Arbeitslosigkeit 2.0: Ein soziales und profitables Elend, Exerzierfeld neoliberaler Attacken und gewerkschaftspolitische Antworten

Noch vor wenigen Jahren ein gesellschaftlicher Skandal ersten Ranges, liegt die Arbeitslosigkeit mit über 420.000 Beschäftigungslosen wieder auf Vorkrisenniveau vor der jüngsten Wirtschafts- und Coronakrise, ja ist sogar noch ein Stück emporgeklettert – ohne noch eine vergleichbare Aufregung darzustellen. Zu Beginn des Ausbruchs der davor bereits einschneidenden Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 lag sie bereits bei 210.000. Ende Februar 2020, vor Beginn Corona-Krise, betrug sie mit rund 400.000 bereits beinahe das Doppelte. Heute liegt sie sogar noch drüber. Anstatt jedoch dieser regelrecht durch die Decke geschossenen Arbeitslosigkeit beschäftigungspolitisch entgegenzusteuern bzw. wenigstens durch ein armutsfestes Arbeitslosengeld abzumildern, wird vielmehr erneut zum Kampf gegen die Arbeitslosen und zur Attacke auf die Arbeitslosenversicherung geblasen.

Es liegt ziemlich exakt 50 Jahre zurück, als in einer legendären Fernsehkonfrontation dem damaligen SPÖ-Bundeskanzler Bruno Kreisky von seinem konservativen Kontrahenten Josef Taus (ÖVP) die seinerzeitigen 33.000 Arbeitslosen in Österreich als politisches Versagen vorgerechnet wurden. 2024 stellt es wie eingangs erwähnt kaum mehr eine größere gesellschaftliche Aufregung dar, dass wir aktuell fast das 13-fache an Arbeitslosen haben. Man ist vielmehr erleichtert, dass die davor noch dramatischeren Prognosen nicht vollends eingetroffen sindund schreitet zur Attacke.  

‚Moderne‘ monetäre Zuchtriemen aus dem neoliberalen Werkzeugkoffer als politische Peitsche gegen die Erwerbslosen

So hat Kanzler Karl Nehammer in seinem jüngst vorgestellten „Österreichplan“ gerade erneut das neoklassische Lieblings-Projekt einer „degressiven Kürzung“ des Arbeitslosengelds, d.h. dass dieses mit der Länge der Bezugsdauer sinkt, aus der Motten- und Werkzeugkiste des Neoliberalismus herausgekramt.Ein moderner monetärer Zuchtriemen gegen die Arbeitsmassen die schon ihren Arbeitsplatzverlust hinnehmen mussten, der schon im schwarz-blauen Regierungsprogramm Anfang 2018 paktiert war, bevor der blaue Ibiza-Skandal die Regierung zu Fall brachte. Aber auch unter dem willfährigen neuen grünen Koalitionspartner war das Gespenst einer degressiven Kürzung nie wirklich vom Tisch. Im Sommer 2020 stimmte vielmehr auch Vizekanzler Werner Kogler in den neoliberalen Chor ein, Arbeitslose sollten „am Anfang mehr und später weniger“ bekommen. Damit sind, wenig beachtet, auch die Grünen vollends im sozialreaktionären Mainstream angekommen: ein ausgeklügelter finanzieller Druck auf Arbeitslose soll diese zwingen auch noch die windigsten McJobs anzunehmen.

Ganz so unverhohlen scharf formuliert man’s öffentlich freilich nicht, sondern sagt etwa wie Nehammer in wirtschaftlich-neoklassischer Diffamierung der Lohnersatzleistungen:„der Einkommensunterschied zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit” sei zu gering.Damit natürlich das in Wirklichkeit ohnedies bereits kaum für ein Mindest-Lebensniveau ausreichende Arbeitslosengelt denunzierend, statt die skandalös niedrigen Löhne (deren Erhöhung den „Einkommensunterschied“ ja dergleichen aufspreizten).Und um in neoliberaler Abwegigkeit, die hart erkämpften Versicherungsleistungen und Zuwendungen an Arbeitslose zum finanziellen Auffang und der materiellen Abmilderung der Beschäftigungslosigkeit suggestiv aus einer notwendigen Folge der Arbeitslosigkeit in deren vermeintliche Ursache zu verkehren.Eine weitere, besonders ruchlose Variante die Arbeiterschaft bzw. die aus dem Wirtschaftsprozess Ausgespuckten und Aussortierten für das verantwortlich zu machen, worunter sie leiden. Nämlich das seit Mitte der 1970er Jahre strukturell verfestigte Problem der Massenarbeitslosigkeit. Allerdings, auf Boden dieses neoliberalen Popanzes soll das Arbeitslosengeld von heute 55% des letzten Einkommens in Zukunft dann in „degressiver Kürzung“ auf einen Anteil von 50% absinken um den Druck auf Arbeitslose und deren Stigmatisierung weiter zu erhöhen, das Problem zu verklären und von den gesellschaftlichen Ursachen der zudem seit April 2023 wieder kontinuierlich steigenden Massenarbeitslosigkeit und den zurückgehenden offenen Stellen abzulenken.

Arbeitslosigkeit, Einkommensverluste und ein breitflächiges Abrutschen in die Armut

Dabei gehören Arbeitslose in Österreich traditionell schon jetzt zu den Ärmsten der Gesellschaft, führt der Arbeitsplatzverlust ja zugleich zu enormen Einkommenseinbußen. Bereits vor der Inflationswelle war Arbeitslosigkeit ein Hauptgrund für Armut. Wesentlich hierzu trägt nicht zuletzt der Umstand bei, dass das Arbeitslosengeld – die sog. Nettoersatzrate – in Österreich mit 55% des vorherigen Einkommens auch im internationalen Vergleich skandalös niedrig liegt. Nicht nur gegenüber Ländern wie Belgien und Dänemark, in denen diese bei 80% liegt, sondern selbst im Vergleich zum OECD-weiten Schnitt von 65%. Damit müssen Arbeitslos gewordene in Österreich quasi über Nacht mit nur noch beinahe und künftig exakt der Hälfte ihres bisherigen Einkommens ihr Leben fristen und über die Runden kommen. Und die grassierende Hochinflation ließ und lässt das Arbeitslosengeld aufgrund des Wert- und Kaufkraftverlusts real noch weiter dramatisch schrumpfen, zumal es beim Arbeitslosengeld und der Notstandshilfe keine entsprechende Inflationsanpassung oder -Ausgleich gab und die Familienzuschläge überhaupt seit 2001 nicht mehr angepasst wurden.  Entsprechend zeigen die Daten des AMS die Erwerbslosen als die absoluten Verlier:innen der Inflationswelle und war zuletzt denn auch etwa bereits jede/r vierte Arbeitslose mit seiner/ihrer Miete im Rückstand und leben sechs von zehn Langzeitarbeitslosen unter der Armutsgrenze. Dieses Abrutschen in prekäre Lagen betrifft zudem nicht „nur“ die Arbeitslosen selbst, sondern natürlich größtenteils den gesamten Haushalt. Oder plastischer: realiter zugleich Hundertausende Kinder im Land, denen damit zugleich Ausbildungschancen und Freizeitgestaltungen vorenthalten, Wohn- und Entfaltungsqualität beschnitten werden.

Die Reproduktion der Einkommensdifferenzen in den unterschiedlichen Höhen des Arbeitslosengelds

Ein gemeinhin wenig beachteter Aspekt in diesem Zusammenhang, der auch hier nur einmal vermerkt werden soll, ist die dem Versicherungsprinzip des Arbeitslosengelds gemäße Koppelung der Transferleistungen an die finanziellen Beitragsleistungen. Anders als etwa in der Kranken- oder Unfallversicherung (und deren Leistungen nach der Bedürftigkeit der Versicherten), korrespondieren in der Arbeitslosenversicherung die empfangenen Versicherungsleistungen dem sogenannten Äquivalenzprinzip entsprechend grundsätzlich (wenn auch sozialpolitisch gelockert) den geleisteten Sozialbeiträgen bzw. Beitragshöhen. Damit reproduzieren sich in den unterschiedlichen Höhen des Arbeitslosengelds aber zugleich die Einkommensdifferenzen und erreichten Lebensstandards des (vorangehenden) Erwerbslebens auf freilich allgemein nivellierte Art und Weise weiter fort. Aberselbst dieses unzulängliche, mildernde soziale Netzt soll unter dem unverfänglich scheinenden Titel der aktuell diskutierten „Senkung der Lohnnebenkosten“ – im Klartext: einer Kürzung der Soziallohnbestandteile für Dienstgeber:innen – zusätzlich ausgetrocknet werden

Strukturbruch und Wendepunkt

Nun sind dem Kapitalismus weder Arbeitslosigkeit noch Konjunkturschwankungen und Krisenneu, sondern sind ihm vielmehr strukturell eingeschrieben. Die seit je unstete, konjunkturelle Entwicklung des kapitalistischen Systems, bezog die durch Produktionssteigerungen sowie während der beständig wiederkehrenden Krisenperioden erzeugten Arbeitslosen mit jedem neuen Aufschwung sowie mit der Ausdehnung der Produktion jedoch (zumindest zu deren größten Teil) wieder in den Reproduktionsprozess ein und setzte die zuvor aus der Produktion Ausgespuckten damit (wenigstens in wirtschaftlichen Aufschwungsphasen) wieder in Beschäftigung und Broterwerb. Marx prägte für sie die Bezeichnung der „industriellen Reservearmee“. Mit der Weltwirtschafts- und Umbruchskrise 1974/75 trat dahingehend jedoch ein grundlegender Wandel und Strukturbruch ein. Während in früheren Konjunkturzyklen die „industrielle Reservearmee“ im Aufschwung sozusagen aus der Etappe geholt wurde, wurde die Arbeitslosigkeit seither auch im Zuge der Aufschwünge nicht mehr wesentlich abgebaut. Die Arbeitsmärkte erwiesen sich quer durch die kapitalistischen Metropolenländer als nicht mehr aufnahmefähig genug, was zu einer kontinuierlich wachsenden strukturellen Massen- und Langzeitarbeitslosigkeit in den OECD-Ländern führte, in der sich die „industrielle Reservearmee“ teils überhaupt zum „stehenden Heer“, genannt „Sockelarbeitslosigkeit“, wandelt.

Die Entwicklung des Nachkriegskapitalismus als Vergleichsfolie des Strukturbruchs

Um diesen gravierenden Strukturbruch nochmals plastischer in den Blick zu rücken, sei als Vergleichsfolie kurz an die Entwicklung des österreichischen Nachkriegskapitalismus erinnert. Die ebenso kontinuierliche wie dynamische Abnahme an selbständigen bäuerlichen Existenzen (noch Ende der 50er Jahre zählte die Landwirtschaft in Österreich über 23% aller Berufstätigen) konnte durch eine stetige Ausdehnung der Produktion (und begleitender politischer Maßnahmen) am Arbeitsmarkt im Großen und Ganzen ohne größere Friktionen aufgefangen werden. Gleiches kann grosso modo auch hinsichtlich der im Nachkriegskapitalismus aufgrund der Produktivitätssteigerungen, wirtschaftlicher Strukturwandel und Strukturkrisen je aus dem Arbeitsprozess ausgespuckten Beschäftigten konstatiert werden. Parallel hierzu setzte in den 50er und 60er Jahren zudem ein kontinuierlicher Anstieg der Frauenerwerbsarbeit ein (und stieg bis 1971 auf bereits 37% aller unselbständig Erwerbstätigen). Zeitgleich wurden ab Mitte der 60er Jahre noch eine Reihe von Anwerbeabkommen geschlossen. Gleichwohl lag die Arbeitslosenzahl im Jahresdurchschnitt 1970 bei lediglich 59.000 und sank im Jahr 1974 sogar auf bloße 36.000 ab (bei gegenüberstehenden rd. 57.500 gemeldeten offenen Stellen) – womit die Zahl der offenen Stellen zugleich noch jene der Arbeitslosen überstieg. Im Gefolge der Wirtschaftskrise 1982/83 schlug der Strukturbruch in der Entwicklung des Kapitalismus dann auch in Österreich mit voller Wucht durch. Im konjunkturellen Auf und Ab zwar jeweils modifiziert, kommt es gleichzeitig zu keinem signifikanten Abbau der Massen- bzw. Dauerarbeitslosigkeit mehr und hat sich diese in den multiplen Krisen der letzten Jahre strukturell weiter verfestigt und treibt immer mehr Arbeitslose infolge der immer unzulänglicheren sozialen Sicherungssystem in die offene Armut.

Für ein armutsfestes Arbeitslosengeld

Dementsprechend gewannen über die letzten Jahre auch die Forderungen und Initiativen nach einer massiven, lebensstandardsichernden und armutsfesten Anhebung des Arbeitslosengeldes immer mehr an Zuspruch und Brisanz. Als KOMintern fordern wir mit anderen daher seit Langem nachdrücklich eine sofortige Erhöhung des Arbeitslosengelds auf 80% des letzten Netto-Entgelts. Denn der immer weiter grassierenden Armut aufgrund der Joblosigkeit entgegenzusteuern und das Ziel eines zumindest armutsfesten Arbeitslosengeldes zu erreichen, verlangt schlicht danach. Genau diese 80% würden nicht nur das durchschnittliche Arbeitslosengeld von mit dem Jahresbericht 2022 zuletzt erhobenen gerade einmal knapp 1.000 Euro pro Monat (mit Ergänzungsbetrag bei 1.110 Euro) über die Armutsschwelle heben (die nach EU-SILC 2022: 1.371 Euro – für einen Ein-Personen-Haushalt – beträgt). Und es würde zudem auch dem Abrutschen in die Notstandshilfe (die nur mehr 92% des Arbeitslosengeldes beträgt) einen monetären Riegel des Absturzes unter die Armutsgrenze vorschieben.

Die seitens des ÖGB und der Sozialdemokratie geforderte Anhebung auf 70% hingegen reicht für dieses Mindestziel eines armutsfesten Arbeitslosengeldes nicht aus, obschon sie natürlich für gesamt hunderttausende Menschen ein bitter nötiger Mindestschritt wäre. Ob und wie weit sich die dringend erforderliche Anhebung durchsetzen lässt, entscheidet sich jedoch im aktiven gesellschaftlichen Kampf und dessen Kräfteverhältnissen. Umso nötiger nur, die Forderung nach einem sofortigen lebensstandardsichernden und armutsfesten Arbeitslosengeld auf die politische und gewerkschaftliche Kampfagenda zu setzen.

Und last but not least: Eine Frage der sozial-ökonomische Rahmenbedingungen gewerkschaftlicher Machtressourcen

Auch, zumal die sich zum „stehenden Heer“ verfestigte Massenarbeitslosigkeit der „Reservearmee“ die Arbeits- und Lebensverhältnisse der Werktätigen erodieren lässt, die Konkurrenz in den Reihen der abhängig Beschäftigten verstärkt, einen beständigen Druck auf die Entwertung der Arbeitskraft ausübt, als individuelle wie kollektive Disziplinierungspeitsche wirkt und in mannigfachen weiteren Begleitfolgen die Kampfbedingungen der Gewerkschaften schwächt. Denn dass dieser Strukturbruch Mitte der 1970er/Anfang der 1980er Jahre auch das Schwinden der Gegenmacht der Gewerkschaften befeuert, ist seit Langem ein Gemeinplatz.

 

Foto: Thomas Ledl / CC BY-SA 4.0 Deed

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