Selbst der IWF (Internationale Währungsfonds), auch nur der geringsten Parteinahme für die Arbeitenden gänzlich unverdächtig, musste in seinem letztjährigen Bericht eingestehen: Die Lohnquote (der Anteil der Löhne am Volkseinkommen) nimmt in den reichen Ländern seit den 1980er Jahren stetig ab und ist heute auf den tiefsten Stand seit 50 Jahren abgesunken.
Entsprechend gaben denn jüngst auch rund die Hälfte aller Arbeitenden in Österreich an, mit ihrem Einkommen „nicht oder gerade noch“ über die Runden zu kommen. Um der zunehmenden Armutsgefährdung und Lohnarmut, dem ständig steigenden Druck auf die Gehälter und den vielfach unhaltbaren Hungerlöhnen einen Riegel vorzuschieben, braucht es dringend einen robusten, flächendeckenden Mindestlohn im Land, der diesen Namen auch verdient. Dementsprechend fordern wir als KOMintern in unserem Modell auch einen Lebensstandard sichernden kollektivvertraglichen Mindestlohn von 1.915 Euro brutto. Und diesen bewusst nicht auf gesetzlicher, sondern kollektivvertraglicher Basis. Das klingt zunächst vielleicht wie ein Streit um des Kaisers Bart. Ist es aber nicht.
Anders als in anderen europäischen Ländern existiert in Österreich (aus historischen und institutionellen Bedingungen, wie einem hohen gewerkschaftlichen Organisierungsgrad) eine – trotz aller Angriffe – gut etablierte Form der Kollektivverträge, die (im Unterschied zu anderen Ländern) für so gut wie alle Betriebe verbindlich sind. So wird der Mindestlohn für die Beschäftigten bisher denn auch, ähnlich wie in Dänemark, Schweden und Finnland, über gewerkschaftlich ausgehandelte Kollektivverträge bzw. Mindestlohntarife u.a. geregelt, und deckt bis zu 98% aller unselbständigen Werktätigen ab.
Kollektivvertrag vs. Gesetz
Seit geraumer Zeit fordern nun einige AK- und Gewerkschafts-Fraktionen, wie etwa der GLB und die AUGE/UG, aufgrund der Lohnmisere, einen gesetzlichen Mindestlohn. Das klingt auf den ersten flüchtigen Blick auch einmal ganz unverfänglich. Aber ist es das auch?
Nun, eine solche Mindestlohnregelung beinhaltete zunächst einmal einen gravierenden, in der 2. Republik noch nie dagewesenen staatlichen Eingriff in die gewerkschaftliche Kollektivvertrags-Autonomie und würde die Frage des Mindestlohns den unmittelbaren gewerkschaftlichen Lohnauseinandersetzungen entziehen.
Damit würde die künftige Festsetzung der Mindestlöhne direkt den politisch-parlamentarischen Kräfteverhältnissen und jeweiligen Regierung überantwortet. Um sich maximal durchsichtig vor Augen zu führen, was das bedeutet, muss man den Blick noch nicht einmal auf stramm konservative oder neoliberale Regierungskabinette mit ihrem vielfachen jahrelangem Einfrieren der Mindestlöhne richten. Dazu genügt bereits ein Streiflicht auf die Amtszeit des einst von breiten Massen mit großen Hoffnungen ins US-Präsidentenamt gehievten Barack Obama. Der gesetzliche Bundes-Mindestlohn befand und befindet sich in den USA seit Jahrzehnten im Sinkflug und liegt inflationsbereinigt heute deutlich niedriger als zu seiner Einführung 1968. Nichts desto trotz harrte der Mindestlohn auch während der achtjährigen Präsidentschaftsperiode Obamas vergeblich auf eine weitere Anhebung. Auch in zahlreichen anderen Ländern, die über einen gesetzlichen Mindestlohn verfügen, wurde dieser vielfach über Jahre und Dezennien nicht mehr erhöht – zumal in einer Zeit der nachhaltigen Austeritäts- und Rotstiftpolitik.
Autonomie statt schwarz-blauer Regierungswillkür
Einen solchen heute in Österreich zu fordern, entwindet also den Mindestlohn nicht „nur“ den Gewerkschaften als unmittelbaren Bestandteil ihres Lohnstreits, sondern würde ihn aktuell gar in die Hände der willigen schwarz-blauen Vollstrecker des Kapitals legen. Genauer noch, in jene der amtierenden Unsozialministerin Hartinger-Klein, die dann per Gesetzesvorlage über seine Höhe bestimmen würde und bekanntlich der Auffassung ist, man könne (abzüglich der Wohnkosten) in Österreich auch von 150 Euro gut leben.
Um einer solchen gänzlich freien Verfügung und Regierungswillkür über einen gesetzlichen Mindestlohn zu entgehen, wird von manch nachdenklicheren VertreterInnen dann vorgeschlagen, ihn etwa an den Verbraucherpreisindex zu binden – und damit sozusagen eher dem „Statistischen Zentralamt“ zu überantworten. Bloß, eine solche an den Verbraucherpreisindex gebundene Variante, beinhaltet wie selbstverständlich die unausdrückliche Voraussetzung, dass die jetzt gerade vorhanden Verteilungsverhältnisse als Fixpunkt angesehen und hingenommen werden, ja, die Mindestlohnquote am Volkseinkommen sich aufgrund der Produktivitätsentwicklung verteilungspolitisch sogar mehr und mehr verschlechtert. Und würde in dieser Perspektive zugleich die gegebenen Klassenkräfteverhältnisse im Blick auf den Mindestlohn in Stein meißeln und einzementieren. Bei jedem KV-Abschluss als bloßem Inflationsausgleich ohne Reallohnsteigerung würden die besagten Fürsprecher eines gesetzlichen Mindestlohns gleichzeitig – zurecht – inbrünstig aufschreien. Dass sie uns aber – bestenfalls! – genau das mit ihren Konzepten für die GeringverdienerInnen aufschwatzen wollen, scheinen sie nicht einmal zu bemerken.
So verlockend und unschuldig sich die Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn vielleicht im ersten Moment anhört – gewerkschaftspolitisch tragfähig ist sie nicht. Stärker noch: gewerkschaftlich stellt sie vielmehr eine desaströse, gefährliche Fehlorientierung dar.
Bild: Ithmus (Flickr) / CC BY 2.0