Die von der AKP mit feurigen Nadeln gestrickte Erzählung rund um die Bombenexplosion in der beliebten Einkaufsstraße Istiklal in Istanbul – die letzten Sonntag sechs Menschen das Leben kostete –, sowie die im Eiltempo festgenommene und als „kurdische Terroristin“ vorgeführte Frau im lila „New York“-Pullover (ein Seitenhieb auf den US-Verbündeten, der sich gegen den türkischen Waffengang auf Kobanê sperrt), roch selbst für so manche Mainstream-Medien umgehend nach einer augenscheinlich inszenierten Ausschlachtung des Anschlags. Andere übernahmen trotz aller Ungereimtheiten freilich zunächst einmal die türkische Erzählung, hegen zwischenzeitlich aber auch vielfach so ihre Zweifel daran. Genau pünktlich zum Abflug zum G20-Gipfel und persönlichem Zusammentreffen mit Joe Biden um grünes Licht für den Einmarsch in Nordsyrien zu erreichen, ob der tiefen Wirtschaftskrise im Umfragetief vor den bevorstehenden Wahlen steckend, ein Zusammengehen der Opposition fürchtend, … scheinen der unter vorhergehend verhängter Nachrichtensperre in rekordverdächtiger Geschwindigkeit sowie anschließend theatralisch präsentierte „Fahndungserfolg“ mit dem die türkische Regierung die PKK bzw. YPG/PYD für den Anschlag verantwortlich macht und erklärte: „Wir werden zurückschlagen“ auch zahlreichen Leit-Medien immer dubioser.
Begleitend tauchten in den sozialen Medien einen Tag später denn auch die ersten Fragen auf. Angriffe auf Zivilisten? Das passe einfach nicht zur PKK – die die Anschuldigungen auch ebenso wie die YPG und SDF umgehend und entschieden zurückgewiesen hat. Wie konnte die mit Klarnamen vorgeführte Frau im lila Pullover über Afrîn und Idlib in die Türkei gelangen, sind diese Gebiete doch unter türkisch-dschihadistischer Kontrolle und umgeben von einer Grenzmauer, um flüchtende Syrer aus der Türkei fernzuhalten? Dem Aussehen nach komme die junge Frau eher aus Nordafrika. In Kobanê kenne sie niemand. Warum kehrt sie nach dem Anschlag in ihre Wohnung zurück und wartet auf ihre Festnahme? … Die Spuren weisen zwischenzeitlich denn auch vielmehr auf eine False Flag-Operation des „tiefen Staats“, wie auch Nick Brauns in der JungeWelt heute nachzeichnet:
Nachdem am Sonntag eine Bombenexplosion in der belebten Istanbuler Fußgängerzone Istiklal Caddesi sechs Menschen in den Tod riss sowie mehr als 80 weitere verletzte, war der türkische Innenminister Süleyman Soylu schnell dabei, kurdische Rebellen als Urheber des Anschlags zu beschuldigen. Sowohl die Guerilla der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) als auch die Volksverteidigungseinheiten (YPG) in Nordsyrien haben diese Anschuldigungen umgehend zurückgewiesen. Eine Reihe von Ungereimtheiten und Enthüllungen lassen das Konstrukt der Regierung zunehmend in sich zusammenbrechen.
Diese hatte angegeben, bei einer wenige Stunden nach dem Anschlag in ihrer Istanbuler Wohnung festgenommenen Frau, die die Bombe gelegt haben soll, handele es sich um eine Syrerin namens Ahlam Albasir. Diese sei von der PKK bzw.den YPG ausgebildet worden und habe den Anschlag im Auftrag von Hintermännern aus Ain Al-Arab – so der arabische Name für die Stadt Kobani in der nordostsyrischen Selbstverwaltungsregion – begangen.
Bilder der festgenommenen vermeintlichen Bombenlegerin zeigen eine völlig eingeschüchtert wirkende dunkelhäutige Frau in Handschellen zwischen zwei türkischen Fahnen, ihr Gesicht weist Spuren von Schlägen auf. Auf Bildern von Überwachungskameras, die die Attentäterin nach dem Anschlag zeigen sollen, ist dagegen eine Frau mit schwarzem Hijab und Militärhosen in Camouflagemuster zu erkennen. Diese weist nur entfernte Ähnlichkeit mit der Festgenommenen auf, bei der es sich optisch um eine Ostafrikanerin handeln könnte.
»Niemand in unserer Region kennt die Person, die den Anschlag verübt hat«, erklärte Salih Muslim, der Kovorsitzende der in der nordsyrischen Selbstverwaltungsregion führenden Partei der Demokratischen Union (PYD), gegenüber der Nachrichtenagentur ANF vom Mittwoch. »Sie ist keine Kurdin und hat keine Beziehung zur Selbstverwaltung von Rojava«, so Muslim. Aus Albasirs Social-Media-Accounts gehe vielmehr hervor, dass sie Verbindungen zu Gruppen wie der »Freien Syrischen Armee« (FSA) habe. So gebe es Fotos, die die Frau vor Fahnen der »Sultan-Murad-Brigade« zeigen, einer islamistischen Söldnertruppe der Türkei. Es handele sich beim Anschlag um eine von der türkischen Abteilung für Spezialkriegsführung organisierte »osmanische Intrige«, ist sich PYD-Chef Muslim sicher. Ziel sei es, einen türkischen Angriff auf die Stadt Kobani vorzubereiten.
Eine mögliche Verwicklung des »tiefen Staates« aus Geheimdienst, Mafia und Faschisten in den Anschlag ergibt sich zudem durch eine Auswertung von Telefonverbindungsdaten Albasirs. Wie die Nachrichtenseite T24 trotz weiterhin geltender Nachrichtensperre am Dienstag in Erfahrung bringen konnte, war von Albasirs Mobiltelefon mehrfach ein Anschluss angerufen worden, der auf Mehmet Emin Ilhan zugelassen ist. Der wegen Drogenhandels vorbestrafte Ilhan ist Vorsitzender der faschistischen MHP im Landkreis Güclükonak. Dort, in der vornehmlich von Kurden bewohnten südostanatolischen Provinz Sirnak, besteht die Organisation der Grauen Wölfe der MHP fast ausschließlich aus Angehörigen des Staatsapparates. Der zum Polizeiverhör geladene MHP-Funktionär stritt laut T24 jeden Kontakt zu Albasir ab und behauptete, eine »Terrororganisation« habe ihm »einen Streich gespielt«. Doch der linke Onlinesender Özgür TV berichtete am Mittwoch, Ilhan habe die spätere Attentäterin im Auftrag von Arslan Tatar nach Istanbul gebracht. Dieser aus Sirnak stammende Geschäftsmann aus dem Tatar-Stamm, der 2015 für die Regierungspartei AKP kandidiert hatte, gilt als rechte Hand von Innenminister Soylu in der Bergprovinz.
Foto: ANF