Weltklima vor dem Kippen – UNO rüffelt die EU

Vor exakt einem halben Jahrhundert, 1972 in Stockholm, fand die erste UN-Umweltkonferenz statt – was mit André Leisewitz gesprochen zeigt, dass man sich der globalen Umweltprobleme, denen es gegenzusteuern gilt ,selbst „in den politischen Institutionen der Zentren des entwickelten Kapitalismus klar (wurde)“. Spätestens seit dem historischen „Erdgipfel“ von Rio de Janeiro vor 30 Jahren (1992) bzw. dem vorbereitenden, ersten ausführlichen UNO Klima-Report 1990 wiederum gilt die durch den menschlichen Einfluss verursachte globale Klimaerwärmung, nach vielen Zwischenstufen, weltweit als nicht mehr bestritten. Aber auch weitere exakte 25 Jahre nach dem Kyoto-Protokoll (1997) und 7 Jahre nach der Pariser Klimakonferenz steigen die Emissionen unvermindert an und überschreiten wir in Riesenschritten das 1,5°-Ziel, das nach einer neuen Studie womöglich noch nicht ausreicht um das Kippen des Klimasystems zu verhindern. „Angesichts der weitergehenden Klimakrise“, rief die stellvertretende UNO-Kommissarin für Menschenrechte, Nada Al-Nashif, die EU gerade auf, „gibt es keinen Platz für ein Zurückweichen.“

Historisch Interessierte könnte im Revuepassieren des seitherigen halben Jahrhunderts des kapitalistischen Raubbaus an der Natur und des akkumulations- und profitgetrieben verursachten Klimaumbruchs fast ein Déjà-vu ereilen. Besaß ein zur Stockholmer Umweltkonferenz erschienenes Buch den seinerzeitigen Titel „Only one Earth“, begegnet einem seit der, den Klimawandel und Umweltprobleme mit neuer Eindringlichkeit aufwerfenden, aktuellen Klima- und Umweltbewegung die im Grund selbe Losung in gewandelter Gestalt als „There is no planet B!“.

Gleichwohl: Sämtlichen Projektionen zufolge überschreiten wir aufgrund der bislang unverminderten Emissionsentwicklung wohl schon in ein paar Jahren, sehr wahrscheinlich noch vor 2030, die 1,5° C. Gleichzeitig sieht eine aktuelle Studie der internationalen Forschergruppe um David Armstrong McKay und Timothy Lenton (die sich seit 2008 mit den Risiken von irreversiblen, möglicherweise abrupten Veränderungen – den Klima-Kippelementen – beschäftigt) in einer Neubewertung der Daten der letzten Dekade mittels eines aktualisierten Modells, das Klima schon früher kippen als bislang angenommen. Ihrer Studie zufolge reicht selbst das Pariser 1,5-Grad-Ziel womöglich nicht aus, um den Kollaps zu verhindern, werden schon bei einer Erwärmung um 1,5° mit einiger Wahrscheinlichkeit mehrere Schwellenwerte überschritten – womit sich die Klimakrise in einer planetaren Kettenreaktion verselbständigen und vielfach unumkehrbar außer Kontrolle geraten würde.

Die neuen Forschungsergebnisse besagen nicht weniger, als dass einerseits das alte, die Klimadebatte lange begleitende 2°-Ziel schlechthin obsolet ist und wir andererseits eventuell schon 2030 vier der gefährlichen ökologischen Schwellen überschreiten könnten: das unwiederbringliche Abschmelzen der grönländischen und westantarktischen Eisschilde, das Tauen der Permafrost-Böden und das Absterben der tropischen Korallenriffe. Damit verschärft besagter Kreis führender Klimaforscher und PIK-Experten (Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung) aus mehreren Ländern, nur wenige Monate nach dessen Erscheinen noch einmal den letzten Bericht des Weltklimarats IPCC. Zu alledem ist unter ExpertInnen auch die Liste der gefährdeten Kipppunkte weiter angewachsen.

„Schon ab 1,5 Grad nehmen wir gewaltige Risiken in Kauf“, unterstreicht Mitautor Johan Rockström – der schwedische wissenschaftliche Ko-Direktor des PIK und Ko-Vorsitzender der „Earth Commission“ – nachdrücklich. Auch für ihn wurde die Gefährdungslage der Klima-Kippelement und deren Empfindlichkeit auf die Erderhitzung bislang noch unterschätzt. Den neuesten Forschungsergebnissen zufolge schrillen die Alarmglocken vielmehr bereits bei 1,5°. Und: „Die Vorstellung, wenn wir 1,5 Grad nicht schaffen, dann werden es eben zwei Grad, ist ein gefährlicher Trugschluss.“ Denn bei zwei Grad ist das Klima bereits aus dem Lot.

Allerdings, während der die erste Umweltkonferenz der Vereinten Nationen in Stockholm vorbereitende UN-Generalsekretär U Thant noch die „historische Verantwortung“ des globalen Nordens – konkrekt: der früh- oder altindustrialisierten entwickelten kapitalistischen Länder und Zentren – einmahnte, auf eben welche dieser Tage auch Nada Al-Nashif pochte, wurde diese gleichviel spätestens mit dem westlichen Gezerre um das Kyoto-Protokoll und der späteren UN-Klimakonferenz in Poznan (2008) im Schatten der Finanz- und Wirtschaftskrise in einem großen Offenbarungseid des Kapitalismus entsorgt. Eine solche laufe dem Profitstreben des kapitalistischen Wirtschaftsmodells zuwider bzw. sei wegen je anderer Problemlagen und der entfesselten Weltmarktkonkurrenz nicht zu priorisieren. Dabei: bilanziert man den Aufbrauch des länderbezogenen CO2-Rest-Budget seit 1990 (Erscheinungsjahr des 1. UN-IPCC-Berichts), wird zudem noch deutlich, dass zahlreiche kapitalistische Industriestaaten dieses bereits seit Jahren komplett aufgebraucht haben und schon langjährig (z.T. schon seit Jahrzehnten) überziehen.

Gelingt es jedoch nicht die globale Erwärmung in der gebotenen Dringlichkeit zu stoppen (bzw. mindestens noch radikal einzuhegen) „ist die Erde geradewegs auf Kurs, mehrere gefährliche Schwellenwerte zu überschreiten, die für die Menschen auf der ganzen Welt katastrophale Folgen haben würden“, so nochmals Johan Rockström. Vor diesem Hintergrund ist der Aufschrei der UNO über die geopolitisch motivierte Zurückstellung der Klimapolitik und Emissions-Prolongierung der EU, ja ökologisch verheerende Umsteuerung unter der alles dominierenden Perspektive ihrer Weltordnungsstrategie nur allzu verständlich. Anstatt, wie von Ursula von der Leyen zu Amtsantritt großspurig verkündet, die Führung in der internationalen Klimapolitik zu übernehmen (was freilich schon seinerzeit eine bloße Augenauswischerei für Milliarden-Investitionen in einen angeblichen „grünen Kapitalismus“ war), verglühen im Windschatten des Ukraine-Kriegs selbst die „bottom-up‘s“ der EU zur Makulatur. Drastisch zeigen das etwa die milliardenschweren Investitionen in neue Pipelines, Frackinggas-Spezialterminals, überhaupt die Wende hin zum ebenso extrem umweltverschmutzend gewonnenen wie teureren Flüssiggas (allen voran) aus den USA, der Renaissance der Kohleverstromung mit noch hinzukommend aus Australien herangeschipperter Kohle, oder der (Taxonomie-)Persilschein für die Atomenergie als „nachhaltige Energiequelle“. Das Ergebnis eines halben Jahrhunderts realer kapitalistischer Klimapolitik lässt so das Klima wohl endgültig kippen.

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