Die Frage, ob die KPÖ im Herbst 1950 einen Aufstand mit dem Ziel einer Volksdemokratie geplant habe, bewegt auch 70 Jahre danach die Geschichtswissenschaft und politische Öffentlichkeit
Von Manfred Mugrauer
Junge Welt, 24. September 2020
Der »Oktoberstreik« des Jahres 1950 war die bis dahin größte Streikbewegung der Zweiten Österreichischen Republik. Insgesamt standen knapp 190.000 Beschäftigte aus 769 Betrieben im Streik gegen das 4. Lohn-Preis-Abkommen, das hohe Teuerungen bei den Grundnahrungsmitteln brachte. Die daraus resultierenden Reallohnverluste sorgten bei vielen Arbeiterinnen und Arbeitern für Empörung. Es waren drei Faktoren, die im Herbst 1950 zum Massenstreik führten: Zunächst die schlechte sozialökonomische Lage der arbeitenden Menschen, dann die vergleichsweise hohe Kampfbereitschaft der Arbeiterinnen und Arbeiter sowie die organisierende Arbeit der Kommunistinnen und Kommunisten in den Betrieben in den Monaten und Jahren vor der Streikbewegung. Die Lebensmittelknappheit der unmittelbaren Nachkriegsjahre war 1950 zwar weitgehend überwunden, die Kaufkraft war aber gegenüber dem Angebot an Waren und Lebensmitteln zurückgeblieben. Umgekehrt waren die Profite der Unternehmer sprunghaft angewachsen. Die Streikbereitschaft resultierte aus den Erfahrungen mit den drei vorangegangenen Lohn-Preis-Abkommen, die bereits ähnliche Belastungen gebracht hatten. Die Ankündigungen seitens der Regierung und Gewerkschaft, wonach die Preiserhöhungen voll ausgeglichen werden würden, wurden von den Werktätigen nicht mehr geglaubt.
Bizarr-absurde These
Die Streikbewegung fand in zwei Wellen statt, von 26. bis 29. September sowie vom 4. bis 6. Oktober 1950. Die Führung der Kommunistischen Partei Österreichs (KPÖ) hatte beschlossen, den Streik zu unterbrechen, was rückblickend betrachtet als schwerwiegender Fehler eingeschätzt wurde. Regierung und Gewerkschaftsführung nutzten diese Unterbrechung, um vor einem bevorstehenden Umsturzversuch der KPÖ zu warnen. In der Arbeiter-Zeitung, dem Zentralorgan der Sozialdemokratischen Partei Österreichs (SPÖ), war Ende September von »regelrechten Putschversuchen der Kommunisten« die Rede. Damit wurde noch in den Streiktagen ein Interpretationsmuster geschaffen, das in den folgenden Jahren und Jahrzehnten bestimmend blieb. Unmittelbar nach dem Streik veröffentlichten SPÖ und der Österreichische Gewerkschaftsbund (ÖGB) Broschüren, in denen der angebliche »kommunistische Terrorputsch« dokumentiert werden sollte. Dessen Ziel sei gewesen, den Kommunisten »die Macht im Osten Österreichs in die Hände zu spielen und der demokratischen Republik ein Ende zu bereiten«. Zeitgenössisch bestand die Funktion dieser Lüge vor allem darin, angesichts der breiten Unzufriedenheit der Bevölkerung mit dem 4. Lohn-Preis-Abkommen die Proteste im kommunistischen Eck zu isolieren. Der in Österreich vorherrschende Antikommunismus wurde instrumentalisiert, um die sozialdemokratischen und parteilosen Arbeiter und Angestellten von einer Teilnahme an den Protesten abzuhalten.
Das größte Rätsel der Putschlegende besteht im Grunde darin, wie eine Behauptung, deren mangelnde Plausibilität kaum evidenter sein könnte, seit Jahrzehnten nicht nur die öffentliche Meinung, sondern auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung bewegen kann. Es sollte der bloße Hinweis auf die Viermächtebesatzung Österreichs ausreichen, um Spekulationen über kommunistische Umsturzpläne ein Ende zu bereiten. Nicht zuletzt angesichts der Präsenz der westlichen Alliierten kann ausgeschlossen werden, dass eine politisch wenig einflussreiche, weitgehend isolierte Kleinpartei wie die KPÖ gewillt war, eine bewaffnete Konfrontation vom Zaun zu brechen. Fest steht auch, dass zur Realisierung eines Putschplanes die Unterstützung der sowjetischen Besatzungsmacht notwendig gewesen wäre. Die Sowjetunion war aber zu keinem Zeitpunkt bereit, den in Jalta erzielten Konsens zwischen den Alliierten einseitig aufzukündigen, eine Spaltung des Landes in Kauf zu nehmen oder gar wegen Österreich einen dritten Weltkrieg zu riskieren. Nach Öffnung der sowjetischen Archive ist auch kein einziges Dokument bekanntgeworden, das belegt, dass die Sowjetunion mit dem Oktoberstreik irgendwelche politischen Absichten verfolgt hätte, geschweige denn ein Eingreifen zugunsten der KPÖ geplant gewesen wäre. Vor diesem Hintergrund lenken marxistisch orientierte Historiker den Blick auf die ideologische Funktion dieser Geschichtslegende, die »von einer geradezu bizarren Absurdität« sei, wie etwa Hans Hautmann treffend festhält.
Konservativer »Backlash«
Die Putschlegende war über Jahrzehnte die zentrale Interpretationsvariante der Ereignisse im September und Oktober 1950, getragen von Parteien, Gewerkschaft und Medien. Die Behauptung, dass die KPÖ damals einen Versuch zur Machtübernahme gestartet habe, galt bis in die 1970er Jahre als »Common Sense«, sie blieb bis dahin sowohl in der wissenschaftlichen Literatur, in ÖGB-nahen Veröffentlichungen als auch in der öffentlichen Meinung weitgehend unhinterfragt. Eine der ersten zeitgeschichtlichen Auseinandersetzungen mit der Legende vom »Kommunistenputsch« leistete Helmut Konrad, der spätere Rektor der Universität Graz, im Jahr 1977. Danach wagte es lange Zeit kein namhafter Geschichtswissenschaftler mehr, von einem kommunistischen Putschversuch zu sprechen. Auch sozialdemokratische Historiker und Gewerkschaftspublizisten nahmen in den folgenden Jahren diese These zurück.
Trotz der seit den 1970er Jahren dominierenden kritischen Stimmen blieb die Putschmetapher bis in die jüngere Vergangenheit ein fixer Bestandteil der gegen die KPÖ gerichteten Argumentation. »Alle vorhandenen Quellen und die beinahe einheitliche Ergebnisse der entsprechenden wissenschaftlichen Analysen schließen eine derartige Planrichtung als unrealistisch aus, doch der ›Putschversuch‹ von 1950 bleibt ein Mythos, der trotz zahlreicher Studien immer noch präsent ist, ein Mythos, der aus der Österreich-Identität der Nachkriegsgeneration nicht wegzudenken ist«, schätzt etwa der Historiker Oliver Rathkolb in seiner 2015 erschienenen Geschichte der Zweiten Republik ein.
Ein Blick in die neuere wissenschaftliche Literatur zeigt, dass die Putschlegende auch heute nicht vollständig überwunden ist, ja sie erlebt in der Historiographie sogar eine gewisse Renaissance. Den Beginn der »Rehabilitierung« der Putschlegende markiert ein Beitrag des Salzburger Historikers Ernst Hanisch am Zeitgeschichtetag im Jahr 1997, in dem er der »68er-Geschichtsschreibung« vorwarf, »die Gefahr der kommunistischen Machtergreifung in Ostösterreich« unterschätzt zu haben. Ein Jahr später sprach der ÖVP-Historiker Robert Kriechbaumer von Unruhen mit dem »Charakter eines kommunistischen Putschversuches« zwecks »Errichtung einer Volksdemokratie in Österreich«. 2003 erkannte der Linzer Historiker Roman Sandgruber im Oktoberstreik »das letzte Aufflammen einer auf eine gewaltsame Machtübernahme gerichteten kommunistischen Aktivität in Österreich«. Wilhelm Brauneder, ehemaliger Vorstand des Instituts für Rechts- und Verfassungsgeschichte der Universität Wien und bis 1999 Dritter Nationalratspräsident (FPÖ), sprach noch 2017 ohne Einschränkung vom »Putsch der KPÖ in Ostösterreich«.
Die heute »modische« Variante der Putschlegende präsentiert sich in abgeschwächter Form und verwendet den Terminus Putsch zumeist in einem zusammengesetzten Wort: Das Spektrum reicht von Arbeiterunruhen mit »putschartigen Aktivitäten« (Felix Butschek) bis zum Streik mit »putschartigen Zügen« (Wolfgang Mueller). Während in den 1990er Jahren davon ausgegangen wurde, dass die Putschthese im wissenschaftlichen Diskurs überwunden sei, dominiert heute – angesichts der neuerdings von konservativer Seite vertretenen Auffassungen – die Sprachregelung, dass die Historiker in der Einschätzung des Oktoberstreiks anhaltend »geteilter Ansicht« seien. Die Frage nach dem kommunistischen Putschversuch werde »nach wie vor unterschiedlich beantwortet« und sei »bis heute nicht letztgültig geklärt«, so Robert Kriechbaumer und Maximilian Graf in 2016 erschienenen Beiträgen. Auch wenn in solchen Veröffentlichungen vor einem offenen Gebrauch der Putschlegende mitunter zurückgescheut wird, so soll doch deren grundsätzliche Plausibilität nicht gänzlich ausgeschlossen werden.
Gewalt gegen Gewalt
Der Hauptbezugspunkt jener Variante, die sich auf die Formulierung »putschartige Auseinandersetzungen« zurückgezogen hat, sind jene Erscheinungen, die als »Ausschreitungen« in die Geschichte des Oktoberstreiks eingegangen sind. Am ersten Streiktag, dem 26. September 1950, und vor allem in der zweiten Phase des Ausstands im Oktober kam es in Wien und Niederösterreich zu Besetzungen von Bahnhöfen und Postämtern sowie zu Verkehrsbehinderungen und Straßenblockaden. In den letzten Streiktagen wurden in Wien Sand und Schutt auf den Straßenbahngleisen abgeladen und Weichen stellenweise sogar mit Zement ausgegossen. Die Arbeiter der Rax-Werke besetzten am 5. Oktober das E-Werk in Ebenfurth und schalteten den Strom ab. Dann fuhren sie mit Lastwagen von Betrieb zu Betrieb, um die dortigen Arbeiter zum Streik aufzufordern. Manche Betriebe wurden mit Druck in den Streik einbezogen, wobei es auch zu Prügeleien zwischen Arbeitern kam.
Während die SPÖ-Führung die streikenden Arbeiter als kommunistische Putschisten bezeichnete, prangerte die KPÖ »die verräterischen rechten SP- und Gewerkschaftsführer« als »Streikbrecher und Organisatoren von Schlägerbanden« an. Angesprochen waren damit jene von SP-Gewerkschaftsfunktionären unter Führung von Franz Olah aufgestellten mobilen »Prügelgarden«, die in der Stärke von etwa 2.000 Mann zur Niederschlagung des angeblichen »Putsches« eingesetzt wurden. In einem Aufruf des ÖGB vom 5. Oktober 1950 wurde offen dazu aufgefordert, Gewalt mit Gewalt zu beantworten: »Alle Mittel, welche die Terroristen anwenden, um euch zum Streik zu zwingen, müssen auch in der Verteidigung gebraucht werden. Setzt der Gewalt die Gewalt entgegen und verteidigt euren Betrieb!« Zu einem solchen Zusammenstoß kam es etwa am 4. Oktober bei der Straßenbahnremise in Wien-Favoriten, die von Streikenden blockiert wurde. »Um 10.30 Uhr kam auf vier Lastkraftwagen eine größere Anzahl von Bauarbeitern, welche die Gudrun-, Favoriten- und Laxenburger Straße bis zum Bahnhof von den Demonstranten säuberten«, wie in einer SPÖ-Broschüre über die als »Selbsthilfe« der Arbeiter charakterisierte Aktion von Olahs bezahlter Schlägertruppe zu lesen war. In Niederösterreich wurde die gesamte Bahnstrecke vom »kommunistischen Gesindel gesäubert«, berichtete die Arbeiter-Zeitung. Benedikt Kautsky (SPÖ) nahm 1953 für seine Partei das Verdienst in Anspruch, »die Hauptlast des Kampfes gegen den Kommunismus« auf sich genommen und den »Putsch« der KPÖ »im Keim erstickt« zu haben.
Seitens der Regierung wurde in der zweiten Streikphase die Exekutive gegen die Streikenden aufgeboten, vor allem in den westlichen Bundesländern, wo bestreikte Betriebe – wie etwa die Steyr-Werke und die Alpine Donawitz – am 4. Oktober 1950 von der Gendarmerie besetzt wurden. In Donawitz wurden zwölf kommunistische Betriebsräte verhaftet, denen – zu Unrecht – vorgeworfen wurde, mit dem Streikbeschluss Sabotage an den Hochöfen zu bezwecken. Tags zuvor hatte Innenminister Oskar Helmer (SPÖ) den gesamten österreichischen Sicherheitsapparat in Permanenzdienst gestellt und eine »Hilfspolizei« aus Feuerwehr, Forstpersonal usw. aufgeboten. In der Arbeiter-Zeitung war zu lesen, die Sicherheitsbehörden hätten den Auftrag, gegen die »Volksschädlinge energisch einzuschreiten«.
Putschartige Ausschreitungen?
Die angeführten »Ausschreitungen« dienen bis heute als »Beleg« für die angebliche Putschtaktik der KPÖ. So könne laut dem deutschen Politologen Reinhard Meier-Walser »kein Zweifel bestehen, daß die KPÖ für den Fall der Ablehnung ihrer ultimativen Forderungen durch die Bundesregierung und den ÖGB plante, durch Gewaltaktionen und Terror chaotische Zustände zu schaffen, um die sowjetische Besatzungsmacht zum Eingreifen zu veranlassen«. Entgegen dieser Annahme wurden die in der zweiten Streikphase vorkommenden Zwischenfälle und die von manchen Streikenden angewendeten Methoden in den Führungsgremien der KPÖ einer scharfen Kritik unterzogen, was belegt, dass sie nicht auf Anordnung der Parteileitungen erfolgt waren. Vor allem die am letzten Streiktag organisierten Straßen- und Bahnhofsblockaden schossen oftmals über das Ziel hinaus. Einigkeit herrschte im Zentralkomitee der KPÖ darüber, dass die Bahnhofsbesetzungen und das »Herausholen« der Werktätigen aus den Betrieben der Regierung und der ÖGB-Führung Munition geliefert hätten, die Sache so darzustellen, als habe es sich nicht um einen wirtschaftlichen Kampf gehandelt, sondern als sei es der KPÖ tatsächlich um die Volksdemokratie gegangen.
Die zu »putschartige Ausschreitungen« hochgespielten Aktionen waren zunächst ein spontaner Ausdruck der Empörung und in den letzten Streiktagen schließlich auch ein Verzweiflungsakt, nachdem klargeworden war, dass der Streik keine großen Erfolgsaussichten haben werde. In dieser Situation glaubten die Streikenden in spektakulären Aktionen eine Möglichkeit zu erkennen, um angesichts des offensichtlichen Abflauens der Bewegung eine neue Dynamik zu entfachen. Gegenüber jenen, die diese Zwischenfälle als »putschartig« charakterisieren, macht Hans Hautmann folgenden Maßstab deutlich: »Bei jeder großen Massenbewegung, die aus Wut und Empörung über Provokationen seitens der Herrschenden ausbricht, kam und kommt es in ihrem Verlauf auch zu dem, was man gemeinhin ›Ausschreitungen‹ nennt.« Im Herbst 1950 waren diese aber »im historischen Kontext der Klassenkämpfe von unten weder sonderlich extrem noch ein Indiz für Putschabsichten«, so Hautmann. Zu berücksichtigen ist ferner, dass es sich bei der Methode des »Herausholens« der Arbeiter aus kleineren und umliegenden Betrieben um eine alte Streiktradition der Arbeiterbewegung und nicht um »wohlvorbereitete Terrorakte kommunistischer Rollkommandos« handelte, wie in zeitgenössischen Veröffentlichungen von SPÖ und ÖGB zu lesen war.
Der Charakter des Streiks
Eine ganz allgemeine, bis heute aktuelle Grundlage der Putschlegende besteht in der mechanischen Gegenüberstellung der Kategorien »wirtschaftlicher« und »politischer Streik«. Zwar findet sich in den meisten geschichtswissenschaftlichen Darstellungen eine Abgrenzung von primitiven Varianten der Putschthese, relativierend wird jedoch hervorgehoben, dass die Partei mit dem Oktoberstreik sehr wohl politische Ziele vertreten habe. Wolfgang Mueller, Professor am Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien, führt etwa ins Feld, dass der von der KPÖ vorbereitete »putschartige« Streik nicht nur sozialökonomische, sondern auch politische Ziele wie »die Destabilisierung des ÖGB und der Regierung« verfolgt habe. Damit wird die simple Tatsache, dass ein ökonomischer Kampf ab einer gewissen Größe automatisch auf die politischen Verhältnisse zurückwirkt, zur Grundlage einer abgeschwächten »Umsturzthese«, als wäre es ein Geheimnis, dass Kommunistinnen und Kommunisten für eine Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse eintreten und weder in ihrer Kleinarbeit noch im Rahmen von Massenkämpfen die längerfristige Perspektive aus den Augen verlieren.
Tatsächlich ging es beim Oktoberstreik zunächst um die wirtschaftlichen Forderungen der Arbeiterschaft, die von der gesamtösterreichischen Betriebsrätekonferenz am 30. September 1950 als Ultimatum an die Regierung erhoben wurden: Zurücknahme der Preissteigerungen oder Verdoppelung der Löhne. Es war ein »Kampf um Brot und Lohn, der mit gewerkschaftlichen Mitteln geführt wurde«, und kein unmittelbarer Kampf »für irgendwelche machtpolitischen Forderungen«, wie die KPÖ unmittelbar nach dem Streik in einer Resolution des Zentralkomitees festhielt. Es wäre aber dennoch eine Vereinfachung, von einem rein wirtschaftlichen Abwehrkampf auszugehen. Zwar ging es der KPÖ primär um eine Verbesserung der ökonomischen Situation der Beschäftigten, sie verband den Massenstreik aber auch mit der Hoffnung, Kräfteverhältnisse sowohl auf allgemeinpolitischer Ebene als auch im Gewerkschaftsbund in Bewegung bringen zu können.
Hinsichtlich der Frage nach dem rein ökonomischen bzw. politischen Charakter des Oktoberstreiks ist die von der KPÖ verfolgte Strategie jedoch von nachrangiger Bedeutung gegenüber einem objektiv gegebenen Gesichtspunkt: Allgemeines Ziel der Streikbewegung war es, das von der Regierung gemeinsam mit der Unternehmervertretung und der ÖGB-Führung geheim ausgehandelte Lohn-Preis-Abkommen zu Fall zu bringen. Hätte diese ökonomischen Zielsetzung aufgrund der Wucht der Streikbewegung Erfolg gehabt, so wären sowohl die Regierung als auch der ÖGB diskreditiert gewesen. Die ökonomische Forderung, den Pakt zu Fall zu bringen, war also objektiv »politisch«, da sie gegen die Abmachungen von Regierungs- und Gewerkschaftsspitzen gerichtet war. »Der Generalstreik hätte, wenn er erfolgreich verlaufen wäre, die sozialpartnerschaftliche Wiederaufbaupolitik und damit die reibungslose Restauration der Marktwirtschaft in Frage stellen können. In einer Situation, in der die Gewerkschaftsführung zum Funktionär einer staatlich gelenkten Lohnpolitik geworden war, musste jede gewerkschaftliche Forderung in eine politische umschlagen«, wie etwa der Wirtschaftshistoriker Fritz Weber die Protestbewegung einschätzt.
Aufbaumythos
Insgesamt erklärt sich die Langlebigkeit der Geschichtslegende vom »Oktoberputsch« weniger aus einer Analyse der konkreten Ereignisse, sondern vielmehr aus dem allgemeinen Interpretationsrahmen der KPÖ-Politik nach 1945. So bringen selbst renommierte Historiker die Oppositionspolitik der KPÖ ab 1947, ja kommunistische Politik schlechthin mit Umsturz in Verbindung. Zentraler Bezugspunkt zur Einordnung der KPÖ-Politik sind nicht die Klassenauseinandersetzungen der unmittelbaren Nachkriegszeit, die die kapitalistische Restauration begleiteten, sondern die angebliche kommunistische »Destabilisierungspolitik«, deren Höhepunkt die »Streikunruhen« im Oktober 1950 dargestellt hätten. In manchen Veröffentlichungen reicht bereits die allgemeine Programmatik der KPÖ dazu aus, einen Zusammenhang zu Putsch und Machteroberung herzustellen. 2005 wurde etwa in der Staatsvertragsausstellung auf Schloss Schallaburg die in den »Programmatischen Leitsätzen« des 13. Parteitags (1946) erhobene Forderung nach einer »wahren Volksdemokratie« als Beleg für die kommunistischen Umsturzpläne gedeutet.
Angesichts der Tatsache, dass auf der Faktenebene keine stichhaltigen Beweise für kommunistische Umsturzpläne gefunden werden können, liegen den bis zum heutigen Tag vertretenen Varianten der Putschthese im wesentlichen geschichtspolitische Motive zugrunde. So bleibt die Legende vom »Kommunistenputsch« vor allem für jene aktuell, die ein vom »Aufbaumythos« geprägtes Geschichtsbild über die Besatzungszeit vertreten. Ungeachtet aller Ergebnisse der zeitgeschichtlichen Forschung wird in diesen Lesarten an der kommunistischen Bedrohung und am Stereotyp des staatsgefährdenden Kommunisten festgehalten. Demgegenüber erscheint die Zweite Republik als großkoalitionäres Erfolgsprojekt und als gelungenes Aufbauwerk von SPÖ und ÖVP. Der Oktoberstreik bleibt in dieser Sicht ein Sinnbild für die unumgängliche Auseinandersetzung mit der KPÖ, ein »Erinnerungsort« für die erfolgreiche Abwehr des Kommunismus.
Positiver Held dieser Erzählung ist Franz Olah, der den Alleinvertretungsanspruch für die Niederwerfung des Oktoberstreiks an sich riss und der zum Retter der österreichischen Freiheit im Herbst 1950 stilisiert wurde. Bis in die jüngere Vergangenheit ist diese Sicht vor allem in Politikerreden präsent, nicht nur bei konservativen, sondern auch bei sozialdemokratischen Spitzenpolitikern: So ging der ehemalige Bundeskanzler Franz Vranitzky (SPÖ) im Jahr 1998 davon aus, dass die österreichische Bevölkerung 1950 »geradezu selbstverständlich einen kommunistischen Putschversuch in die Schranken« gewiesen habe. Nicht anders der damalige Bundeskanzler Wolfgang Schüssel (ÖVP), der 2005 den »mutigen Widerstand« gegen die »Putschpläne der KPÖ« würdigte. Einen anhaltend breiten Raum nimmt die Putschthese auch in der populär- und regionalgeschichtlichen sowie in der Memoirenliteratur ein.
Verblassender Erinnerungsort
Demgegenüber gibt es im sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Umfeld seit einigen Jahren merkbare Zeichen einer Entspannung bzw. Korrektur. Anlässlich des 70. Jahrestags der Gründung des ÖGB beschloss der Bundesvorstand im Jahr 2015, dass die Behauptung, wonach es sich beim Oktoberstreik um einen kommunistischen Putschversuch gehandelt habe, als widerlegt zu betrachten sei. Die nach dem Streik aus dem ÖGB ausgeschlossenen 78 Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter wurden rehabilitiert. Im Vorwort einer aus diesem Anlass im ÖGB-Verlag erschienenen Publikation schrieb der damalige ÖGB-Präsident Erich Foglar: »Mit dem emotionalen Abstand und neuen Erkenntnissen ist es nun möglich, sich endgültig von bisherigen traditionell eingefahrenen Bildern zu lösen. Die Quintessenz ist: Der Oktoberstreik 1950 war kein kommunistischer Putschversuch.« Gewerkschaftsintern wurde damit ein Schlusspunkt gesetzt unter den Mythos vom »Kommunistenputsch«.
Angesichts dieser Festlegung des ÖGB wird der Oktoberstreik als zentraler »Erinnerungsort« der Zweiten Republik wohl an Bedeutung verlieren. Bei bevorstehenden Jahrestagen wird die Putschlegende in Zeitungsartikeln gewiss weniger häufig anzutreffen sein. Ein ähnlicher Trend wird langfristig betrachtet auch die akademische Geschichtsschreibung prägen. Aus deren Reihen werden künftig immer weniger Wissenschaftler dazu bereit sein, sich mit erfundenen Putschvorwürfen Richtung KPÖ zu blamieren. Ewig unbelehrbar werden jene bleiben, die die damalige Oppositionspolitik der KPÖ allein als »Destabilisierung« und versuchten Umsturz einschätzen und jegliche außerparlamentarische Aktivität als Vorbereitung zur Machtübernahme und zum Putsch deuten. Ihnen wird es auch in Zukunft unmöglich sein, den Oktoberstreik als das einzuordnen, was er war: ein legitimer Protest gegen soziale Belastungen und Höhepunkt der Klassenauseinandersetzungen der unmittelbaren Nachkriegszeit.