„Mein ganzes Leben war ein Kampf“ (Sakine Cansız) – Zum 10. Jahrestag der Attentate in Paris

Am Montag jährt sich der 10. Jahrestag der von langer Hand vorbereiteten Morde an Sakine Cansız, Mitbegründerin der PKK und führende Repräsentantin der kurdischen Frauenbewegung, der Vertreterin des Kurdischen Nationalkongresses Fidan Doğan, und der Aktivistin der kurdischen Jugendbewegung Leyla Şöylemez. Die drei Revolutionärinnen wurden am 9. Januar 2013 in den Räumlichkeiten des Pariser Kurdistan-Informationsbüros durch gezielte Kopfschüsse aus nächster Nähe regelrecht hingerichtet. Mit dem heimtückischen Anschlag vom 23. Dezember auf das Ahmet-Kaya-Kulturzentrum gewinnt der Jahrestag nochmals zusätzlich an Brisanz.

Erschossen wurden die drei Revolutionärinnen vor einem Jahrzehnt von Ömer Güney, ein in die kurdischen Strukturen eingeschleuster Anhänger der faschistischen Grauen Wölfe, auf direkten Mordbefehl aus Ankara. Zwischenzeitlich bekannt gewordene Dokumente und Aussagen erweisen eindeutig, dass die Operation zur Ermordung von Sakine Cansız von dem MIT-Funktionär Sabahattin Asal geleitet worden war. Cansız galt schon zu Lebzeiten als Legende. Ihre in zwei Bänden erschienen Erinnerungen „Mein ganzes Leben war ein Kampf“ wiederum geradezu als ein ‚Muss‘ für alle, die sich ein ansatzweises Verständnis des Konflikts, der Verhältnisse und des kurdischen Freiheitskampfes verschaffen wollen. Der Prozess gegen – den allerdings einzig Angeklagten und den französischen Behörden bekanntermaßen schwer kranken – Ömer Güney wurde jedoch so lange verschleppt, dass dieser im Dezember 2016 wenige Wochen vor dem beständig verschobenen und zuletzt für den am 23. Jänner 2017 angesetzten Termin unter bis heute rätselhaften Umständen in Untersuchungshaft verstarb. Genauer gesagt wurde er aufgrund seiner Krankheit am 19. Dezember 2016 aus der Haft entlassen und war kurz darauf tot. Offiziell verstorben an einem Gehirntumor. Das Verfahren wurde daraufhin eingestellt, womit die Hintermänner und Hintergründe dieser extralegalen politischen Hinrichtung mitten im Herzen Europas im Detail im Dunkeln blieben und Frankreich einem Konflikt mit der Türkei ausweichen konnte. Erst 2019 wurden die Ermittlungen, nunmehr auch explizit gegen den türkischen Geheimdienst, wieder aufgenommen – bislang jedoch ohne Ergebnis und Aufklärung, obwohl eine Reihe Hintermänner auch namentlich bekannt sind. Denn die Ermittlungsakten und Geheimdienstdokumente werden von Frankreich bis heute als geheim klassifiziert und unter Verschluss gehalten.

Entsprechende Skepsis herrscht denn auch über das neuerliche Einzeltat-Narrativ der Morde an Emine Kara, Mehmet Şirin Aydın (Mîr Perwer) und Abdurrahman Kızıl vom 23. Dezember im selben Stadtviertel. Zumal in Paris, dem Zentrum der ausländischen Konterguerilla der Türkei, sowie vor dem Hintergrund, dass auch nach den Hinrichtungen 2013 zunächst das Narrativ eines psychisch labilen Einzeltäters präsentiert wurde. Amed Dicle hat die Fragen dazu jüngst auf ANF zusammengefasst: So ist der Schütze William M. erst am 12. Dezember aus dem Gefängnis entlassen worden und hätte unter polizeilicher Aufsicht stehen müssen. Wie also soll er innerhalb von zehn Tagen den Anschlag planen und sich Schusswaffen und Munition besorgt haben können? Offen ist zudem, wer ihn zum Tatort gefahren hat. Wessen Auto war das? Wer hat ihn dort abgesetzt? Zum Zeitpunkt des Angriffs sollte im Kulturzentrum eigentlich eine Versammlung anlässlich des Gedenkens an Sakine Cansiz, Fidan Doğan und Leyla Şöylemez stattfinden. Wusste er davon und wenn ja, wie ist er an diese Information gekommen.

William M. griff neben dem Avesta-Café auf der gegenüberliegenden Straßenseite auch einen rund hundert Meter entfernten Friseursalon an, wo er schließlich von den Anwesenden überwältigt werden konnte. Beide Orte sind eng mit dem Kulturverein verbunden, dazwischen liegen zahlreiche weitere Geschäfte. Daraus ergibt sich umso mehr die Frage, wie von einem rein rassistisch motivierten Verbrechen und nicht einem gezielten Anschlag auf die kurdische Bewegung ausgegangen werden könne. Und wie fügen sich die bereits bisher bekannten Informationen in die Erzählung ein, dass es sich um den Angriff eines Einzeltäters handelte. Und wie ist die Aussage des türkischen Innenminister Süleyman Soylu zu werten, der in Anspielung auf den Anschlag von Paris sogleich zynisch von sich gab: „Tayyip Erdogan wird nicht nur die Terroristen in der Türkei neutralisieren, sondern alle Terroristen in der Welt.“

Emine Kara (Kampfname Evîn Goyî) wiederum, das von der YPJ gewürdigte „mutige Herz“, war – wie vor einem Jahrzehnt schon Sakine Cansız – nicht sozusagen „irgendwer“, sondern galt als eine der Pionierinnen des Frauenbefreiungskampfes. Sie hat sich mit 14 Jahren der PKK angeschlossen und als widerständige Kurdin seit dreieinhalb Jahrzehnten für die der Freiheit der Frauen und die Rechte des kurdischen Volkes eingesetzt. Evîn Goyî engagierte sich dabei in allen Teilen Kurdistans für die kurdische Sache, hat unter anderem in Nordsyrien als Kommandantin gegen den „IS“ gekämpft und war bis zuletzt eine Führungspersönlichkeit der kurdischen Frauenbewegung.

Allerdings: Es steht zu befürchten, dass die heimtückischen Morde vom Dezember ähnlich behandelt und hinsichtlich einer Verstrickung der faschistischen AKP/MHP-Koalition Ankaras abermals unter dem Tisch gekehrt werden könnten, wie die Hinrichtungen des MIT vor 10 Jahren.

Umso entschiedener fordert der kurdische Dachverband KCDK-E denn auch eine lückenlose Aufklärung – sowohl des aktuellen heimtückischen Attentats von Paris, wie der Hinrichtungen auf Befehl Ankaras vor 10 Jahren. Eine Einzeltat des 23. Dezembers ist äußert unwahrscheinlich, die extralegalen Hinrichtungen des 9. Jänners 2013 harren immer noch ihrer politischen und justiziellen Aufarbeitung sowie Zu-Ende-Führung und gar manches spricht zudem für eine neue Ära der Eskalation Erdoğans auch in Westeuropa.

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