Interview mit Manuel Pérez Gómez aus Chiapas zur akuten Lage in Pantelhó

Don Manuel Pérez Gómez ist Mitarbeiter der NGO SERAPAZ in Chiapas – das gesamte Interview kann im Original auf Medya TV geschaut werden.

Nachdem bereits seit Frühjahr durch die zunehmende paramilitärische Gewalt tausende BewohnerInnen im Hochland von Chiapas aus ihren Dörfern vertrieben wurden, eskaliert die Lage wie befürchtet in Pantelhó und Chiapas gerade. Bereits von einigen Tagen hatte das Klandestine Komitee der EZLN davor gewarnt, dass sich Chiapas am Rande eines Bürgerkriegs bewegt. Durch die offensichtliche Duldung und Förderung paramilitärischer Gruppen und Milizen durch die Landes- und Bundesregierung, sowie die Amtseinsetzung von politischen Kandidaten, die mit der organisierten Kriminalität zusammenarbeiten, gerät die Situation derzeit zunehmend außer Kontrolle. Entführungen, Vertreibungen und bewaffnete Hinterhalte gegen die Zivilbevölkerung werden täglich mehr. Aktuell kommt es zu gewalttägigen Ausschreitungen in Altamirano, Pantelhó, Pichucalco und Villacorzo. Die Situation in Chiapas steht an einem Scheitelpunkt. Zu den Hintergründen das nachstehende Interview mit Manuel Pérez Gómez.

Seit 1994 ist Chiapas durch den Aufstand der Zapatisten nicht zuletzt gegen die direkte und strukturelle Gewalt international bekannt geworden. Gegenwärtig ist die Gemeinde Pantelhó ein emblematischer Fall und ein Spiegelbild der systemischen Gewalt, deren Opfer die indigenen Gemeinden von Chiapas und ganz Mexiko sind.

Pantelhó ist eine der 124 Gemeinden des Bundesstaates Chiapas. Sie liegt im Hochland des Bundesstaates, nördlich von San Cristóbal de las Casas, und mehr als 80 Gemeinden gehören zu dieser Gemeinde.

In diesen Tagen und Momenten fliehen erneut Hunderte von Menschen aus der Gemeinde, vor allem Frauen, Kinder und ältere Menschen, aus Angst vor neuen Gewaltwellen, die den Machtwechsel in der Gemeinde am kommenden Freitag, dem 1. Oktober, begleiten könnten.

Abgesehen von der jahrhundertealten Krise und der strukturellen Gewalt in Chiapas hat sich die Lage bei den Kommunalwahlen am 6. Juni dieses Jahres weiter verschärft. War es möglich, die Wahlen vom 6. Juni in Chiapas regulär abzuhalten?

Manuel Pérez Gómez: Vor dem 6. Juni gab es Informationen und Unstimmigkeiten aufgrund zahlreicher Verstöße des Gouverneurs und der amtierenden Gemeindevorsteher. Davor, mehr oder weniger ab Mai, gab es Proteste, bei denen Menschen aus den Gemeinden und den Bezirkshauptstädten anprangerten, dass die damaligen Amtsinhaber eine sehr wichtige Rolle spielten, um ihre Kandidaten für die zukünftigen Gemeindevorstände einzusetzen. Das heißt, es wurden Leute eingesetzt, denen die Amtsinhaber und auch der Gouverneur vertrauten. Und das hat die Situation sehr angespannt gemacht, denn es gab Demonstrationen, bei denen Männer und Frauen in den verschiedenen Orten sagten: Wir wollen diese Art von Person nicht als Gemeindepräsident haben!

Wir können im Norden von Chiapas zum Beispiel Tila erwähnen, auch Carranza, Pantheló, Chenalhó, Aldama, San Andrés Larráinzar, San Cristobal de las Casas, Comitán, Palenque und andere Orte.  Überall dort wollten die Menschen nicht, von ihnen bekannten und aufgezwungenen Personen regiert zu werden.

Deshalb fingen sie an zu demonstrieren dagegen, aber von der Regierung oder den vorherigen Amtsinhabern hieß es, diese oder jene Person müsse als Kandidat für das zukünftige Gemeindepräsidium bleiben 

Soweit wir wissen, kam es im Zusammenhang mit den Wahlen am 6. Juni auch zu Gewalt.

Manuel Pérez Gómez: Ja, es gab Gewalt, zum Beispiel in der ländlichen Schule von Mactumactza in Tuxtla Gutierrez in Chiapas, wo sie auch ihre Ablehnung zum Ausdruck brachten und das wurde mit Gewalt beantwortet. In verschiedenen Teilen des Bundesstaates kam es zu Verbrennungen von Wahlurnen, zu Diebstahl von Wahlzetteln, sie füllten auch die Wahlzettel für andere aus, sie manipulierten die Leute und sie setzten viel Geld ein, um die Stimmen der Leute zu kaufen. Und so kam es zu vielen Spannungen und Gewalt in verschiedenen Orten.

Um konkret auf den Fall Pantelhó einzugehen: Worin besteht der Konflikt in Pantelhó, wer sind die Kontrahenten dort?

Manuel Pérez Gómez: Der Konflikt speziell in Pantelhó ist darauf zurückzuführen, dass viele der 86 Gemeinden nach einer langen Zeit, mehr als 20 Jahren, in denen sie demonstriert und gekämpft haben, nicht damit einverstanden waren, dass die Gemeinde von politischen Autoritäten regiert wurde, die eng mit dem organisierten Verbrechen verbandelt sind. Also organisierten sie sich und sagten, wir wollen von würdigen, vertrauenswürdigen Menschen regiert werden.

Und so begannen dafür aufzustehen, dass Raquel Trujillo, der zum organisierten Verbrechen im Bezirk Pantelhó gehört, nicht neuer Bezirkspräsident werden dürfe.

Und sie forderten, ihre Amtsträger mittels ihrer eigenen Sitten und Gebräuche ernennen zu können. Und zwar Autoritäten für alle der zum Bezirk gehörenden 86 Gemeinden,: die Kommissariate, die öffentlich Bediensteten, einige kirchliche Behörden, einige der derzeitigen Bezirksräte.

Das wollen die Menschen ändern, und deshalb wollen sie von nun an die 20 Mitglieder des Bezirksrates selber auswählen, damit sich die Lage beruhigt und es keine Gewalt mehr in dieser Region gibt.

Wir haben gehört, dass in einer Art runder Tische verhandelt wird. Wie viele solcher Treffen haben bereits stattgefunden, wer sind die Teilnehmer und was steht noch aus?

Manuel Pérez Gómez: Bis jetzt wurden zwei Treffen abgehalten, bevor der Staatskongress die neuen Amtsträger, die bereits in den Startlöchern stehen, ernannt werden.

Die Menschen wollten von der Landesregierung angehört werden, zwei Treffen haben bereits stattgefunden, andere stehen noch aus. Aber alle warten noch auf endgültige Ergebnisse. Auf der einen Seite sitzt die Regierung, auf der anderen Seite die Diözese von San Cristobal de las Casas, die eine Kommission eingesetzt hat, und der Pfarrer von Pantelhó, Pater Marcelo, der ein Menschenrechtsverteidiger ist und sich sehr für die Sozialpastoral der Diözese einsetzt. Marcelo, der als Menschenrechtsverteidiger sehr aktiv in der Sozialpastoral der Diözese tätig ist, sucht nach Wegen, um die Gewalt in dieser Region durch die eröffneten runden Tische zu beruhigen.

Im Moment wurden sie unterbrochen, weil sie auf die Vorgaben der neuen Bezirksregierung warten. Wir verstehen, dass die Situation im Moment angespannt ist und dass diese Gespräche bis auf Weiteres unterbrochen wurden.

Am 1. Oktober findet in der Gemeinde Pantelhó der Wechsel der Amtsinhaber statt.  Was wird befürchtet, was ist die Sorge der Menschen dort?

Manuel Pérez Gómez: Die Menschen in Pantelhó sind besorgt darüber, dass der gewählte Präsident, Raquel Trujillo, in Videos und Botschaften sagt: „Ich werde die Position antreten, ab erstem Oktober werde ich Bezirkspräsident von Pantelhó sein“.

Die Menschen haben Angst. Schon gestern haben Menschen aus Pantelhó damit begonnen, in andere Dörfer und Städte zu flüchten, aus Angst vor Rache, aus Angst, dass ihnen viele Dinge angetan werden könnten. Seit gestern flüchten viele zu den Abejas nach Acteal, derzeit bereits 67 Personen. Auch nach San Cristobal flüchteten bereits über 90 Menschen. Es wird befürchtet, dass es erneut Blutvergießen geben könnte, deshalb gehen die Menschen weg.

Und das besorgt uns, denn die neue Bezirksregierung wird die Situation keineswegs beruhigen, sondern eher verschlimmern. Es ist noch gar nicht der 1. Oktober und niemand wurde noch vereidigt, und bereits jetzt gibt es Vertriebene, das beunruhigt uns noch mehr.

Was verlangen die Bürger von einer künftigen Bezirksverwaltung?

Manuel Pérez Gómez: Sie verlangen, dass man ihnen zuhört, dass man sich um sie kümmert, dass die geplanten Projekte ausgeführt werden, denn dem Bezirk mit seinen 86 Gemeinden steht eine Menge Geld zur Verfügung. Aber es wird nicht im Sinne der Gemeinden verwaltet. Vielmehr werden die Ressourcen für persönliche Zwecke oder für bestimmte Gruppen abgezweigt, nicht aber für die Gemeinden, die zu den ärmsten gehören.

Die öffentlichen Mittel wurden nicht gut verwaltet. Die Gemeinden fordern dies schon seit langem, aber sie haben nicht auf uns gehört, sie sind nicht darauf eingegangen, sie haben den Forderungen der Menschen nie gehorcht.

Und wie steht es mit der Idee, dass ein indigener Bezirksrat nach eigenen Sitten und Gebräuchen die Ämter übernimmt?

Manuel Pérez Gómez: Seitdem die stellvertretende Bezirkspräsidentin (und Frau des nun nach der Macht langenden Raquel Trujillo) von Pantelhó zum Rücktritt aufgefordert wurde und das am 9. August zusammen mit sieben ihrer Bezirksräte auch befolgte, wollte die Gemeinde einen eigenen Bezirksrat wählen. Das Abgeordnetenhaus des Bundesstaates von Chiapas hat für 44 Tage zugestimmt, die Zeit der Übergangsregierung endet am 30. September. Aber die Menschen wollen mit diesem Bezirksrat für die nächste dreijährige Amtszeit weitermachen. Der aktuelle Bezirksrat, gewählt nach indigenen Sitten und Gebräuchen, genieß das Vertrauen der Menschen, im Gegensatz zu denen, die von einer politischen Partei eingesetzt und aufgezwungen werden.

Manuel, was sind die Wünsche, die du den [Lesern dieser Zeilen] mit auf den Weg geben kannst? Was wird in Chiapas und insbesondere in ihrer Region nun am dringendsten gebraucht?

Manuel Pérez Gómez : 1. Generell im Hochland von Chiapas, also in den Bezirken Pantelhó, Simojovel, Chenaló usw., die physischen Unversehrtheit der indigenen Völker der Tsotsil und Tseltal zu gewährleisten.

2. Die Forderung, dass Alejandro Gertz Manero, Generalstaatsanwalt der Republik, und Raciel López Salazar, Generalstaatsanwalt des Bundesstaates Chiapas, eine unabhängige, sofortige, umfassende und unparteiische Untersuchung des Mordes an Simón Pedro Pérez López durchführen lassen, um die geistigen und materiellen Täter zu identifizieren, sie vor ein zuständiges Gericht zu stellen und die entsprechenden strafrechtlichen Sanktionen anzuwenden.  Außerdem müssen die Verbindungen zwischen den Amtsträgern und dem organisierten Verbrechen im Bezirk Pantelhó untersucht werden, die für die angespannte Lage dieser Maya Tsotsil und Tseltal Gemeinden der verantwortlich sind.  Bei den Ermittlungen sollte die Hypothese im Vordergrund stehen, dass die Ermordung von Simón Pedro auf seine Tätigkeit als Menschenrechtsverteidiger zurückzuführen ist, wie es die auch internationalen Menschenrechtsstandards vorsehen;

3. Die sofortige Beendigung aller Arten von Schikanen gegen VerteidigerInnen von Mutter Erde und Territorium sowie generell gegen alle Menschenrechtsverteidiger in Mexiko. Übergriffe werden immer häufiger, und das ist sehr besorgniserregend. Wir fordern dringend, auf nationaler und internationaler Ebene gehört zu werden.

Und dass diese VerteidigerInnen angesichts der Realität ihre Stimme erheben und etwas zu dem sagen können, was wir in letzter Zeit erlebt haben.

Dies sind die dringenden Forderungen, und wir bitten die verschiedenen Medien, diese Informationen ebenfalls zu verbreiten und weiterzugeben, damit die Menschen wissen, was hier vor sich geht.

Denn wir wollen kein neues Acteal wie im Jahr 1997*. Damals haben sie 45 unschuldige Brüder und Schwestern massakriert. Wir wollen das nicht mehr, Ya Basta! – genug ist genug!

Wir fordern die verschiedenen nationalen und internationalen Regierungen, die mexikanische Regierung, insbesondere die Regierung des Bundesstaates Chiapas, unverzüglich dazu auf, sich dieser Petitionen anzunehmen, und wir fordern, dass unsere Stimme gehört wird.

Mailadressen, die dazu angeschrieben werden können:

– Herr Rutilio Escandón Cadenas, Gouverneur des Bundesstaates Chiapas, secparticular@chiapas.gob.mx   

– Herr Alejandro Encinas Rodríguez, Subminister für Menschenrechte und Bevölkerung, Innenministerium, ajencinas@segob.gob.mx

– Herr Gautier Mignot, Botschafter der Europäischen Union in Mexiko, gautier.mignot@eeas.europa.eu

(Die Mailadressen beziehen sich auf den Gouverneur von Chiapas, dem mexikanischen Subminister für Menschenrechte und dem Botschafter der Europäischen Union in Mexiko).

Eine Mail-Sendung noch vor dem 1. Oktober kann die Gefahr von Gewalt in Pantelhó maßgeblich verringern.

*Das Massaker am 22. Dezember 1997 gegen die sozial-revolutionäre Bewegung in der Tzotzil-Gemeinde Acteal, bei dem vorrangig Frauen und Kinder von Paramilitärs grausam hingemordert wurden, bildet ein unvergessenes Datum der Repressionen. In das grausame Massaker gegen die befreiungstheologisch und zapatistisch inspirierte christlich-gewaltfreie Gruppierung „Las Abejas“ (dt. die Bienen), waren nachweislich auch hohe Regierungskreise, lokale Regierungsvertreter und Militärs unter dem damaligen Präsidenten Ernesto Zedillo verstrickt und involviert.

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