Die Empörung bzw. Aufregung über das Potsdamer Geheimtreffen zur verharmlosend „Remigration“ genannten ethnischen Säuberung Europas war und ist zu Recht groß. Geflissentlich verschwiegen wurde und wird diesbezüglich jedoch weitgehend, was Martin Sellner damit meinte, dass die Idee längst in der Öffentlichkeit angekommen ist. Patrick Bahners Beitrag in der gutbürgerlichen FAZ brachte dies unter dem Titel „Das Geheimnis des Geheimtreffens im Hotel“ indes ganz gut auf den Punkt: „In der Sache gehen die Punkte in Sellners Konzept […] an vielen Stellen nur ein oder zwei Schritte über die migrationspolitischen Planspiele der Ampelkoalition und der Unionsparteien hinaus.“ Und man muss dazu wahrlich nicht nach Deutschland blicken.
Dass sich FPÖ-Chef Herbert Kickl im ORF von der Idee bzw. dem Plan einer „Remigration“ partout nicht distanzierte, wird kaum noch verwundern. Johlt doch auch die FPÖ für einen Asylstopp, Internierungslager für Geflüchtete außerhalb der EU-Grenzen und massenhafte ‚Rückführungen‘ für „solche Menschen“ (Menschen mit Migrationshintergrund) auch wenn sie die österreichische Staatsbürgerschaft erworben haben (dann muss sie „solchen Leuten“ eben entzogen werden). Auch für Sebastian Kurz bildete seine restriktive wie menschenverachtende Migrations- und Asylpolitik bekanntlich das „Herzstück“ seiner „Politik“, worin ihm sein Nachfolger als Kanzler und ÖVP-Vorsitzender Karl Nehammer in nichts nachsteht. Und auch der neu gekürte ÖVP-Spitzenkandidat Reinhold Lopatka für die Europawahlen hat sich sogleich das Migrationsthema als Hauptagenda auf die Fahnen geheftet und die weitere Verfestigung der „Festung Europa“ als Programm ausgegeben. Und um die schmähliche Rolle der SPÖ und Grünen zumindest nicht außen vor zu lassen, sei neben ihrer immer restriktiveren Migrations- und Asylpolitik in Regierungsverantwortung nicht zuletzt auf den den Todesstoß des EU-Asylrechts durch die weitgehende Allparteienkoalition des „Wertewestens“ von Konservativen, über Sozialdemokraten, Liberale und Grüne vor einem Monat verwiesen.
Nach dem kurzen Aufflackern von Ansätzen einer menschlichen Asylpolitik 2015, notierte der integerste Kopf der „Süddeutschen Zeitung“, Heribert Prantl denn auch bereits im Jänner 2016: „Der bisher noch halb verdeckte Rassismus wird offen, und der schon bisher offene Rassismus wird zum Getöse.“ Und meinte damit keineswegs nur rechtskonservative Kreise, Rechtsextreme und Neonazis, sondern inkludierte darin auch politische Führungsfiguren, ja weitläufig das politische Personal „des Westens“.
Es war dann 2017 als der damalige EU-Parlamentspräsident Antonio Tajani von der rechten Forza Italia und heutiger Vize-Premier von Italiens Postfaschistin Giorgia Meloni Internierungslager für Geflüchtete „an der Grenze zwischen dem Niger und Libyen“ forderte. Seither nahm die Auslagerung der „Flucht- und Migrationsabwehr“ an Afrika und Verlagerung der ‚EU-Außengrenzen‘ bis tief in den afrikanischen Kontinent nochmals rasant an Tempo auf. Letzten Dezember einigten sich die VertreterInnen der EU-Staaten und des Europaparlaments nach jahrelangem Feilschen schließlich auf eine rigorose Verschärfung des EU-Asylrechts in regressiver „Reform“ des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS). Von der weitgehenden Allparteienkoalition des „Wertewestens“ frenetisch als „historische Einigung“ und „wegweisend“ bejubelt, charakterisieren einschlägige NGOs die Verschärfung als Todesstoß des europäischen Asylrechts.
Denn mit der GEAS-„Reform“ werden quasi die letzten Ziegelsteine in der „Festung Europa“ gesetzt. Dass mit dieser „Reform“ sowohl das in der Genfer Konvention verankerte individuelle Recht auf Asyl nun ausgehebelt ist und die „Reform“ auch gegen die Genfer Flüchtlingskonvention verstößt, vermag die Jubelstimmung von Ursula von der Leyen bis Werner Kogler nicht zu trüben.
Entsprechend zog der „Wertewesten“ als Grenzwall schon in den letzten Jahren bereits einen neuen globalen „Limes“ hoch, errichtete an seinen Grenzen und über Finanz- und Fluchtabwehr-Abkommen mit nordafrikanischen Ländern, Sahel- und Tschadsee-Staaten, sowie Anrainern des Horns von Afrika bis tief in afrikanischen Kontinent ein regelrechtes Abschottungs- und Lagerregime und bauten die verantwortlichen politischen Figuren der EU diese zur quasi asylfreien „Festung Europa“ aus. Und erst jüngst schraubten die EU-Innenminister auch noch die berüchtigte „Krisenverordnung“ in das „Gemeinsame Asylsystem“ (GEAS) der Union und einigte sich die EU-Staaten auf diese.
Damit einhergehend hat der Brüsseler „Wertewesten“ die Sahara und das Mittelmeer in regelrechte Massengräber verwandelt und die EU-Außengrenzen mittels eines dicht gestaffelten Eisernen Vorhang aus Stacheldraht und militärischen Grenzanlagen sowie einer mörderischen Kanonenboot-Politik (FRONTEX, Küstenwachen) ergänzt um dreckige Deals mit Despoten und autoritären Regimes abgeschottet, ihre diesbezüglichen ‚Außengrenzen‘ damit quasi in die Türkei, auf Nordafrika ja bis in den Sahel externalisiert (wobei Niger jüngst seine Türsteherfunktion für die EU aufkündigte), und rückt den verbliebenen Schutzsuchenden systematisch auch militärisch zu Leibe.
Dabei klebt an den Händen der ökonomischen und politischen Eliten der Festung Europa schon bislang immer mehr Blut. „Das gut recherchierende Projekt ‚Migrant Files‘“ etwa, „geht davon aus, dass von 2004 bis 2019 bis zu 80.000 Flüchtende allein im Meer gestorben sind – dazu käme noch einmal mindestens die gleiche Opferzahl in Folge von Verdursten, Verhungern und Ermordungen“, so der Journalist David Goeßmann, um den zu verantwortenden Blutzoll des europäischen Abschottungsregimes etwas deutlicher vor Augen zu führen.
Arnold Schölzl geht daher noch einen Schritt über Patrick Bahners hinaus: „Sellner hat recht: Die Unterschiede sind nicht groß, wenn der [deutsche] Kanzler [Olaf Scholz] ‚Abschiebung in großem Stil‘ ankündigt, die Innenministerin ‚Clan‘-Mitglieder auch ohne Straftat irgendwohin schicken will – womöglich in eins der Lager, die in Nicht-EU-Staaten jetzt errichtet werden sollen. Wer ungerührt Zehntausende im Mittelmeer ertrinken lässt, hat mit Antasten der Menschenwürde kein Problem. Da setzt der Faschist nur eins drauf.“ Denn wie trommelte Olaf Scholz im Spiegel vor drei Monaten auf dessen Titelseite: „Wir müssen endlich im großen Stil abschieben“.
Natürlich sind der „Masterplan“ der extremen Rechten zur „Remigration“ (gegen die verschwörungstheoretische Halluzination eines „Großen Austausch“ oder rechtsextreme Fiktion eines angeblichen „Bevölkerungsaustauschs“) nicht einfach mit der radikalen Verschiebung des politischen Koordinatensystems in Österreich und der EU über einen Kamm zu scheren. Aber mit den nunmehrigen Verschärfungen haben das politische Personal des „Wertewestens“ die EU faktisch zur asylrechtsfreien Zone erklärt. Mit Internierungslagern außerhalb der EU und ersten Schnellverfahren an der Grenze (ohne weitere Evaluierungen der individuellen Fluchtgründe und ordentliche Asylverfahren als sogenanntes Screening um Flüchtende mit „geringen Aufnahmechancen“ erst gar nicht in die EU gelangen zu lassen), umgehende Rückschiebungen in vermeintlich „sichere Herkunftsländer“ bzw. „sichere Drittstaaten“ (deren Kriterien begleitende gesenkt wurden um sie deutlich auszuweiten), die Möglichkeit dreimonatiger Freiheitsberaubungen für Kinder, Freikauf für Nicht-Aufnahmen (á 20.000 Euro pro Kopf bzw. auch einfach Gegenrechnung der Beteiligung am Außengrenzschutz zur „Flüchtlingsbekämpfung“ bzw. „Flüchtlingsabwehr“ wie es in militärischen Jargon vielfach unverblümt heißt), biometrischen Erfassungen (sprich Einsatz von KI und Gesichtserkennung zur Abschottung) … Und auch das politische Establishment spricht in immer harscheren Tönen und diversen Schattierungen von „Rückführungen“.
Wenige Monate vor den EU-Wahlen soll der aufbrandenden Rechten in Europa damit der Wind aus den Segeln genommen werden, indem man deren Agenda einfach selbst durchsetzt und das politische Koordinatensystem nochmals weiter nach rechts verschiebt. Den rechtspopulistischen bzw. rechtsextremen Parteien das Wasser abgraben zu wollen indem man in Kniefall vor sie hinsinkt und ihr Programm zum eigenen erhebt, wird indes ebenso scheitern, wie er die ganze Verkommenheit der politischen EU-Eliten vor Augen führt.
Dahinter lugt jedoch nicht minder, wie es Janina Puder unlängst auf den Punkt brachte, ebenso das trockene ökonomische Kosten-Nutzen-Kalkül des Kapitalismus hervor. „Entgegen aller humanistischen Lippenbekenntnisse die Ausweitung protektionistischer Maßnahmen …, um jene Geflüchtete spätestens an den europäischen Außengrenzen abzuweisen, deren Arbeitskraft sich nur eingeschränkt oder nur mit finanziellem Aufwand (z.B. Kostenübernahme für Sprachkurse, Unterbringung, Schul-, Aus- und Weiterbildung) verwerten lässt. [Und:] So kann nebenbei auch künftigen Migrationsbewegungen, die im Zusammenhang mit dem globalen Klimawandel stehen, präventiv ein Riegel vorgeschoben werden. In der Einwanderungspolitik [für ausländische Fach- und Schlüsselkräfte] geht es dagegen darum, billige Arbeitskräfte in den … Arbeitsmarkt einzuspeisen. Während diese Fachkräfte meist auf Kosten der Herkunftsländer ausgebildet werden, können … Industrie, das Handwerk, der Pflegesektor so von qualifizierter Arbeitskraft profitieren, ohne selbst Kosten für deren Ausbildung tragen zu müssen.“
Zwar ist die angebliche „Migrationskrise“ frei erfunden – und doch trommeln von der Brüsseler Allparteienkoalition des „Wertewestens“ bis ganz rechts-außen ein nicht so groß unterschiedliches Lied. Wenn alle in ethnischer Umdeutung sozial-ökonomischer Fragen und der multiplen Krise des Kapitalismus darin übereinstimmt, dass Migration das angeblich „größte Problem“ Österreichs und Europas sei, was Wunder über das Brechen sämtlicher gesellschaftlicher Dämme, der manifesten Entzivilisierung und dem aufbrandenden Rechtsextremismus.
Bild: Wikimedia Commons, Влада на Република Северна Македонија, CC BY-SA 4.0 Deed