Von der Leyen zur Lage der EU: ‚wertebasiertes Gas‘ aus Aserbaidschan & eine Luftnummer zur Energiepreisexplosion

Am Mittwoch hielt EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ihre diesjährige Rede zur Lage der Europäischen Union. Sosehr diese freilich einer umfangreicheren Analyse wert ist, wollen wir vorliegend (mit einem abschließenden Blick auf die EU-Kommissionspläne zur Energiekrise) nur einen Aspekt anziehen: die beschworenen, alternativen „zuverlässigen Lieferanten“ von Gas.

Und hier wiederum nicht die expressis verbis genannten Länder – zu denen es ebenfalls viel zu sagen gäbe –, sondern das als große Leerstelle nicht erwähnte Aserbaidschan, das sie selbst erst im Juli bereist hatte um mit seinem autokratischen Präsidenten Ilham Alijew eine „Energiepartnerschaft“ abzuschließen. Der hat allerdings kurz vor ihrer Rede den Kaukasus-Konflikt neu entfacht und Armenien überfallen, das er seither bombardieren lässt (oder zumindest ließ). Jörg Kronauer hat in mehreren Artikeln in unterschiedlichen Zeitungen den geopolitischen Hintergrund und die Rolle der NATO-Macht Türkei im Krieg um ihre „türkische Seidenstraße“ beleuchtet. Hier interessiert allerdings nur der unerträgliche doppelte Standard der „wertebasierten“ Außen- und Energiepolitik des Westens – die geradezu konträr zu ihren davor dem EU-Parlament mit einem „Slava Ukrajini“ (dem traditionellen faschistisch Gruß der Ukraine) untermalten „Begründungen“ und Durchhalteparolen der EU-Sanktionspolitik gegen Moskau stehen. Worum es in dieser aserbaidschanisch-türkischen Aggression (in der 2020 übrigens auch Kiew mitmischte) eigentlich geht, lässt sich im Näheren Kronauers weiteren Ausführungen in seinem lesenswerten nd-Kommentar „Erdgas vom Aggressor“ („https://www.nd-aktuell.de/artikel/1166905.aserbaidschan-und-armenien-erdgas-vom-aggressor.html?sstr=Erdgas|vom|Aggressor) entnehmen.

„Keine zwei Monate ist es her, da geriet Ursula von der Leyen fast ins Schwärmen. Auf der Suche nach neuen Erdgaslieferanten für die EU hatte sich die Kommissionspräsidentin auf Reisen begeben, hatte Verhandlungen geführt und schließlich ein vorzeigbares Teilergebnis erreicht. Ihrem Ziel, sich von russischem Erdgas unabhängig zu machen, schien Brüssel so langsam näherzukommen. »Die EU hat sich entschieden«, ließ sich von der Leyen am 18. Juni stolz vernehmen, sich von Russland ab- und »verlässlicheren, vertrauenswürdigeren Partnern zuzuwenden«. Die da wären? »Ich freue mich«, strahlte die Kommissionspräsidentin, die sich gerade in Baku aufhielt, Präsident Ilham Alijew an ihrer Seite, »Aserbaidschan zu ihnen zählen zu können«. Alijew hatte ihr die Aufstockung der Erdgaslieferungen aus seinem Land bis 2027 von acht auf 20 Milliarden Kubikmeter pro Jahr zugesagt.

Verlässlich? Vertrauenswürdig? Menschenrechtlern trieb von der Leyens süßliche Lobhudelei damals die Zornesröte auf die Stirn. In der Nacht auf Dienstag dieser Woche bewies die aserbaidschanische Regierung, dass sie auch nach außen keine Hemmungen kennt: Ihre Streitkräfte griffen Armenien an, beschossen armenische Truppen, aber auch mehrere armenische Städte ein ganzes Stück hinter der Grenze. Und sollte jemand vergessen haben, dass der »verlässliche, vertrauenswürdige Partner« der EU im Herbst 2020 schon einmal Armenien überfallen hatte – die Erinnerung daran ist spätestens jetzt wieder da.“

Nebenbei: Japan, dessen Energiesystem natürlich vielberedete eigene Problem hat, hat zumindest dieses Problem nicht. Denn Tokio „hat den Erdgassektor des Landes“, wie german-foreign-policy gerade herausstrich, „dezidiert aus dem Wirtschaftskrieg gegen Moskau ausgeklammert; japanische Konzerne halten ihre Beteiligungen an russischen Förderprojekten aufrecht – unter anderem am Flüssiggasprojekt Sachalin II.“ Nippons Konzerne „beteiligen sich“ selbst ungeachtet russischer Umstrukturierungen die Betreiberfirma betreffend „weiter an Sachalin II – auch, um Japan für die Zukunft kontinuierliche Lieferungen zu sichern. Die russische Seite gewährt diese, wie berichtet wird, zu unveränderten, also vergleichsweise überaus günstigen Konditionen, während … die EU vor einem möglicherweise dramatischen Erdgasmangel steh(t).“ Für ein derartiges geopolitisch-energetisches Hasardspiel war nicht einmal der reaktionäre, stramm pro-westliche Premier Fumio Kishida mit ins Boot zu holen.

Dass die von Ursula von der Leyen präsentierten Kommissions-Pläne hinsichtlich der Energiekrise, außer dem geostrategischen Persilschein für das autokratisch regierte Kriegsregime Asabaidschan, ansonsten weder Eingriffe in die Strombörse und eine im Lichte der historischen Extra-Profite und dramatischen Teuerungswelle geradezu lächerlichen – zudem vage gehaltenen und unverbindlichen – Vorschlag einer europäischen „Übergewinnsteuer“ von kolportierten mauen 33% enthielt, der zudem noch nicht einmal die gesamte Wertschöpfungskette des fossilen Sektors umfasst, runden die Prioritäten des politischen Personals Europas ab. 

Um den angebrochenen „Krisenherbst“ und bevorstehenden Winter in einen „heißen Herbst“ für unsere Lebens- und Arbeitsinteressen zu verwandeln, dürften wir die Bühne nicht länger den politischen Führungs-Figuren überlassen, sondern müssen uns schon selbst aus den Publikumssitzreihen erheben, das Theater beenden und die Inszenierung des gespielten Stücks selbst in die Hände nehmen. Diesen Samstag 14.00 Uhr bietet sich auf den österreichweiten ÖGB-Demonstrationen die Auftaktgelegenheit dafür!

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