Angriffe auf die linke Opposition: Razzien in Istanbul und Ankara
Von Max Zirngast
Neues Deutschland, 25.9.2020
Wieder einmal ist die Türkei aufgewacht mit Nachrichten von massiven Polizeioperationen gegen demokratische und revolutionäre Kräfte. Genau vor zwei Wochen, am 11.September, hatte es schon großangelegte Razzien gegen die Sozialistische Partei der Unterdrückten (Ezilenlerin Sosyalist Partisi, ESP) gegeben, 17 Festgenommene wurden letztlich auch verhaftet und ins Gefängnis gesteckt.
Am frühen Morgen des 25. Septembers legte der Staat noch einmal nach und startete großangelegte Razzien in verschiedenen Provinzen im ganzen Land. Von den frühen Morgenstunden an trudelten auf Twitter die Nachrichten, Bilder und Videos über und von Festgenommenen ein und die Dimension des Angriffs wurde langsam deutlicher.
Offensichtlich gab es zwei separate Operationen, die aber koordiniert waren – soviel zum Thema unabhängige Justiz. Die eine wurde von der Oberstaatsanwaltschaft in Ankara aus gelenkt und richtete sich gegen die kurdische Bewegung. Dies wurde auch offiziell als »Kobane Ermittlungsverfahren« tituliert. Laut Erklärung der Staatsanwaltschaft geht es dabei um Erklärungen und Handlungen der betroffenen Personen von 6. bis 8. Oktober 2014. Damals waren in mehreren Städten der Türkei Unruhen ausgebrochen, nachdem der sogenannte Islamische Staat die kurdische Stadt Kobane in Nordsyrien zu attackieren begonnen hatte. Ganze sechs Jahre später wurden nun deswegen unter anderem der Ko-Bürgermeister der Stadt, Kars Ayhan Bilgen, der ehemalige Abgeordnete und Filmregisseur Sırrı Süreyya Önder, sowie Altan Tan, Emine Ayna und Nazmi Gür – allesamt zu der Zeit Parlamentsabgeordnete – festgenommen. Auch führende HDP-Politiker*innen und bekannte Personen des öffentlichen Lebens wie die Akademikerin Beyza Üstün, Can Memiş, die Forscherin und Feministin Gülfer Akkaya, der sozialistische Autor Alp Altınörs, Günay Kubilay und Dilek Yağlı wurden festgenommen. Insgesamt ist von 82 Personen in 7 Provinzen die Rede, gegen die ein Festnahmebefehl vorliegen soll. Besonders pikant an der Sache ist, dass der leitende Oberstaatsanwalt Yüksel Kocaman erst vor Kurzem direkt nach seiner Hochzeit mit seiner Frau in den Palast zu Präsident Erdoğan für Glückwünsche und ein Foto auf Besuch kam.
Die zweite Serie an Razzien ging von Istanbul aus und richtete sich vorgeblich gegen die »Bewegung der Namenlosen«, eine lose Plattform, die über soziale Medien oppositionelle Haltungen an den Tag legt und vor allem Hashtagkampagnen in den sozialen Medien gemacht hatte. Aber auch in diesem Zusammenhang traf es wild verschiedene Vertreter*innen der gesellschaftlichen Opposition. So wurde der Anwalt Tamer Doğan festgenommen, der Intellektuelle und Autor Temel Demirer, die Autorin und Sprecherin der Partei für soziale Freiheit (Toplumsal Özgürlük Partisi, TÖP) Perihan Koca, und der Journalist Hakan Gülseven ebenfalls. Die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu spricht von insgesamt 24 Personen, gegen die ein Festnahmebefehl vorliegen soll. Nach »nd«-Informationen gab es noch keine Einsicht in die Ermittlungsakten, der Vorwurf ist aber bereits bekannt: »Putschversuch via soziale Medien«.
Diese zweite Serie an Razzien richtet sich offensichtlich gegen eine heterogene Gruppe von Oppositionellen, wie sie sich auch in der Dynamik der Gezi Aufstände 2013 gezeigt hat. Die Furcht vor einem neuen Gezi treibt das Regime bis heute um.
Über die Hintergründe dieser Angriffswelle kann zum jetzigen Zeitpunkt nur spekuliert werden. Es scheint aber, dass sich das Regime der sinkenden Umfragewerte und der sich vertiefenden Krise im Land bewusst ist. Das Regime bekommt weder die Pandemie, noch die ökonomische Krise in den Griff. Und obwohl es mittlerweile alle zentralen Staatsapparate mehr oder weniger vollständig unter Kontrolle gebracht hat, gelingt es dem Regime nicht, gesellschaftliche Legitimität herzustellen. Es scheint so, als suche es den Ausweg in noch mehr Repression gegen die Opposition. Und es würde nicht überraschen, wenn diese Angriffe erst der Anfang wären.