Verhältnisse her, machte Erdoğan unlängst nochmals unmissverständlich klar: „Mit Leuten, die die Zinsen erhöhen wollen, kann ich nicht zusammenarbeiten“. Die türkische Währung ist unterdessen im ungebremsten Sturzflug und mit einem Wertverlust von 47% seit Jahresbeginn auf ein neues Rekordtief abgesackt.

Dafür verantwortlich, so der Autokrat am Bosporus, sei jedoch nicht seine abstruse Währungspolitik, sondern vielmehr eine ominöse internationale „Zinslobby“, gegen die er zuletzt sogar einen wirtschaftlichen „Befreiungskrieg“ ausrief. Denn, eine ominöse internationale Verschwörung würde die Unabhängigkeit der Türkei ins Visier genommen haben. „Was seid ihr für Menschen?“, rief er parallel den internationalen Anlegern zu, die aufgrund der taumelnden Lira zunehmend einen Bogen um das Land machen. „Wenn hier ein Befreiungskrieg geführt wird, kann es nur jener der arbeitenden Klasse gegen Ausbeutung und Sklaverei sein“, antwortete ihm zuletzt zu Recht Arzu Çerkezoğlu, Generalvorsitzende von DISK.

Nach einer Dekade des nationalistisch-chauvinistischen Taumels in dem Erdoğan das Land hält bzw. in das er es periodisch gejagt hat, der steten drakonischen Repressionswellen, Unterdrückungen und einer Kaskade entfesselter schmutziger Kriege, sowie des Umbaus der Türkei in eine Präsidialdiktatur, befindet sich das Land am Bosporus nun seit Jahren zusätzlich in einer manifesten wirtschaftlichen Dauerkrise. Die Arbeitslosigkeit liegt selbst nach den rigoros geschönten Daten des „Palasts“ bei über 12%, ist nach Angaben der großen Gewerkschaftsverbände parallel in Wirklichkeit aber auf über 25% emporgeklettert. Und auch die von der AKP seit Machtantritt 2002 angekurbelte Privatverschuldung der Massen, hat mittlerweile einen Plafond erreicht und zu einer dramatischen Verschuldung der privaten Haushalte geführt.

Der chronische Wertverfall der türkischen Währung führt aufgrund der hohen Abhängigkeit des Lands von Importen wiederum zu einer immer stärker explodierenden Inflation. Millionen Haushalte sind seit längerem in akuter Bedrängnis. Vielen steht das Wasser bis zum Hals. Die Teuerung ist auf 20% emporgeklettert, die Kosten für die Güter des täglichen Bedarfs wie Lebensmittel und Energie zogen überhaupt um 50% und mehr an. Allein die Miete zu berappen und zu Tanken, hat sich für viele zu einem regelrecht existentiellen Problem entwickelt. Grundnahrungsmittel von Brot und Milch über Butter, Nudeln, Gemüse bis Zucker und Eier, ja selbst Tee und Mehl, sind für die Massen kaum mehr erschwinglich. Preise für bestimmte Grundernährungsmittel wie Salatöl, haben sich mit einer Verteuerung um 130% gleich überhaupt mehr als verdoppelt. Aber auch Erdgas und Strom schlagen mit voller Wucht auf die an Kaufkraft immer weiter absackenden Einkommen durch. Da die allermeisten ArbeiterInnen lediglich den Mindestlohn verdienen, fordert die DISK mit allem Nachdruck eine Erhöhung des ohnehin kargen und aktuell zwischen Regierung und Tarifparteien in Verhandlung stehenden Mindestlohns. Während die 3.577 Lira Mindestlohn vor einem Jahr noch gut 400 Euro wert waren, entspricht dieser gegenwärtig nur mehr 230 Euro. Die Gewerkschaften fordern in seiner gerade stattfindenden Neuaushandlung daher jetzt 5.200 Lira. „Das ist unsere rote Linie“, so Arzu Çerkezoğlu namens der DISK nochmals.

Foto: DİSK – Devrimci İşçi Sendikaları Konfederasyonu

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