Aus- & Rückblick: 100 Jahre türkische Republik und ihre dunklen Seiten – Das Maraş-Massaker von 1978

Im kollektiven Gedächtnis der westeuropäischen Linken nie so richtig Wurzeln geschlagen, entfachte die Türkei ihre gesamte Geschichte hindurch blutige Massaker, Pogrome, politische Hexenjagden, offenen Terror, extralegale Hinrichtungen und schmutzige Kriege. Eine Kette an – ob zunächst als despotisch, kemalistisches, staatliches ‚Homogenisierungsprojekt‘ oder später nahtlos unter einer erneuerten militanten „türkisch-islamischen Synthese“ fortgesetzt – sich bis in die jüngere und aktuelle Geschichte ziehende Gemetzel, die zehntausende Opfer forderten: allen voran AlevitInnen, KurdInnen und Revolutionäre. Und angesichts der tiefen Hegemoniekrise in der sich die faschistische AKP/MHP-Koalition befindet, sowie des bröckelnden Herrschaftsblocks, forciert Ankara mit Blick auf den 100. Gründungstag der Republik (2023) und die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen erneut die Gangart, Repression und seinen Krieg gegen missliebige, oppositionelle und linke Kräfte im In- und Ausland.

Auf den morgigen Tag genau vor 44 Jahren, am 19. Dezember 1978, begann in Maraş (einer überwiegend kurdisch alevitischen Stadt im Süden) – mit Höhepunkte in der Nacht des 22. und am 24.12. – ein einwöchiges Massaker an AlevitInnen, KurdInnen und Revolutionäre. Das vom türkischen Staat, paramilitärischen Kräften orchestrierte, sowie vom MHP-Vorsitzenden Alparslan Türkeş angetriebene und zusammen mit einem aufgestachelten Mob, der von Viertel zu Viertel zog, begangene Gemetzel dauerte bis zum 26. Dezember. Einzelne Mullahs riefen begleitend zum Dschihad gegen die „Ungläubigen“ auf. Selbst nach offiziellen türkischen Zahlenangaben wurden in diesem eine Woche andauernden Massaker 111 AlevitInnen, KurdInnen und Revolutionäre viehisch hingemordert und massakriert. Darunter etwa auch eine 80-jährige Großmutter. Unzählige weitere Frauen und Mädchen wurden vergewaltigt. Ihrer aller Vermögen wurden beschlagnahmt, ihre Häuser und Geschäfte in Brand gesteckt und zerstört. Schwangeren Frauen wurden in diesem bestialischen Treiben ihre Kinder aus dem Leib geschnitten. Viele Einzelheiten des damaligen Verbrechens gegen „Kommunisten und Aleviten“, wie es in den faschistischen Schlachtparolen hieß, sind an Grausamkeit kaum zu überbieten.

In welche Kontinuitätslinie sich das Massaker von Maraş dabei bis in das heutige Regime der faschistischen AKP/MHP-Regierungskoalition der Türkei einordnet, zeigt nicht nur dessen eigene brachiale Unterdrückungs- und Verfolgungspolitik gegen das Alevitentum, dessen seit Jahren tobender Krieg gegen die KurdInnen im Land und südlich der Grenzen sowie die im systematischen Staatsterror zu vogelfrei erklärten Revolutionäre, sondern bewies auch die Ernennung des damaligen Polizeipräsidenten Abdülkadir Aksu zum späteren Innenminister Erdoğans (2002/03 – 2007) sowie die skandalöse Begnadigung von Ahmet Turan Kılıç, eines der Drahtzieher und Täter des späteren Sivas-Massakers, im Februar 2020. Der Aleviten-Schlächter Kılıç wurde später wegen des Massenmordes zunächst zum Tode verurteilt und seine Strafe nach der Abschaffung der Todesstrafe in lebenslängliche Haft umgewandelt. Im Frühjahr 2020 hat ihn Erdoğan begnadigt. Während gegen die linke, kurdische, gewerkschaftliche und demokratische, sowie nicht zuletzt alevitische Opposition ungebrochen eine regelrechte Hexenjagd durchs Land am Bosporus rollt und seit Monaten, fast unbeachtet von der medialen Öffentlichkeit, mit grünem Licht der NATO-Partner Ankaras Krieg gegen Rojava und Kobanê in Nordsyrien sowie gegen die Medya-Verteidigungsgebiete im Nordirak tobt,lebt der Sivas-Schlächter wieder auf freiem Fuß. Eine offene Verhöhnung der alevitischen und anderweitigen Opfer sämtlicher Pogrome und Massaker sowie zugleich politisches Kalkül Erdoğans um seinen bröselnden reaktionären Herrschaftsblock zu kitten und seine tiefe Hegemoniekrise mit nationalistischem Taumel zu übertünchen.

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