Anschließend an Teil I führen wir hier den Debattenbeitrag Matthias Koderholds zu einer gesamtgesellschaftlichen, klimapolitischen Perspektive aus „Kurswechsel“ 1/2024 mit der Frage „Rettungsanker Technologie?“ und einem Resümee fort.
Rettungsanker Technologie?
Auch wenn Technologien und (Energie-)Infrastruktur ein wesentlicher Baustein im Kampf gegen die Klimakrise sind, ist es fahrlässig sich hauptsächlich auf ein erneuerbares Energiesystem, technologischen Fortschritt oder Produktivitäts- und Effizienzgewinne zu verlassen. Zwar sind Technologien für wesentliche Emissionsreduktionen vorhanden, aber ihre Ausrollung bedarf umgehender und weitreichender Veränderungen über multiple Sektoren sowie weiterer Forschung und Entwicklung um die Klimaziele zu erreichen. Zudem hängen die Technologien stark von Elektrizität und damit von ausreichend grünem Strom ab, um Emissionen nicht auf den Energiesektor auszulagern. So beträgt der Strombedarf für weitgehende CO2-Neutralität – direkt und für grünen Wasserstoff –z.B. in der chemischen Industrie bei fortlaufend steigendem Output 60 TWh (exklusive synthetischer Treibstoffe, Windsperger et al. 2018, S 32) und in der Stahlproduktion bei konstantem Output 30 bis 35 TWh (Mayer et al. 2019). Im Vergleich dazu sieht das Erneuerbaren-Ausbau-Gesetz Stromerzeugung aus erneuerbaren Quellen von 82 TWh (2030) und 93 TWh (2050) vor. Grüner Wasserstoff wird auf absehbare Zeit ein knappes Gut bleiben. Bereits der Ersatz der derzeit fossil erzeugten Wasserstoffmengen durch klimaneutrale stellt mit heimischen Produktionskapazitäten eine Herausforderung dar, woher die erforderlichen Importe stammen sollen, bleibt unklar (BMK/BMDW 2022). Um den Flugverkehr „grün“ zu machen setzt die ReFuelEU-Aviation-Verordnung für die Periode 2032 bis 2034 eine Unterquote von 6 % für nachhaltige Flugkraftstoffe bzw. von 2 % für E-Kerosin fest (EU 2023), wodurch in der EU fast das Dreifache der bestehenden und angekündigten globalen Produktionskapazitäten für E-Kerosin 2032 benötigt werden würde (Neuling 2023, S 23f). Unternehmen und Branchen treten mit ihren technologischen Lösungsansätzen damit untereinander und international in Energiekonkurrenz.
CO2-Abscheidung und -Speicherung (CCS) wird zunehmend ins Spiel gebracht, um Klimaneutralität zu erreichen. Abgesehen von hohen Investitionskosten vergehen allerdings viele Jahre bis Jahrzehnte, bis die großen Kraftwerke und Produktionsanlagen technisch ausgerüstet sind, die Infrastruktur für die Tiefenlager errichtet ist und offene technische Fragen gelöst sind. Der Energieaufwand für Abscheidung, Kompression, Transport und Einlagerung ist darüber hinaus hoch (Streissler 2023). Damit stellt CCS keine Lösung zur Erreichung der Klimaziele 2030/40 dar, kann bestenfalls einen Beitrag leisten und sollte sich möglichst auf das Einfangen von unvermeidbaren Prozessemissionen beschränken.
Einsatz von Technologie wird im Kampf um unsere Lebensgrundlagen wichtig sein, darf aber nicht zu einem weiter wie bisher führen, muss soziale und ökologische Folgen und Verschiebungen berücksichtigen und sowohl kurz als auch langfristig mit den Klimazielen vereinbar sein. Der Einsatz von Technologie muss dem Kampf gegen die Klimakrise dienen und darf nicht zum Standortwettbewerb verkommen.
Eine datenbasierte Entscheidungsgrundlage für Klimaschutz
Zur Erreichung der Klimaziele braucht es einen integrierten, sektorübergreifenden, gesamtgesellschaftlich koordinierten und flexiblen Pfad, in dem verschiedene CO2-Reduktionsmaßnahmen kombiniert werden. Er kann Politik, Unternehmen und Konsument:innen Wissen und Perspektiven verschaffen, um entschiedene Schritte im Kampf gegen die Klimakrise zu setzen und gesellschaftlich über unterschiedliche Reduktionspfade zu entscheiden. Eine Perspektive, die auf eine nachhaltige Bereitstellung von Gütern und Dienstleistungen abzielt und die mit ihr über (inter)nationale Wertschöpfungsketten kumulierten sowie beim Ge- und Verbrauch verbundenen Treibhausgasemissionen abbildet, kann Hebel und Wege zur Erreichung von Klimaneutralität identifizieren und eine datenbasierte Entscheidungsgrundlage für Emissionsverringerungen bieten. Werden direkte Produktionsemissionen, indirekte energiebedingte Emissionen sowie vor- und nachgelagerte Emissionen inklusive Endverbrauch entlang der Wertschöpfungsketten Gütern oder Gütergruppen zugerechnet, ermöglicht dies zielgerichtete Maßnahmen im gesamtgesellschaftlichen Kontext, die verfügbare Potenziale für erneuerbare Energie, technologische Alternativen, kreislaufwirtschaftliche Ansätze, Regionalisierungsmöglichkeiten, Vermeidungsstrategien sowie das verbleibende Treibhaugasbudget berücksichtigen.
Da umfassende strukturelle und individuelle Veränderungen in allen Lebensbereichen dringend nötig sind, kann darauf aufbauend eine datenbasierte, qualifizierte und rationale Diskussion ermöglicht werden, wie der Umbau unserer Wirtschafts- und Lebensweise unter Einhaltung der Klimaziele mit den entsprechenden Restbudgets an Treibhausgasen erreicht werden kann. Es kann entschieden werden, wo Prioritäten sowie strategische Investitionen in Infrastruktur und Produktionskapazitäten gesetzt werden müssen, welche Qualifikationen und Arbeitsplätze für die Transformation benötigt werden und wie ein sozial gerechter Umbau gelingen kann. Es wird eine ehrliche Diskussion darüber ermöglicht, welche Konsummöglichkeiten mit einer Erreichung der Klimaziele schwer bzw. nicht vereinbar sind. Damit kann für notwendige Klimaschutzmaßnahmen Bewusstsein und Unterstützung in der Gesellschaft geschaffen werden.
Literatur
BMK/BMDW (2022): Wasserstoffstrategie für Österreich, S 35f. Ähnliches Szenario für Deutschland: https://www.wasserstoff-kompass.de/handlungsfelder#/import
Chancel, Lucas/Rehm, Yannic (2023): The Carbon Footprint of Capital: Evidence from France, Germany and the US based on Distributional Environmental Accounts, World Inequality LAB Working Paper N°2023/26.
Climate Change Centre AUSTRIA (2022): Klimawandel, Vermeidung und Anpassung, https://ccca.ac.at/fileadmin/00_DokumenteHauptmenue/02_Klimawissen/FactSheets/40_treibhausgas_budget_202212.pdf.
EU (2023): Regulation (EU) 2023/… of the European Parliament and of the Council oft he European Union on ensuring a level playing field for sustainable air transport (ReFuelEU Aviation), https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/A-9-2022-0199-AM-137-137_EN.pdf, S 89.
Griffin, Paul (2017): CDP Carbon Majors Report 2017.
Heck, Ines/Kapeller, Jakob/Wildauer, Rafael (2020): Vermögenskonzentration in Österreich – Ein Update auf Basis des HFCS 2017, Materialien zu Wirtschaft und Gesellschaft, AK Wien.
Klien, Michael/Böheim, Michael/Streicher, Gerhard/Weingärtler, Michael (2023): Die Rolle des öffentlichen Vergabewesens für eine klimaneutrale Produktions- und Lebensweise, WIFO.
Mayer, Jakob/Bachner, Gabriel/Steininger, Karl W. (2019): Macroeconomic implications of switching to process-emission-free iron and steel production in Europe, Journal of Cleaner Production 210, 1517-1533.
Neuling, Ulf/Berks, Leon (2023): E-Fuels zwischen Wunsch und Wirklichkeit, Agora Verkehrswende.
Streissler (2023): Kohlendioxid verschwinden lassen – Ein Zaubertrick, Wirtschaft & Umwelt 4/2023, AK Wien.
Theine, Hendrik/Humer, Stefan/Moser, Mathias/Schnetzer, Matthias (2022): Emissions inequality: Disparities in income, expenditure, and the carbon footprint in Austria, Ecological Economics 197.
Windsperger, Andreas/Schick, Michael/Windsperger, Bernhard (2018): Perspektiven der Decarbonisierung für die chemische Industrie in Österreich, Institut für industrielle Ökologie.