Die Geschichte der Türkei und deren despotisches, kemalistisches, staatliches ‚Homogenisierungsprojekt‘, später nahtlos unter einer erneuerten militanten „türkisch-islamischen Synthese“ fortgesetzt, ist zugleich die Geschichte von Massakern, Pogromen und der Hexenjagd gegen Minoritäten – beiweilen nicht zuletzt gegen das Alevitentum. Dementsprechend sahen sich die AlevitInnen zeitlebens blutigen Massakern ausgesetzt. Nicht zuletzt dem vom türkischen Fernsehen stundenlang live übertragenen Sivas-Massaker von 1993, dem Dutzende AlevitInnen zum Opfer fielen.
Am 14. September fällte der Oberste Strafgerichtshof in Ankara nach vorhergehender absichtlicher justizieller Verschleppung im heurigen 30. Jahr des Pogroms nun das skandalöse Urteil: Das Sivas-Massaker soll als verjährt eingestuft werden, was eine weitere juristische Verfolgung der Täter und Verantwortlichen (die trotz einer Vielzahl an Beweisen bislang ohne jegliche Konsequenzen in der Türkei, aber auch in Deutschland ein ruhiges Leben führen) verunmöglicht. Dass Kanzler Karl Nehammer, der wie in anderem Kontext bereits gesagt, kommenden Dienstag in Ankara auf Staatsbesuch ist, dieses skandalöse Urteil auch nur anspricht, ist freilich ebenso wenig zu erwarten. Auf der Agenda stehen vielmehr NATO-Kooperations-Fragen, Fluchtabwehr, Kriegsfragen und wirtschaftspolitische Themen.
Entsprechend erbost rufen die Frei-Aleviten Österreichs auch alle Demokraten diesen Samstag, 7.10., 15.00 Uhr (Treffpunkt: vor der Wiener Staatsoper) zur Demonstration bzw. solidarischen Beteiligung „Gegen das Gerichtsurteil der Verjährung des Massakers in Sivas“ auf.
„Wir weigern uns zu akzeptieren, dass dieses verheerende Fehlurteil die Erinnerung an das Sivas-Massaker auslöschen soll. Massaker dürfen niemals verjähren und die Opfer verdienen Gerechtigkeit“, zeigt sich der Vorstand der Föderation der Aleviten in Österreich emport. „Wir wollen eine Antwort auf die Frage, wer die wahren Verantwortlichen dieses Gewaltaktes sind.“
„Wir können und werden nicht dulden, dass der türkische Staat, der einst passiv dem Brand in Sivas zusah, nun die Täter schützt. Gerechtigkeit ist unser unveräußerliches Recht und wir werden mit unerschütterlicher Entschlossenheit dafür kämpfen, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden“, so der Sprecher der Frei-Aleviten für die in Österreich lebenden Alevit*innen weiter.
Vor diesem Hintergrund erinnern wir als KOMintern begleitend denn auch nochmals näher an das viehische Sivas-Massaker:
Das Sivas-Massaker 1993
Am 2. Juli 1993 versammelten sich zahlreiche Intellektuelle, SchriftstellerInnen, Kulturschaffende und JournalistInnen, vorwiegend alevitischen Glaubens – am Geburtsort des Ende des 16. Jahrhunderts hingerichteten alevitischen Gelehrten und Dichters Pir Sultan Abdal – in Sivas.
Die Veranstaltung wurde daraufhin – auf dem gleichzeitigen Hintergrund einer neu entfachten militant nationalistischen Welle am Bosporus – von einem aufgeheizten und islamistisch-faschistisch aufgepeitschten Lynchmob Tausender angegriffen und auf das Madımak-Hotel, in dem diese stattfand, ein Brandanschlag verübt. Gleichzeitig hinderte der Mob die Veranstaltungs-TeilnehmerInnen an der Flucht aus dem Feuer. 33 TeilnehmerInnen des alevitischen Festivals und 2 Hotelangesellte verbrannten in den Flammen. Das jüngste Opfer, Koray Kaya, war erst 12 Jahre alt.
Das Massaker als Live-Event im TV und staatliche Konterguerilla
Die damalige Regierung Çiller hat das Massaker 8 Stunden lang live über die Fernsehsender ausstrahlen lassen. Obwohl die Sicherheitskräfte die Möglichkeit in der Hand gehabt hätten, einzuschreiten und das geplante Massaker zu verhindern, haben sie das Pogrom untätig zugelassen. Ja, zahlreiche Angehörige der staatlichen Konterguerilla haben sich vielmehr noch unter den Pogrommob gemischt, um diesen zu Übergriffen auf die traditionell als links geltende religiöse Minderheit der Aleviten anzustacheln und voranzupeitschen. Demensprechend ließen die anwesende Polizei und Feuerwehr die Marodeure auch gewähren und griffen erst ein, als der Spuck sein Ziel erreicht hatte.
Eine Kriegserklärung an alle Andersdenkenden
Das Sivas-Massaker an den AlevitInnen war darüber hinaus zugleich eine viehische Drohung an alle Andersdenkenden, kämpferisch-progressive Bewegungen und Linke, sowie den kurdischen Freiheitskampf. Entsprechend hob auch der der Ko-Vorsitzende des alevitischen Verbandes DAD in Ankara, Mustafa Karabudak, vor wenigen Jahren hervor: „Damals, als das Massaker stattfand, gab es eine Koalitionsregierung, die sich politisch festgefahren hatte. Es gab wichtige Entwicklungen im kurdischen Freiheitskampf. Es fanden Arbeitskämpfe statt und auch die Studierenden waren auf der Straße. Es ging dem Staat bei dem Massaker darum, die Massen zum Schweigen zu bringen.“
Mörder auf freiem Fuß – Drahtzieher begnadigt
Die Mörder von Sivas hingegen laufen überwiegen immer noch auf freiem Fuß und völlig unbehelligt herum. Mehr noch: Ahmet Turan Kılıç, einer der Drahtzieher und Täter des Sivas-Massakers sowie einer der wenigen Beteiligten die zur Rechenschaft gezogenen wurden, wurde Anfang Februar vorvorletzten Jahres von Erdoğan überhaupt begnadigt.
Ahmet Turan Kılıç, maßgeblicher Hintermann des Massakers, der den 2. Juli 1993 wie ein tödlicher Odem (mit-)orchestrierte, wurde später wegen Massenmordes zunächst zum Tode verurteilt und seine Strafe nach der Abschaffung der Todesstrafe in lebenslängliche Haft umgewandelt.
Während gegen die linke, kurdische, gewerkschaftliche und demokratische, sowie nicht zuletzt auch alevitische Opposition ungebrochen eine regelrechte Hexenjagd durchs Land am Bosporus rollt und Ankara zum institutionellen Frontalangriff auf HDP, sprich: deren Verbot, geblasen hat (die sich explizit als zugleich auch linkes Sprachrohr und politische Vertretung der Rechte und Interessen der unterdrückten religiösen Gruppen, insbesondere AlevitInnen versteht), hat der „Palast in Ankara“ den Sivas-Schlächter demgegenüber vor 3 Jahren demonstrativ und medienwirksam auf freien Fuß gesetzt. Eine offene Verhöhnung der alevitischen Opfer, die mit dem nunmehrigen Skandal-Urteil des Obersten Strafgerichtshofs in Ankara das Massaker überhaupt als verjährt einzustufen, ihren Höhepunkt findet.