In Memoriam Hrant Dink

Heute vor 17 Jahren wurde Hrant Dink, Herausgeber der türkisch-armenischen Wochenzeitung „Agos“, in einem bis tief in den Staatsapparat hineinreichenden Komplott in Istanbul auf offener Straße erschossen. Das Motiv der Bluttat? Hrant Dink hat den ersten systematischen, staatlich geplanten und begangenen Genozid in Europa im 20. Jahrhundert offen beim Wort genannt. In der Türkei und ihrem Gründungsnarrativ wie aggressiven Nationalismus ein zu ahndendes „Verbrechen“. Denn, wie der verstorbene marxistische Historiker Werner Röhr schrieb: „Der Völkermord an den Armeniern war Gründungsmoment des gegenwärtigen türkischen Staates“, Bestandsstück des „türkischen Integritätsnationalismus der innerhalb der Nation keine inneren Differenzierungen anerkennen will, seien es ethnische, nationale oder religiöse“. Vor zwei Monaten, kaum zufällig kurz nach dem vorjährigen 100. Gründungstag der Republik Türkei, wiederum wurde Ogün Samast – der Mörder Hrant Dinks – (begründet mit guter Führung) aus der Haft entlassen.

Der Mord an Hrant Dink

Aufgepeitscht durch eine nationalistische Hetzkampagne und entfachte antiarmenische Pogromstimmung und sekundiert von einem Strafprozess wegen „Beleidigung des Türkentums“ gegen den 53-jährigen Journalisten, weil dieser den bis heute in der Türkei geleugneten Genozid an den ArmenierInnen in einer öffentlichen Erklärung als „Völkermord“ zur Sprache brachte, erschoss der nationalistische Fanatiker und Jungfaschist Ogün Samast den Herausgeber der zweisprachigen armenisch-türkischen Wochenzeitung Agos 2007 beim Verlassen des Redaktionsbüros. Augenzeugen der Bluttat hörten den Täter im Anschluss rufen: „Ich hab den Ungläubigen erschossen“. Hrant Dink galt nicht nur als die bekannteste Stimme der verbliebenen 80.000 ArmenierInnen in der Türkei, sondern auch als unbestechlicher Journalist und mutiger Streiter für die Meinungsfreiheit.

Die zwei Jahre davor erfolgte Verurteilung Dinks am 8. Oktober 2005 wegen „Beleidigung des Türkentums“ zu einer Bewährungsstrafe wiederum, basierte auf dem berüchtigten „Türkentum“-Paragrafen 301 und machte ihn zugleich zu einer öffentlichen, ja quasi offiziellen Zielscheibe. Das bestätigte auch sein Mörder, der später zu Protokoll gab, Hrnat Dink als Mordopfer insbesondere aufgrund dieser Verurteilung ausgewählt zu haben – schließlich sei durch die Verurteilung erwiesen gewesen, dass es sich bei Dink um einen „Feind der Türken“ handelte.

Bereits im unmittelbaren Anschluss an seine Ermordung demonstrierten am Abend des 19. Jänners 2007 abertausende Mitglieder der armenischen Gemeinde, GewerkschafterInnen, MenschenrechtsaktivistInnen und Linke in Istanbul und Ankara gegen die Bluttat. Unter den skandierten Losungen „Wir sind alle Hrant Dink, wir alle sind Armenier“ und „Schulter an Schulter gegen Faschismus“, aber auch: „Der Staat ist der Mörder“, strömten Massen zu den spontanen Kundgebungen und auf die Straßen. Das Begräbnis Hrant Dinks entwickelt sich dann zu einer wahren Manifestation der ‚anderen Türkei‘. Acht Kilometer lang soll sich der Trauerzug damals durch Istanbul zum armenischen Friedhof Balikli gezogen haben.

Schleier nicht gelüftet & die Rolle des sog. „Tiefen Staats“

Der Rechtsextremist und Mörder Hrant Dinks, Ogün Samast, der die tödlichen Schüsse abgab, wurde 2011 schließlich zu einer 22jährigen und 10-monatigen Haftstrafe verurteilt. Wenige Tage nach der Tat im Jänner 2007 verhaftet, wurde Samast letzten November nach 16jähriger und 10-monatiger Haft vorzeitig entlassen. „Nach seiner Festnahme“, wie ANF jüngst in Erinnerung rief, wurde er „auf einer Wache wie ein Held gefeiert. Die türkische Polizei schoss zusammen mit Ogün Samast ein gemeinsames Erinnerungsfoto mit der Türkei-Fahne. Der Polizist, der sich mit Samast auf dem Foto abbilden ließ, stieg später zum Generaldirektor der Polizei in der nordkurdischen Stadt Meletî (tr. Malatya) auf. Dort war Hrant Dink 1954 geboren worden.“ Die vorzeitige Freilassung Samsats steht ersichtlich als neue Chiffre des von Ankara bis heute geleugneten Genozid an den ArmenierInnen und der Erhebung dieser Leugnung zur Staatsdoktrin, mit schweren Strafen bei Verstoß gegen diese Raison.

Und das betrifft nicht „nur“ Samasts Haftentlassung. Schon mit den Hintermännern und Helfern des jungen Attentäters beschäftigte sich die türkische Justiz nur widerwillig. Bereits der Richter erlaubte nicht, das Verfahren auszudehnen, um die Hintermänner des Mordanschlags zu suchen. Zwar wurde später noch der Gülen-Anhänger und glühende Nationalist Yasin Hayal als unmittelbarer Anstifter der Tat, der Ogün Samast auch die Tatwaffe besorgte und aushändigte, zu lebenslanger Haft verurteilt. Im Dunklen blieben bisher jedoch die schon kurz nach dem Attentat zu lesenden Berichte, dass die Polizei umgehend Beweismittel, etwa ein Video einer Überwachungskamera vom Tatort, vernichtete oder die sich seit der Bluttat immer weiter häufenden Indizien der Verstrickung des türkischen Geheimdiensts in den Mordanschlag. Der Schütze Samast selbst beschuldigte später den früheren Polizeichef seiner Heimatstadt Trabzon, Ramazan Akyürek, sowie den damaligen Chef des Polizeinachrichtendienstes in Istanbul, Ali Fuat Yilmazer, als die wahren Hintermänner und sagte: „Sie haben mich den Mord ausführen lassen“ – was die zahlreichen Indizien für eine tief in den Staatsapparat hineinreichende Verschwörung nur zusätzlich bestätigte. Yasin Hayal, so Samast 2014, habe ihm versichert, dass die beiden Polizeioffiziere auf ihrer Seite ständen und für alles Sorge tragen würden. Seit dem Bruch und zwischenzeitlichen Machtkampf zwischen der AKP und der Gülen-Bewegung sind zwar einzelne tiefere Blicke hinter den über den Mord gebreiteten „dunklen Schleier“ (wie Dinks Angehörige es formulieren) ans Tageslicht getreten und weitere Verurteilungen erfolgt – und dass die nun als Terrororganisation eingestufte Fetö tief in die Verschwörung zur Hinrichtung Hrant Dinks involviert ist, steht außer Frage –, gelüftet ist der dunkle Schleier über die ganze Phalanx der Drahtzieher und Hintermänner sowie das staatliche Ausmaß an der Verschwörung aber noch lange nicht. Zumal schon kurz nach dem Attentat bekannt wurde, dass die türkischen Sicherheitsbehörden bereits elf Monate vor dem Mord an Dink von den Vorbereitungen dazu unterrichtet waren, unter anderem durch einen V-Mann.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entschied 2010 denn auch, dass die Regierung in Ankara in ihrer Verpflichtung versagt habe, Dinks Leben zu schützen. Die türkischen Sicherheitsbehörden Polizei, Geheimdienst und Gendarmerie sind über die Mordpläne türkischer Ultranationalisten an Hrant Ding informiert gewesen, haben aber nichts zu seinem Schutz unternommen – so der EMGR.

Noch im selben Jahr des Mordanschlags auf seinen Vater wurde auch Hrnat Dinks Sohn, Arat Dink, das Delikt des Verstoßes gegen den Paragraphen 301 zum Vorwurf gemacht und dieser am 11. Oktober 2007 für schuldig befunden, „das Türkentum beleidigt“ zu haben, weil er (zusammen mit Serkis Seropyan) ein Interview das Hrant Dink der Nachrichtenagentur Reuters 2006 gegeben hatte, veröffentlichte. Die Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt, da er bisher unbescholten war, wie es in der Urteilsbegründung hieß.

Die Wahrheit über den Völkermord steht indes bis heute als „Verbrechen gegen das Türkentum“ (lediglich im Wortlaut zwischenzeitlich im Zuge der EU-Beitrittsverhandlungen formaliter novelliert zur „Beleidigung/Herabsetzung der türkischen Nation“, des „türkischen Staates“) unter Strafe.

Warum?

Auf die Frage, warum die Türkei den Völkermord an den Armeniern auch nach über einem Jahrhundert so hartnäckig leugnet, antwortete der marxistisch orientierte britische Historiker Perry Anderson, ein intimer Kenner der türkischen Geschichte: „Die unerbittliche Weigerung des türkischen Staates, die Tatsache des Massenmordes an den Armeniern auf seinem Territorium anzuerkennen, ist … eine aktuelle Verteidigung der eigenen Legitimität. Denn der ersten großen ethnischen Säuberung, die Anatolien homogen muslimisch werden ließ, wenn auch noch nicht homogen türkisch, folgten kleinere Reinigungen des Staatskörpers, im Namen desselben integralen Nationalismus, und die dauern bis auf den heutigen Tag fort. Griechenpogrome 1955/1964; Annexion und Vertreibung der Zyprioten 1974; Ermordung von Aleviten 1978/1993; Unterdrückung der Kurden 1925 – heute‘“.

Oder nochmals in den resümierenden Worten Werner Röhrs: „Der Völkermord an den Armeniern war Gründungsmoment des gegenwärtigen türkischen Staates und hat mit diesem bis heute überdauert. Mit ihm wird auch seine ideologische Rechtfertigung reproduziert, nämlich jener türkische Integritätsnationalismus, der innerhalb der Nation keine inneren Differenzierungen anerkennen will, seien es ethnische, nationale oder religiöse. Minderheiten haben keine Reichte, weil es keine Minderheiten geben darf, ihre bloße Existenz gilt als ‚Beleidigung‘ der Integrität der türkischen Nation, die Einforderung ihrer Rechte als Straftatbestand.“

Wer sich dem widersetzt, dem und der droht justizielle Verfolgung, Mordhetze bzw. zur Zielscheibe einer extralegalen Hinrichtung zu werden. Und so gilt angesichts des für Ankara damit auch gerichtsnotorisch geschlossenen Kapitels – zumal noch vor der letztjährig erfolgten ethnischen Säuberung Bergkarabachs nach vorhergehendem Verdacht auf „(wertebasierten) Völkermord“ unter Stillschweigen des „Kollektiven Westens“ (Luis Moreno Ocampo, Ex-Chefankläger des IStGH, zur monatelangen Hungerblockade im Vorfeld des Exodus) – heute wie seinerzeit am 19. Jänner: „Wir sind alle Hrant Dink“!

 

Bild: Wikimedia Commons / cropped

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