Tödliche Sanktionen 

GERMAN-FOREIGN-POLICY: Von Berlin und der EU befürwortete Sanktionen drohen Niger in eine Hungerkatastrophe zu treiben. EU-Außenminister beraten über die Lage in Westafrika: Man dürfe die Region „nicht Drittstaaten überlassen“.

NIAMEY/PARIS/BERLIN (Bericht übernommen von GERMAN-FOREIGN-POLICY) – Hilfsorganisationen protestieren scharf gegen die von Berlin und der EU ausdrücklich unterstützten ECOWAS-Sanktionen gegen Niger. Die westafrikanische Regionalorganisation ECOWAS hat unter deutsch-europäischem Beifall scharfe Sanktionen verhängt, um die Putschisten in Niamey zur Aufgabe zu zwingen. Seither stecken Dutzende Container des UN-Kinderhilfswerks UNICEF mit dringend benötigten Medikamenten an der Grenze zu Niger fest; das UN-Welternährungsprogramm WFP klagt, es könne rund 6.000 Tonnen Lebensmittel nicht ins Land bringen. In Niger leiden schon heute fast 20 Prozent der Bevölkerung an Unterernährung. Die EU-Außenminister werden sich am morgigen Donnerstag auf einem informellen Treffen in Turin mit der Entwicklung in Niger befassen. Man wolle besprechen, wie die EU ihre „Interessen und Ziele in der Subregion“ am besten schützen könne, heißt es vorab. Die ECOWAS, die weiterhin mit einem Krieg gegen Niger zur Wiedereinsetzung des gestürzten Präsidenten Mohamed Bazoum droht, hat laut einem Bericht in Brüssel um die Lieferung von Waffen gebeten. Die EU-Staaten zögen allerdings, so heißt es, die Finanzierung „nicht-tödlicher“ Ausrüstung vor.  

Kriegsdrohung 

Die Lage in Niger bleibt äußerst angespannt. Die Militärs haben ihre Macht in Niamey mittlerweile konsolidiert und am 8. August mit dem früheren Wirtschafts- und Finanzminister (2003 bis 2010) Ali Lamine Zeine einen zivilen Ministerpräsidenten ernannt, der nun eine aus Militärs und Zivilisten gebildete Übergangsregierung anführt. Die tatsächliche Macht liegt weiterhin beim Chef der Junta beziehungsweise des Conseil national pour la sauvegarde de la patrie (CNSP, Nationaler Rat zur Rettung des Vaterlandes), Brigadegeneral Abdourahamane Tchiani. Tchiani hat vor kurzem angekündigt, eine Transformation des Staates und eine Rückkehr zur Demokratie binnen maximal drei Jahren zu organisieren. Die westafrikanische Regionalorganisation ECOWAS lehnt eine dreijährige Frist ab; sie fordert unverändert die sofortige Rückkehr der Militärs in die Kasernen und die unmittelbare Wiedereinsetzung des gestürzten Präsidenten Mohamed Bazoum. Sie sucht dies mit harten Wirtschaftssanktionen zu erzwingen und schließt einen Krieg zur Entmachtung der Putschisten in Niger nicht aus. Die Kriegsdrohung hat mittlerweile jedoch Rückschläge erlitten: Die Afrikanische Union (AU) unterstützt sie ausdrücklich nicht; in Bevölkerung und Opposition mehrerer ECOWAS-Staaten regt sich Widerstand. 

Französische Militärhilfe 

Unterdessen spitzt sich vor allem der Konflikt zwischen Niger und Frankreich zu. Der CNSP hat am 3. August sämtliche militärischen Verträge mit Frankreich aufgekündigt; die Frist zum Abzug der französischen Truppen läuft Anfang September aus. Am vergangenen Freitag hat die Junta zudem Frankreichs Botschafter in Niamey zur Rückkehr nach Paris aufgefordert und ihm die Akkreditierung entzogen; die Frist für seine Abreise lief am Sonntagabend ab. Die französische Regierung beharrt darauf, ihr Botschafter müsse genauso wie die Truppen in Niger bleiben; der CNSP sei nicht demokratisch gewählt und habe deshalb kein Recht, einen Abzug zu fordern. Präsident Emmanuel Macron hat dies am Montag explizit bekräftigt. Die Entscheidung wiegt auch deshalb schwer, weil Berichten zufolge die ECOWAS-Pläne für eine Militärintervention in Niger französische Militärhilfe vorsehen – zumindest beim Truppentransport und bei der Bereitstellung von Aufklärungsdaten. In dem Konflikt stehen zivile Organisationen der Ex-Opposition gegen Bazoum fest auf Seiten der Putschisten. Am Wochenende demonstrierten auf ihre Initiative über 20.000 gegen eine ECOWAS-Invasion. Zuvor hatten sich auf einen Aufruf, den bewaffneten Kampf gegen etwaige Invasoren im Ernstfall aktiv zu unterstützen, Tausende gemeldet. 

Washington gegen Paris 

Dabei spielen sich im Hintergrund offenkundig heftige innerwestliche Machtkämpfe ab. Während Frankreich zu erkennen gegeben hat, eine ECOWAS-Militärintervention zumindest zu unterstützen, dringen die Vereinigten Staaten offiziell auf eine diplomatische Lösung des Konflikts und haben Mitte August sogar eigens ihre Botschafterin Kathleen FitzGibbon zu Verhandlungen nach Niamey entsandt. Bereits am 7. August war die Staatssekretärin für politische Angelegenheiten im State Department, Victoria Nuland, zu Gesprächen in der nigrischen Hauptstadt eingetroffen. Nuland verhandelte dort mit Moussa Salaou Barmou, bis vor kurzem Kommandeur der nigrischen Spezialkräfte. Barmou unterhält seit Jahrzehnten enge Kontakte zu den US-Streitkräften, bei denen er schon in den 1990er Jahren ausgebildet wurde und mit denen er eng im Kampf gegen Jihadisten im Sahel kooperierte. Washington hat dabei eine Drohnenbasis im nordnigrischen Agadez installiert und Militärs wie auch Geheimdienstler halboffiziell an weiteren Orten Nigers stationiert. Dass Washington sich in Niamey mit Verhandlungen über eine diplomatische Lösung von Paris absetzt, hat dort heftigen Unmut erregt; Erinnerungen an die Ausbootung Frankreichs in Australien bzw. im Pazifik durch den AUKUS-Pakt wurden wach (german-foreign-policy.com berichtete). 

„Nicht Drittstaaten überlassen“ 

Am morgigen Donnerstag wollen sich die EU-Außenminister auf ihrem informellen Treffen in Turin mit der Lage in Niger befassen. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell erklärte wenige Tage nach dem Putsch, das europäische Staatenkartell unterstütze „alle Maßnahmen“ der ECOWAS. Das bezog sich auch auf die harten Wirtschaftssanktionen gegen Niger. Außenministerin Annalena Baerbock hat bestätigt, auch die Bundesregierung stärke der ECOWAS in puncto Sanktionen den Rücken. Mitte August teilte sie mit, auch die EU werde eigene „Sanktionen gegen die Putschisten auf den Weg bringen“; man stimme sich dabei, hieß es im Auswärtigen Amt, mit den Außenministerien Frankreichs und der USA sowie mit dem gestürzten nigrischen Außenminister Hassoumi Massaoudou ab. In der morgigen Debatte der EU-Außenminister soll es laut internen Dokumenten darum gehen, wie das Bündnis seine „Interessen und Ziele in der Subregion“ am besten schützen könne. Ein EU-Diplomat wird mit der Aussage zitiert: „Wir dürfen die Region nicht … Drittstaaten wie China oder Russland überlassen“. Einem Bericht zufolge hat die ECOWAS die EU gebeten, für einen etwaigen Militäreinsatz Waffen über die European Peace Facility zu finanzieren, aus der Brüssel Waffen für die Ukraine bezahlt. Die Mitgliedstaaten, heißt es, plädierten allerdings eher für die Finanzierung „nicht-tödlicher“ Ausrüstung. 

„Das wird Leben kosten“ 

Die ECOWAS-Sanktionen lösen mittlerweile Proteste von Hilfsorganisationen aus. Niger ist eines der ärmsten Länder der Welt; 19,8 Prozent aller Nigrer leiden an Unterernährung, 44,4 Prozent aller Kinder unter fünf Jahren weisen Wachstumsstörungen auf. Das UN-Kinderhilfswerk UNICEF protestierte bereits Anfang vergangener Woche, die ECOWAS-Sanktionen blockierten 50 seiner Container an der nigrischen Grenze, die dringend benötigte Medikamente, Impfstoffe, Spritzen und Material für Kühlketten enthielten. Inzwischen heißt es, rund 6.000 Tonnen an Lebensmitteln, die das UN-Welternährungsprogramm (WFP) liefern wolle, steckten ebenfalls sanktionsbedingt außerhalb von Niger fest. Wegen des wachsenden Mangels stiegen die Preise für Grundnahrungsmittel; so habe der Preis für Reis um 21 Prozent zugenommen. Schon jetzt hätten rund drei Millionen Nigrer Schwierigkeiten, sich eine Mahlzeit pro Tag zu sichern; die beginnende Nahrungsmittelkrise könne weitere sieben Millionen Menschen in dieselbe Notlage bringen. Der Leiter der Actio contre la faim (ACF, Aktion gegen den Hunger) in Niger, Gregor Robak-Werth, warnte wörtlich: „Das wird Leben kosten.“ Die Sanktionen werden, wie erwähnt, von Berlin und der EU ausdrücklich unterstützt. 

  

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