„Das Missverhältnis zwischen dem niedrigen Lohnniveau und den sprunghaft wachsenden Profiten war aufreizend“, so der Historiker Hans Hautmann in seiner Abhandlung „Der Platz des Oktoberstreiks in der österreichischen Geschichte“ zur sozialökonomischen Lage an der sich am 25. September 1950 die damalige große Auflehnung entzündete. Mit dem 3. Lohn- und Preisabkommen von 1949 setzte bereits ein rigoroser Preisauftrieb ein der zu breitflächigen Protesten, Demonstrationen und Streiks führte.
Unter den Beschäftigten gärte es. Mit dem 4. Abkommen im System der seinerzeitigen Lohn- und Preispakete, der „paktierten Inflation“, zur forcierten Kapitalakkumulation und „Budgetstabilisierungen“ sollten vor dem Hintergrund des Versiegens der Marshallplanhilfen und der infolge des US-Korea-Kriegs hinaufschnellenden Rohstoffpreise die Preise für die Bevölkerung abermals einschneidend erhöht werden, während die Löhne immer gravierender nachhinkten, die Subventionen der Kohle- und Kokspreise schon kurz zuvor aufgehoben wurden und jene für Brotgetreide vor der Aufhebung standen.
„Die Produktion lag 1950 schon mit 142 Prozent über dem Vorkriegsstand. Der Reallohn war aber weit unter dem Vorkriegsniveau und dementsprechend der Konsum“, so nochmals Hans Hautmann zur konkreteren sozialökonomischen Lage. „So lag der Fleischkonsum mit 36 kg pro Kopf und Jahr tief selbst unter dem Krisenjahr 1937 mit 54 kg. Produktion, Produktivität und Investitionen wurden mit Mitteln aus dem Marshall-Plan und aus dem Erlös der amerikanischen Überschussgüter auf Kosten niedriggehaltener Löhne gehoben. Die Kalorien waren 1950 bereits da, aber die Löhne waren zu niedrig.“ Durch den Wegfall verschiedener Preisstützungen (für Nahrungsmittel) sowie einer allgemeinen Teuerung (darunter insbesondere von Strom, Gas und der Verkehrs- und Post-Tarife) stiegen die Lebenserhaltungskosten zusätzlich. Gleichwohl sollten im Rahmen des in geheimen Verhandlungen zwischen der Regierung und den Sozialpartnern ausgehandelten neuen Pakts die Preise für Brot um 26%, für Semmeln um 59%, für Mehl um 64%, für Zucker um 34% und für Verkehrstarife und Strom um 25% steigen, die Löhne, Gehälter im System der „gelenkten Lohnpolitik“ (mit einzelnen Kompensationen) andererseits um bloße 10% (bis maximal 14%) angehoben werden. Ähnlich stand es um die sogenannte Abgeltung der Pensionen.
Auf Betriebsebene wurden seitens der Beschäftigten allerdings Lohnerhöhungen von zumindest 25% gegen den Teuerungsschub der Grundnahrungsmittel und der Energiekosten gefordert, was der ÖGB im Rahmen seiner Einbindung in die institutionelle „Wirtschaftspartnerschaft“ der Zweiten Republik jedoch rigoros ablehnte. Aber nicht nur die unzureichende Lohnabfindung wurde von den Arbeitenden als viel zu niedrig angesehen. „Ihr Begehren galt [gleichzeitig] einer größeren Anhebung des Lohnniveaus als Vorgriff auf die zu erwartende Teuerungswelle und als teilweise Abgeltung der Produktions- und Produktivitätssteigerungen.“ Zudem hatten die Abkommen die Preise erfahrungsgemäß nie im Griff, die sonach in regelmäßigen Preislawinen zu empfindlichen Reallohnverlusten führten.
Aus dieser sozialökonomischen Lage, dem steten Zurückbleiben des Lohnniveaus zu den sprunghaft angewachsenen Profiten, der damit einhergehenden Kluft und sozialen Polarisierung und den von den ArbeiterInnen und Angestellten mit den vorhergegangenen drei Lohn- und Preispaketen gemachten Erfahrungen, die bereits ähnliche Belastungen brachten, erklärt sich auch der tiefe Unmut und die Kampfbereitschaft der Beschäftigten im September/Oktober 1950 in der bis dahin größte Streikbewegung der Zweiten Republik. Am 22. September 1950 wurden via Rundfunk die ersten Inhalte des Abkommens, das am 26. September im Ministerrat zur Beschlussfassung stand, bekannt. Am 25. September kam es daraufhin zu ersten massiven „wilden“ Streiks in den Großbetrieben Linz und Steyrs, aber auch zu ersten spontanen Arbeitsniederlegungen in Wien und in den niederösterreichischen Industriegebieten, die sich über den Tag bis nach Vorarlberg ausdehnten. Denn immer breiter griff die Einsicht Platz, dass Reallohnerhöhungen nur in Aufnahme des konsequenten gewerkschaftlichen Kampfs zu erringen sind.
Am Folgetag, dem 26. September, entflammte schließlich von Oberösterreich, über Wien, Niederösterreich und tags drauf auch in der Steiermark die große Streikbewegung 1950 in 769 Betrieben quer durchs Land, an der sich rund 40% der damaligen Industriearbeiterschaft beteiligten. „Die Bewegung ging aber noch über diese Zahlen hinaus, denn Zehntausende traten zwar nicht in den Streik, fassten aber Ablehnungsbeschlüsse oder demonstrierten mit und waren damit ebenfalls Teil der Massenbewegung“, wie Hautmann auch einen oft unterschlagenen Aspekt herausstreicht. Die Streikenden (und Protestierenden) forderten gegen den empörenden, vorprogrammierten Reallohnverlust denn auch die Rücknahme des 4. Lohn- und Preisabkommens, die Zurücknahme der bekannt gewordenen Preiserhöhungen, einen gesetzlichen Preisstopp und keine weitere Währungsabwertung mehr.
Die hiesige Absicht besteht nicht darin den in zwei Wellen – vom 26. bis 29. September und vom 4. bis 6. Oktober – verlaufenden Streik in Ablauf, Umfang und Charakter sowie seinen Nachwirkungen en détail auszuführen oder seine jahrzehntelange Diffamierung und die wüsten gegen ihn gestrickten Legenden ins Kreuzverhör zu nehmen (hierzu sei insbes. auf die zahlreichen, wichtigen und einschlägigen Arbeiten von Hans Hautmann und Manfred Mugrauer verwiesen). Im vorliegenden Kontext geht es lediglich darum, in Zeiten wie diesen die seinerzeitige große Kampfaktion breiter Teile der Arbeitenden über parteipolitische Grenzen hinweg ins Gedächtnis zu rufen. Ein Kampf der unter anderen gewerkschaftspolitischen Vorzeichen aufgrund der Wucht der Streikbewegung durchaus auch zum Erfolg hätte geführt werden können.
Und auch wenn der damalige von der ÖVP-SPÖ-Koalition und von den Unternehmern mit der Gewerkschaftsspitze hinter verschlossenen Türen ausgehandelte Lohn-Preis-Pakt aufgrund der schmählichen Rolle der sozialdemokratischen ÖGB-Führung und der sozialdemokratischen Parteiführung schlussendlich nicht zu Fall gebracht werden konnten, sondern die Streikbewegung unter deren Ägide vielmehr niedergeschlagen wurde, gilt es gleichviel mit Hans Hautmann auch realhistorisch zu halten: „Vordergründig betrachtet endete der Streik mit einer Niederlage, da keine der Forderungen durchgesetzt werden konnte. Dennoch versetzte er den Herrschenden einen Schock, sodass das 5. und letzte Lohn- und Preisabkommen 1951 weitaus gemäßigter ausfiel. Es wurde propagandistisch gut vorbereitet und rief keinen Widerstand mehr hervor. In weiterer Folge hörte man mit der Methode der Lohn-Preis-Pakte überhaupt auf und räumte den Einzelgewerkschaften einen größeren Spielraum [gegenüber der „gelenkten Lohnpolitik“ im System der Lohn-Preis-Pakete, Anm.] in der Tarifpolitik ein.“
Verwandeln wir also den damals gesungenen Trost: „Geschlagen gehen wir nach Haus, die Enkel fechten’s besser aus“, in den Trotz, es heute zu bewerkstelligen.