Das ADGB (Bündnis der demokratischen Kräfte – Europa) ruft zum gemeinsamen Kampf gegen das Anwachsen des Faschismus in Europa, der Türkei und weltweit auf. Wir dokumentieren unser Rede, die wir heute beim Kampagnen-Auftakt in Wien gehalten haben.
Das faschistische AKP/MHP-Regime in der Türkei befindet sich handgreiflich in einer tiefen, multiplen Krise. Um sich über Wasser zu halten, jagen die politischen Machthaber das Land erneut unter ihrer ideologischen „türkisch-islamischen Synthese“ in einen chauvinistisch-nationalistischen Taumel, schmutzige Kriegszüge gegen Kurdistan und einen brachialen und rigorosen Frontalangriff auf die Linke und Fortschrittskräfte – mit Hauptstoß gegen die linke, pro-kurdische HDP, deren Verbot noch nie so nahe war wie heute.
Dies, nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund des immer weiteren Abrutschens des Landes in eine wirtschaftliche, soziale und gesundheitspolitische Dauerkrise. Nach anfänglicher Leugnung der Corona-Gefahr – und absonderlichen Fernsehdebatten, ob nicht ein spezielles „Türken Gen“ immun gegen Covid19 mache –, schwenkte das Regime danach auf eine dilettantische, offen viel stärker der Profit-Logik verpflichteten und nationalistisch aufgeladene Corona-Politik („Türken helfen Türken“) um. Um „die Wirtschaft“ und das Geschäftsleben beispielsweise nicht allzu stark zu berühren, wurden und werden die allgemeinen Ausgangssperren vornehmlich auf die freien Wochenenden und Feiertage gelegt. Auch die altersgestuften, generelle Ausgangsbeschränkungen bzw. –sperren, folgen exakt den ökonomischen Verwertungsinteressen, aber keinerlei epidemiologischer Logik. So folgten den Ausgangssperren für die für den Produktions- und Verwertungsprozess bereits „überflüssigen“ PensionistInnen bzw. Menschen über 65 Jahren, jene für die dafür nur von sekundärer Bedeutung seienden unter 20-Jährigen nach.
Zeitgleich befindet sich das Land allerdings bereits seit drei Jahren in einer manifesten Wirtschaftskrise, die sich durch die Corona-Pandemie nur nochmals zusätzlich verschärfte. Die Arbeitslosigkeit liegt selbst nach offizieller Statistik bei 13% – nach Angaben der großen Gewerkschaftsverbände (um statistische Tricks bereinigt) jedoch mindestens doppelt so hoch. Die Lira befindet sich seit Jahren im Niedergang und ist nach einer vorübergehenden, leichten Stabilisierung, nach dem neuerlichen politischen Austausch des Zentralbank-Chefs (TCMB), gerade abermals abgestürzt. Der Kurs der türkischen Lira verlor am Tag der Abberufung des TCMB-Chefs von seinem Posten exorbitante 15% an Wert und riss die Istanbuler Börse gleich mit in den Abgrund. Der chronische Wertverfall der türkischen Lira wiederum, führt aufgrund der hohen Abhängigkeit der Türkei von Importen zu einer steten, hohen Inflation. Entsprechend bewegt sich diese seit Jahren im zweistelligen Bereich und liegt aktuell bei knapp 16%. Besonders unter Druck stehen dabei die Güter des täglichen Bedarfs. Millionen Haushalte stehen damit in akuter Bedrängnis. Die Löhne und Gehälter bleiben immer weiter hinter den Lebenshaltungskosten und Preisniveau zurück. Und auch die von der AKP seit Machtantritt 2002 angekurbelte Privatverschuldung der Massen, hat mittlerweile einen Plafond erreicht und hat zu einerdramatischen Verschuldung der privaten Haushalte geführt. Die Unzufriedenheit in der türkischen Gesellschaft wächst entsprechend quer durch Bevölkerung.
Dieser Unmut entlud sich zuletzt auch in den kraftvollen Boğaziçi-Protesten der Studierenden und der Jugend des Landes, die den Machthabern in Ankara die Angst vor einem neuen Gezi-Aufstand ins Gesicht trieb. Dementsprechend brachial ging das Regime am Bosporus unbehelligt von der internationalen Gemeinschaft mit bewaffneten Hundertschaften der Polizei, Gummigeschossen, Wasserwerfern, Tränengas und Schlagstöcken gegen die Boğaziçi-Proteste vor, stürmen mit schwerbewaffnete Antiterroreinheiten Studierendenwohnungen und Wohnheime und verhaften auf breiter Front junge Menschen und StudentInnen – die Erdoğan wie gewohnt als „Terroristen“ und „giftige Schlangen, deren Kopf zermalmt werden muss“ gelten.
Parallel trachtet das Regime mit forcierter Kraftanstrengung, zugleich die Emanzipation der Frauen und erstarkende Frauenbewegung zurückzudrängen. Vor wenigen Wochen trat das Land in diesem Zusammenhang bekanntlich per Präsidialdekret Recep Tayyip Erdoğans aus der Istanbuler Konvention für Frauenrechte aus.
Diese internationale Vereinbarung zur Eindämmung, Bekämpfung und Verhütung von Gewalt an Frauen wurde 2011 vom Europarat ausgearbeitet und auf einem Kongress in der türkischen Metropole verabschiedet, um einen europaweiten Rechtsrahmen zu schaffen. Unter „Gewalt gegen Frauen“ fällt dabei zu Recht nicht nur körperliche Gewalt, sondern auch geschlechtsspezifische Diskriminierungen, psychische Einschüchterungen oder wirtschaftliche Ausbeutung.
Dass Erdoğan diese erste internationale völkerrechtsverbindliche Konvention gerade inmitten der grassierenden Corona-Pandemie suspendiert, bildet dabei eine besondere Provokation, stieg in dieser die Gewalt an Frauen doch nochmals in all ihren Dimensionen. Entsprechend zählte die Plattform „Wir werden Frauenmorde stoppen“ (KCDP) in der Türkei alleine im vergangenen Jahr 300 Femizide. Und registrierte seit Anfang dieses Jahres weitere rund 80 Frauenmorde. Hinzu kommen Fälle hunderter Frauen, die auf verdächtige Weise tot aufgefunden worden sind.
Gleichviel hält dieser reaktionäre Backlash nicht nur in der Türkei Einzug. Auch nicht die Istanbuler Konvention betreffend. So kündigte etwa bereits im Vorjahr die rechts-konservative polnische Regierung an, einen Austritt aus der Vereinbarung anzustreben und ist gerade bestrebt einen gesetzlichen Gegenentwurf auf den Weg zu bringen. Die EU-Länder Ungarn und die Slowakei wiederum haben die Konvention bis heute erst gar nicht ratifiziert. Selbiges gilt auch für Tschechin, Bulgarien, Lettland und Litauen. Und auch in Kroatien nehmen die Kräfte und Bestrebungen eines Austritts zu.
Im Kontext dieser europaweiten Verschiebungen des politischen Koordinatensystems nach rechts, ging auch dem türkischen Aus der Konvention eine von einer religiös-konservativen Plattform losgetretene, mehrmonatige Debatte voraus, die in der Istanbuler Vereinbarung in ihrem anachronistischen Weltbild eine Gefährdung der „Religion“, „Ehre“ und des „Anstands“ sah.
Aber ebenso, wie sich etwa die Frauenbewegung Polens vehement gegen diesen Backlash und den von der Regierung vorangetriebenen Gegenentwurf »Ja zur Familie, nein zu Gender« stemmt, kämpfen die Frauenbewegung, progressiven Fortschrittskräfte und die Linke in der Türkei wie auch in Österreich unbeirrbar und unnachgiebig für die Verteidigung der Frauenrechte und die Emanzipation der Frauen sowie aller LGBTIQ+ (von Reaktionären wie dem türkischen Innenminister Süleyman Soylu schlicht als „Perverslinge“ verunglimpft). Freilich unter je verschiedenen gesellschaftlichen Bedingungen und politischen Lagen, wie gerade die jüngsten Massenverhaftungen und wogende Repressionswelle gegen die Frauenstrukturen und den Verein Rosa in Amed, sowie Polizeibrutalität gegen die Protestdemonstrationen gegen den Austritt aus der Istanbuler Konvention deutlich vor Augen führen.
Aber die Regentschaft Erdoğans ist durchgängig auch mit harten Arbeits- und Streikkämpfen der Werktätigen konfrontiert.Schon das Jahr 2015 markiert diesbezüglich nicht nur den erstmaligen Verlust der absoluten Parlamentsmehrheit der AKP, sondern ist auch unauflöslich mit der als „Metallsturm“ bezeichneten Streikwelle im Metall- und Automobilsektor der Türkei verbunden. Und auch seither ebben die Streiks und Arbeitskämpfe nicht ab, sondern flammen weiter kontinuierlich auf. Sei es jener bei Süperpark(ein Tochterunternehmen des österreichischen Kartonweltkonzerns Mayr-Melnhof), der bei Nestle, oder jenem der ArbeiterInnen bei Flormar(ein Tochterunternehmen von Yves Rocher), bis hin zum mit Wasserwerfern, Tränengas, Spezialeinheiten der Polizei und Massenverhaftung hunderter Streikender niedergeschlagenen Bauarbeiterstreik am neuen Flughafen Istanbul oder dem seit über 1.000 Tagen währenden Streikkampf der Cargill-Arbeiter. Daran vermochte auch der über das Land verhängte Ausnahmezustand und dasdamit einhergehende faktische Streikverbot oder dem per Dekret unter seine Kontrolle gestellten „Staatlichen Aufsichtsrat“, mit welchem der „Palast“ in Ankara die Gewerkschaften ins Visier nahm, nichts zu ändern Und das selbst unter diesen Ausnahme-Bedingungen gewerkschaftliche Kämpfe gewinnbar bleiben, zeigt der erst eineinhalb Jahre zurückliegende, monatelange Arbeitskampf der Metallarbeiter in Bursa – zugleich Zentrum der Autoindustrie in der Türkei – mit seinen errungenen Lohnerhöhungen von bis zu 30%. Denn auch die Macht des Arbeitskampfes lässt sich nicht per Ausnahmezustand ersticken – wenngleich sich der gewerkschaftliche Organisationsgrad leider im rapiden Abnehmen befindet.
Der gegenwärtige politische Hauptstoß des in eine tiefe Hegemoniekrise geschlitterten AKP/MHP-Faschismus in der Türkei bildet freilich der institutionelle Frontalangriff auf die HDP.
Nachdem in den vergangenen Jahren bereits über 16.500 Mitglieder und AktivistInnen der linksdemokratischen HDP inhaftiert wurden, Abgeordnete und BürgermeisterInnen reihenweise ihrer Ämter enthoben wurden bzw. ihr Mandat entzogen wurde, fordert der Vorsitzende der faschistischen MHP und Koalitionspartner Erdoğans, Devlet Bahçeli, seit Anfang dieses Jahres vom türkischen Kassationsgerichtshof das direkte Verbot der oppositionellen HDP. Wenig später wetterte dann auch der 1. Berater von Erdoğan – Fahrettin Altun – parallel zur taggleichen Verhaftungswelle von weiteren 718 HDP‘lerInnen im Land in dieselbe Richtung, flankiert von einer kurz drauf durch Innenminister Süleyman Soylu (AKP) losgetretenen breiten medialen Hetzkampagne gegen die Partei der Völker.
Entsprechend droht aktuell nicht nur über zwei Duzend weiteren Abgeordneten der HDP akut die Aufhebung ihrer parlamentarischen Immunität, um sie u.a. im für 25. April angesetzten „Kobanê-Prozess“ auf die Anklagebank zu zerren. Mit dem jüngst von der Erdoğan und Bahçeli hörigen Oberstaatsanwaltschaft der Türkei eingereichten Verbots-Antrag gegen die HDP beim Kassationsgerichtshof, steht schlicht der finale institutionelle Frontalangriff gegen die linke, pro-kurdische Partei der Völker bevor.
Ein Verbot der HDP durch den „Palast“ in Ankara und seine willfährige Justiz ist damit heute so nah wie noch nie – gefolgt von einer dann noch drakonischeren Abrechnung und Hexenjagd auf die damit für endgültig vogelfrei erklärte Linke des Landes.
Und während sich die EU in Sonntagsreden „ernsthaft besorgt“ über die zunehmenden Repressionen gegen die HDP und deren angestrebtem Verbot, die hartnäckige Nichtumsetzung von EMGR-Urteilen, der Menschenrechtslage oder Suspendierung der Istanbuler Frauenrechts-Konvention zeigt, bestimmt in der Realität eine zynische Appeasementpolitik das Handeln „des Westens“.
Fände Vergleichbares in anders gelagerten Ländern statt, hätten die EU und Österreich bereits den Botschafter einbestellt, Sanktionen auf den Weg oder ins Spiel gebracht und die Türkei zum Unrechtsstaat erklärt. Nicht so im Falle des Bündnis- und NATO-Partner des Westens, dessen autokratischem, staatsterroristischen und neo-osmanischem Streben man sich vielfach ausgeliefert hat und dessen Kriegszüge und Militärmissionen ohne Grünes Licht seiner westlichen Verbündeten hinter den Kulissen gar nicht vorstellbar wären.
Entsprechend unberührt von alledem reisten letzte Woche auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Ratspräsident Charles Michel in die Türkei, um den Autokraten am Bosporus, Recep Tayyip Erdoğan, die Visite abzustatten. Mit im Gepäck für den Gastgeber hatten die beiden neben weiteren Milliardenschweren Finanzhilfen im Zusammenhang des schmutztriefenden EU-Türkei Flüchtlings-Deals, eine neue Agenda zur verstärkten Wirtschaftszusammenarbeit. Andere Punkte standen nicht auf der Tagesordnung des Reisplans. Selbst auf die ansonsten nicht fehlen dürfenden „Redebausteine“ Brüssels verzichtete man. Einzig die offene Brüskierung in der sog. „SofaGate“-Affäre stieß den EU-Granden etwas sauer auf.
Aber Business as usual. Und, um es mit Mithat Sancar, Prof. für Völkerrecht und Parlaments-Abgeordneter der HDP, auszudrücken: Erdogan, die AKP und MHP sind Teil der `internationalen Rechten´ – auch wenn sich deren Protagonisten „gegenseitig nicht mögen“. Und ansonsten bleibt man/frau ob der leicht schiefen Optik ja weiterhin „besorgt“.
Für die Linke, für AntifaschistInnen und InternationalistInnen wie erst recht für die revolutionäre Arbeiterbewegung der Welt kann es dagegen nur heißen:
# Alle zusammen gegen den Faschismus!
# Faşizme karsı omuz omuza!
# Hoch die Internationale Solidarität!
# Yaşasın enternasyonal dayanısma!