Über 4.000 Jahre hinweg bildete China – zusammen mit Indien – das führende ökonomische Zentrum der Welt. Vor ihrer kolonialen Unterwerfung, Ausplünderung und Degradierung zu Armenhäusern stellten sie den Löwenanteil des Welt-BIP. „Mittel- und Westeuropa“ dagegen, für die antiken Griechen noch Wohnstätte typischer Barbaren, „waren über Jahrtausende ost-asiatischer Kultur- [und Wirtschafts-]geschichte hinweg eine relativ unbedeutende, später vom Römischen Imperium unterworfene Peripherie“, wie jüngst auch Wolfram Elsner nochmals hervorstrich. „Nach Henry Kissinger … produzierte China allein in 18 der letzten 20 Jahrhunderte einen größeren Anteil am Weltsozialprodukt als jeder andere Staat. Und noch im Jahr 1820, bereits nach einigem Niedergang, produzierte China mit seinen fast 33% des Weltsozialprodukts damals mehr als West- und Osteuropa sowie die USA zusammen“, so Elsner die heute weitgehend in Vergessenheit geratene Kultur-, Technik- und Wirtschaftsgeschichte der Welt nochmals pointiert auf den Punkt bringend. Dagegen nehmen sich die (freilich dramatischen, aber in zeitlicher Hinsicht jedenfalls doch recht überschaubaren) 450 Jahre europäischem Kolonialismus und 75 Jahre US-Hegemonie bescheiden aus. Dass die USA ihren ökonomischen Rubikon bereits seit Längerem überschritten haben und sich in einem langanhaltenden schleichenden Verlust ihrer wirtschaftlichen Substanz (nicht freilich militärischen Vormachtstellung) und in einer entsprechenden Abstiegsperiode befinden, ist weitgehend Konsens. Selbst die graue Eminenz der Geostrategen Washingtons, Zbigniew Brzezinskis, der sie in den 1990er Jahren noch wirkmächtig als „Die einzige Weltmacht“ theoretisierte, hat den Vereinigten Staaten in seinem letzten Buch bereits den Nachruf geschrieben. Die einstige globale Nummer 2 der zweiten Hälfte des 20. Jh., Japan, ist seit dem Plaza-Abkommen von 1985 im Niedergang, stürzte nach dem Platzen der Immobilienblase 1989/90 in eine tiefe Krise und dümpelt aus mehrerlei Gründen seither (seit 3 Jahrzehnten) bloß noch vor sich hin. Aktuell ist die einstige Nummer 2 noch die 4. größte Wirtschaftsmacht – bereits überflügelt von China und Indien –, Prognosen sehen es bis 2030 auf (mindestens) Rang 9 abrutschen. Ein ähnliches Schicksal – nochmals selbst regelrecht befeuert durch dessen transatlantisches Vasallentum, wirtschaftskriegerischer Amokläufe und Decoupling(Abkoppelungs)-Delirium – zeichnet sich für Europa ab. Von Brzezinski, ohne dafür Widerspruch zu erfahren, als „Protektorat“ der USA charakterisiert, manövrieren die politischen Führungsfiguren in Berlin, Paris und Brüssel die EU auch immer weiter in die Sackgasse eines multiplen Welt(un)ordnungskriegs. Die – nicht zuletzt auf Kolonialismus, dem Blut der ursprünglichen Akkumulation an seiner Wiege und globaler Ausplünderung gründende – Vorherrschaft über einige Jahrhunderte, währte bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Danach in der Rolle des US-Juniorpartners, fällt es als dessen Vasall ökonomisch immer weiter zurück und wird als willfähriger Sekundant der Globalstrategie Washingtons global zunehmend zerrieben. Entsprechend wird die Weltwirtschaft nach Prognosen des Internationalen Währungsfonds 2023 um 2,7% zulegen, während die EU – nicht zuletzt aufgrund ihres ruinösen Bumerang-Sanktionsregimes – in die Rezession rutscht. Der Wirtschaftswissenschaftler und Journalist Hermannus Pfeiffer hat die Situation in seinem Ausblick auf 2023 im „nd“ jüngst als „in der Zange“ auf den Punkt gebracht, mit dem – stark gekürzt – auch wir hier ins neue Jahr starten wollen. Denn der neue, von den USA ausgerufene vielgestaltige Systemkonflikt ist nicht nur brandgefährlich, in seiner Hitze werden auch die transatlantischen „Freunde“, „Partner“ und EURO-Land abgebrannt.
Statt einer will das taiwanesische Unternehmen TSMC im kommenden Jahr nun zwei Chip-Fabriken in den Vereinigten Staaten fertigstellen. (…)[Biden jubelte:] »Die verarbeitende Industrie in Amerika ist zurück!«
Die US-Regierung möchte die inländische Produktion von Hightech-Produkten insgesamt stärken. Dafür wurde das sogenannte Chip-Gesetz erlassen. Insgesamt sollen dadurch 280 Milliarden Dollar an Subventionen fließen. Wie sein Vorgänger Donald Trump setzt Biden auf »America first«. Finanzielles Herzstück seiner aggressiven Außenwirtschaftspolitik ist jedoch nicht das Chip-Gesetz, sondern der »Inflation Reduction Act« (IRA). Dabei geht es nicht, wie der Name vermuten ließe, um die Eindämmung der Inflation, sondern um ein Subventionsprogramm für mehr oder weniger grüne Produkte. IRA stellt von 2023 an 369 Milliarden Dollar Zuschüsse und Steuererleichterungen für Energiesicherheit und Klimaschutz bereit – die weitgehend daran geknüpft sind, dass die geförderten Produkte in den USA gefertigt werden. Das gilt für einfache Vorprodukte für Windkraftanlagen bis hin zu kompletten Elektroautos.
Flankiert wird der finanzielle Kraftakt von einer Reisediplomatie, die mögliche Partner in Afrika, Asien und Europa ins Visier nimmt sowie von politischen Muskelspielen. In der neuen Nationalen Sicherheitsstrategie wird die Volksrepublik als der einzige Konkurrent der USA ausgemacht, der sowohl die Absicht hat, die internationale Ordnung umzugestalten als auch potenziell über die dafür nötigen Mittel verfügt. Um ihren Vorsprung zu halten, werden die USA »der Aufrechterhaltung eines dauerhaften Wettbewerbsvorteils gegenüber China Priorität einräumen«.
Die Trump-Administration hatte seit 2019 »zu dem eher groben Instrument« einer massiven Zollerhöhung gegriffen, analysiert Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer. Biden ließ die Zölle unangetastet, verlagerte aber den Schwerpunkt auf die Eindämmung des Aufstiegs Chinas als Technologiemacht. Dazu führte das US-Handelsministerium neue Ausfuhrkontrollen für Spitzentechnologie ein. Das Stoppschild gilt nicht allein für US-Firmen, sondern auch für ausländische Unternehmen. Denn für die Regierung in Washington gilt traditionell das US-Recht auch außerhalb des eigenen Territoriums. Diese extraterritoriale Anwendung von Regeln wird mit der Drohung durchgesetzt, dass Unternehmen, die dagegen verstoßen, keine Geschäfte auf dem lukrativen amerikanischen Markt machen dürfen. Womit beispielsweise die Fertigstellung der Ostseepipeline Nord Stream 2 unterbunden wurde.
In die Mühlen des Handelskonflikts geraten so auch europäische Konzerne wie ASML. Ohne Maschinen der niederländischen Holding gäbe es keine Hochleistungschips für kommende Smartphone-Generationen oder für autonomes Fahren. (…) Bidens Regierung will jedoch zukünftige Lieferungen nach China untersagen. (…)
China trägt seinerseits zur globalen Blockbildung bei. Die Regierung in Peking setzt auf »Eigenständigkeit« und »Weltoffenheit«, um dem Handelskonflikt mit den USA zu begegnen. Der Aufbau einer heimischen Spitzen-Innovationsbasis ist allerdings ein dorniger Weg. Da der Zugang zu amerikanischer Technologie wohl dauerhaft eingeschränkt bleibt, wird China versuchen, für eine Übergangszeit Hightech aus Drittstaaten zu beziehen.
Seit November treffen sich Präsident Xi Jinping und Regierungsvertreter laufend mit ausländischen Staats- und Regierungschefs, um Hightech-Importe, ausländische Investitionen und Rohstoffe für die kommenden Jahre zu sichern. Hierfür erscheint eine enge Zusammenarbeit mit asiatischen Staaten und Schwellenländern erforderlich. Um diese buhlen – vor dem Hintergrund der sich verfestigenden Wirtschaftsblöcke – auch europäische Staaten und die US-Regierung.
Geopolitisch scheint die Lage dennoch günstig für Xi’s Charmeoffensive zu sein. Selbst eher westlich ausgerichtete Demokratien wie Indien oder Südafrika haben in der Russland-Ukraine-Frage demonstriert, dass sie auf eine gewisse Distanz zu den USA und der Europäischen Union gehen. Auch arabische Länder wie Saudi-Arabien – die Xi Mitte Dezember besuchte – diversifizieren ihre strategischen Beziehungen. So weigern sich die OPEC-Staaten, dem Wunsch aus Washington und Brüssel nach höheren Öl- und Gasfördermengen nachzukommen.
Die Europäische Union, wirtschaftlich geschwächt von den Folgen ihrer Sanktionen gegen Russland, windet sich in diesem Zangengriff. (…)Die EU-Kommission will trotz dieser grundlegenden Herausforderung gleichzeitig die wirtschaftliche Abhängigkeit von China drastisch reduzieren und über globale Themen wie den Klimawandel mit Peking im Gespräch bleiben.
Ob Abgrenzungen und Sanktionen, wie sie vor allem Berlin mit seiner »wertebasierten Außenpolitik« fördert, angesichts der Blockbildung der richtige Weg sind, bezweifeln Kritiker. (…)
Sich vorbehaltlos auf die amerikanische Seite zu schlagen, ist schon deshalb keine aussichtsreiche Alternative, weil die üppigen US-Subventionen Investitionen und Kapital aus Europa anlocken werden. (…)
Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat eine europäische Antwort skizziert. 231 Milliarden Dollar allein des IRA-Paketes verstoßen nach Kommissionsschätzungen gegen die Regeln der Welthandelsorganisation WTO. Diese gilt freilich – spätestens seit die Amerikaner das wichtigste Schiedsverfahren blockieren – als zahnloser Tiger. Die Sorge ist berechtigt, dass Europa im Wettbewerb der drei Blöcke weiter zurückfällt. Dass sich die Politiker im kommenden Jahr zu einer eigenständigen (…) Position durchringen könnten, ist kaum zu erwarten. (…) Stattdessen dürfte der weltweite Subventionswettlauf, der schon vor Corona begann, beschleunigt werden. (…)