Im kollektiven Gedächtnis der westeuropäischen Linken nie so richtig Wurzeln geschlagen, entfachte die Türkei ihre gesamte Geschichte hindurch blutige Massaker, Pogrome, politische Hexenjagden, offenen Terror, extralegale Hinrichtungen und schmutzige Kriege. Eine Kette an – ob zunächst als despotisch, kemalistisches, staatliches ‚Homogenisierungsprojekt‘ oder später nahtlos unter einer erneuerten militanten „türkisch-islamischen Synthese“ fortgesetzt – sich bis in die jüngere und aktuelle Geschichte ziehende Gemetzel, die zehntausende Opfer forderten: allen voran AlevitInnen, KurdInnen und Revolutionäre.
Vor diesem Hintergrund veranstaltet die Demokratische Gemeinschaftsplattform anlässlich der in die zweite Dezemberhälfte fallenden Jahrestage der Massaker von Maraş, Robosik und dem Gefängnismassaker vom 19.12.2000
kommenden Freitag, 22.12., Beginn: 18.30 Uhr, Wielandgasse 2-4, 1100 Wien, einen Gedenk-Panel, mit: Gülseren Yoleri, Ferhat Encü und M. Ali Cankaya
Und gedenken die Frei-Aleviten Niederösterreich dem Maras-Massaker kommenden Samstag, 23.12., um 15.00 Uhr, mit u.a. Özgür Turak (Vorsitzender der Frei-Aleviten Österreich), im AABF-Verein in Berndorf (Bogensbergergasse 1, 2560)
Das Maraş-Massaker vom 24.12.1978
Das Alevitentum begann sich im 13. Jdt. zu organisieren und zu institutionalisieren – wird aber in der Türkei bis heute nicht als eigenständige Religion anerkannt. Dementsprechend sahen sich die AlevitInnen – seit einer berühmt-berüchtigten Fatwa des 16. Jhdts. „als die minderwertigsten Menschen, die es überhaupt gibt“ bezeichnet – zeit ihrer Geschichte blutigen Massakern und Pogromen ausgesetzt. Eine Kette an Gemetzel, die sich in der jüngeren türkischen Geschichte vom Dersim-Massaker 1938 mit seinen über 70.000 Hingemordeten AlevitInnen sowie KurdInnen und über 100.00 in andere Landesteil Deportierten, über das sich heute jährende Massaker von Maraş 1978, über jene von Çorum 1980, Sivas 1993, bis zu Gazi 1995 zieht.
Auf den Tag genau vor 45 Jahren, am 19. Dezember 1978, begann in Maraş – mit Höhepunkt am 24.12. – eines jener Massaker gegen die AlevitInnen, dem heute breit gedacht wird. Das vom türkischen Staat, paramilitärischen Kräften orchestrierte und zusammen mit einem aufgestachelten Mob begangene Gemetzel dauerte bis zum 26. Dezember. 102 AlevitInnen wurden in diesem eine Woche andauernden Massaker viehisch hingemordert und massakriert. Ihr Vermögen beschlagnahmt, ihre Häuser und Geschäfte in Brand gesteckt und zerstört. Schwangeren Frauen wurden in diesem bestialischen Treiben ihre Kinder aus dem Leib geschnitten. Viele Einzelheiten des damaligen Verbrechens sind an Grausamkeit kaum zu überbieten.
In welche Kontinuitätslinie sich das Massaker von Maraş dabei bis in das heutige AKP/MHP-Regime der Türkei einordnet, zeigt nicht nur dessen eigene brachiale Unterdrückungs- und Verfolgungspolitik gegen das Alevitentum, sondern bewies im Februar 2020 auch nochmals die skandalöse Begnadigung von Ahmet Turan Kılıç, eines der Drahtzieher und Täter des späteren Sivas-Massakers. Der Aleviten-Schlächter Kılıç wurde später wegen des Massenmordes zunächst zum Tode verurteilt und seine Strafe nach der Abschaffung der Todesstrafe in lebenslängliche Haft umgewandelt. Im Frühjahr 2020 hat ihn Erdoğan begnadigt. Während gegen die linke, kurdische, gewerkschaftliche und demokratische, sowie nicht zuletzt alevitische Opposition ungebrochen eine regelrechte Hexenjagd durchs Land am Bosporus rollt, lebt der Sivas-Schlächter wieder auf freiem Fuß. Vor einem Monat, Mitte November, wiederum folgte der nächste Peitschenschlag gegen die Opfergruppen in der Türkei. Dieses Mal gegen die ArmenierInnen. Nur kurz nach der mit maßgeblicher Unterstützung der Türkei ins Werk gesetzten ethnischen Säuberung Bergkarabachs wurde Ogün Samast – der Mörder des bekannten armenischen Journalisten Hrant Dinks (der von jenem am 19. Jänner 2007 auf offener Straße erschossen wurde) – vorzeitig aus der Haft entlassen. Eine offene Verhöhnung der alevitischen sowie armenischen Opfer sämtlicher Pogrome und Massaker sowie des historischen Genozids an den ArmenierInnen 1915/16 (eines der dunkelsten Kapitel der Geschichte des 20. Jhdt. in Europa) und zugleich politisches Kalkül Erdoğans.
Das Roboski-Massaker vom 28.12.2011
Desselben gedenken wir dieser Tage dem Massaker von Roboski am 28.12. 2011, in welchem die türkische Luftwaffe 34 junge kurdische Zivilisten, darunter 18 Kinder, das jüngste gerade einmal 12 Jahre alt, zerbombte. Wie kein anderes Land stehen die Türkei und Kurden-Schlächter Erdoğan denn auch für die Diskriminierung, Verfolgung, Unterdrückung und Vernichtung der KurdInnen. Mit Beihilfe der Informationen einer US-amerikanischen Drohne über Bewegungen am türkisch-irakischen Grenzgebiet die seitens der USA an den NATO-Partner übermittelt wurden, nahmen türkische Kampfjets unmittelbar Kurs auf zivile DorfbewohnerInnen, die auf Eseln Waren transportierten, und fackelten nicht lange. Obwohl sich umgehend herausstellte, dass es sich bei den Ermordeten um eine Gruppe junger Zivilisten handelte die vom Grenzhandel lebten, lehnte das AKP-Regime jede Entschuldigung für das Massaker ab und strengte stattdessen vielmehr immer weitere Prozesse gegen die Angehörigen der Opfer an.
Der prominenteste Angehörige ist sicherlich der spätere HDP-Abgeordneten Ferhat Encü. Dieser verlor durch den Luftangriff seinen Bruder und zahlreiche weitere Verwandte. Nach dem Bombardement brach er sein Studium ab und ging in die Politik. Für die linke, pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) zog er 2015 ins türkische Parlament ein. Im November 2016 wurde er dann wie so viele andere wegen angeblicher „Unterstützung des Terrorismus“ verhaftet, nach drei Monaten freigelassen, um dann im Februar 2017 erneut festgenommen zu werden. Im Februar 2018 wurde ihm – wie zahlreichen anderen HDP-ParlamentarierInnen – sein Abgeordnetenmandat aberkannt. Erst im Juni 2019 wurde er schließlich aus der Haft entlassen. Die Opfer von Roboski sind jedoch ebenso wenig vergessen wie jene von Maraş.
Das Gefängnis-Massaker vom 19.12.2000
Und wir gedenken am ebenfalls heutigen Jahrestag nachdrücklich den Gefängnis-Massakern von 2000. Heute vor 23 Jahren, am 19. Dezember 2000 stürmten auf Befehl der türkischen Regierung Ecevit Polizeieinheiten die türkischen Gefängnisse, um den Hungerstreik linker, revolutionärer, politischer Gefangener gegen ihre Verlegung in die berüchtigten Typ-F-Isolationsgefängnisse zu brechen. Ein von Tausenden getragener Widerstand. Die brutalen türkischen Gefängnisbedingungen der 90er Jahre sind ebenso berüchtigt, wie die Typ-F Isolationshaft, von Menschenrechtsorganisationen als „weiße Folter“ bezeichnet. 132 linke, politische Insassen und Revolutionäre fielen der Polizeibrutalität zum Opfer und wurden massakriert, Dutzende und Aberdutzende weitere in den 21 angegriffenen Gefängnissen verletzt. Zahlreiche Überlebende des Gefängnissturms wurden im Anschluss schwer misshandelt und gefoltert. Selbst eine vom türkischen Justizministerium berufene Expertenkommission prangerte »schwere Übergriffe« der Sicherheitskräfte an – ohne dass allerdings je Verantwortliche oder Täter dafür zur Rechenschaft gezogen wurden.
Die revolutionäre ArbeiterbeiterInnenbewegung, Linke und die „Verdammten dieser Erde“ (Frantz Fanon) werden weder vergessen, noch zurückweichen – sondern den Kampf um Freiheit und Selbstbestimmung solange führen, bis alle Unterdrückungs- und Ausbeutungsverhältnisse umgestaltet, umgeworfen sind! Und dann tatsächlich das Wort Goethes zugleich in der Realität seine Entsprechung finden können wird: „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut!“