Schauprozess gegen den heroischen Kampf um Kobanê in Ankara

Im Herbst 2014 hielt die Welt den Atem an, blickte gebannt auf die Stadt an der türkischen Grenzregion und fieberte quer durch die politischen Landschaften mit den Kurden und Kurdinnen in ihrem Kampf um Kobanê gegen die Mörderbanden des IS mit.

Der Kampf um Kobanê 2014

Das AKP-Regime der Türkei – im Inneren bereits damals im Stile eines Putschmilitärs regierend –  setzte außenpolitisch dagegen auf diebreit gefächerte Unterstützung der Gotteskrieger des IS, in der Hoffnung sich in der Kollaboration mit der Terrormiliz dem kurdischen Autonomieprojekt an seiner Südgrenze und dessen regionaler Vorbildwirkung entledigen zu können. Die in der „Demokratischen Föderation Nord- und Ostsyrien“ (politisch besser bekannt als rätedemokratisches Selbstverwaltungs-Projekt Rojava)  Gestalt annehmende Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts war den türkischen Eliten ein derartiger Dorn im Auge, dass es mit allen nur erdenklichen Mitteln – oder in Erdoğans eigenen Worten: „wie hoch der Preis auch sein mag“ – unterbunden und mit Stumpf und Stiel beseitigt werden sollte.

Der „Islamische Staat“ und andere djihadistische Gruppen wurden von Ankara denn auch nach Kräften mit Waffen, Geld, logistischer Unterstützung und Rückzugsräumen unterstützt.

Allerdings, nach vier Monaten heroischen Widerstands und erbitterten Kampfes, gelang es den kurdischen FreiheitskämpferInnen der YPG und YPJ zusammen mit ihren kommunistischen Verbündeten aus der Türkei, internationalistischen Freiwilligen und militärischer Waffenhilfe dann im Herbst 2014 und Jänner 2015 bekanntlich Kobanê vollständig zurückzuerobern und zu befreien. Letztere waren vor allem deshalb von Bedeutung, da den heroischen VerteidigerInnen Kobanês dringend benötigte schwere Artillerie und panzerbrechende Waffen aufgrund ihrer Listung auf europäisch-transatlantischen „Terrorismus-“Verzeichnissen vorenthalten waren. Wäre die Stadt gefallen, und noch Mitte Oktober 2014 standen die Kämpfe auf des Messers Schneide, wäre die Katastrophe vorprogrammiert gewesen und die kurdische Selbstverwaltung in der Region unter dem Kalifat der schwarzen Fahne in Blut ertränkt worden. Letztlich aber gelang es den VerteidigerInnen Kobanês in opferreichen Häuserkämpfen und harten Gefechten um Straßenzüge und Stadtviertel sowie endgültigen Durchbrechung des Daesch-Belagerungsrings die schwarze Fahne des IS hinwegzufegen und auf dem an die Stadt angrenzenden Hügel als Zeichen ihres errungenen Sieges Ende Jänner 2015 wieder das Banner des Fortschritts in den Boden zu pflanzen.Dergestalt stieg die Schlacht um Kobanê denn auch völlig zu Recht zum Symbol der Unbeugsamkeit des kurdischen Selbstbestimmungskampfes wie Widerstands gegen den IS-Terror auf.

Für das AKP-Regime markiert der 26. Jänner 2015 und die nachfolgende Rückeroberung und Befreiung von 163 Dörfern rund um Kobanê jedoch eine schallende Schlappe und unvergessene Niederlage. Um das Fallen der symbolträchtigen kurdischen Stadt in den entscheidenden Wochen der wogenden Schlacht doch noch zu erzwingen, verwehrte das islamistisch-nationalistische AKP-Kabinett im Oktober zudem kurdischen und linken Freiwilligen der Türkei, die dem Kampf um Kobanê zur Hilfe eilen wollten, den Grenzübertritt und setzte sie in unmittelbarer Blickweite des Geschehens fest. Auch die Eröffnung eines Versorgungs- und Nachschub-Korridors für die eingeschlossenen KämpferInnen der Volksverteidigungseinheiten fegte die Türkei brüsk vom Tisch. Vor diesem Hintergrund entfalteten sich sowohl in der Türkei wie international breite Proteste gegen die türkische Unterstützung der djihadistischen Kalifat-Krieger und Demonstrationen für Kobanê. Selbst der UN-Sondergesandte Staffan de Mistura forderte die Türkei parallel auf, doch zumindest die freiwilligen kurdischen KämpferInnen samt Waffen nach Kobanê zu lassen. Vergeblich. Das Regime in Ankara ließ auch die UNO kalt abblitzen.

Der inkriminierte politische Tweet der HDP

Mit dem jetzigen Schauprozess gegen die HDP soll am Standhalten Kobanês nun Rache genommen und die linke, pro-kurdische Demokratischen Partei der Völker justiziell ihrer Führung beraubt und politisch enthauptet werden. Zur Last gelegt wird ihnen dabei allem voran der Twitter-Aufruf des HDP-Exekutivrats Anfang Oktober 2014, der neben einer Solidaritätserklärung mit der vom IS eingekesselten Stadt Westkurdistans, auch zum Protest gegen die türkische Regierung und deren Unterstützung der Daesch-Mörderbanden aufrief:  „Dringender Aufruf an unsere Völker […]! In Kobanê ist die Lage äußerst kritisch. Wir rufen unsere Völker dazu auf, auf die Straße zu gehen und diejenigen zu unterstützen, die bereits auf der Straße sind, um gegen die Angriffe des IS und gegen das Embargo der AKP-Regierung zu protestieren.” Nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) ein als „politische Rede“ zu rubrizierender Tweet, der mitnichten als Aufruf zur Gewalt ausgelegt werden kann, wird er genau dieses seitens der türkischen Polit-Justiz.

Die Dachpartei HDP  – die linke Opposition in der „Großen Nationalversammlung“

Die Repressionswellen gegen die linksdemokratische HDP (Demokratische Partei der Völker) sind dabei untrennbar mit den türkischen Parlamentswahlen im Juni 2015 verknüpft. Mit 13% der Stimmen knackte die Partei überraschend klar die 10%-ige Wahlhürde. Die AKP Erdoğans hingegen verlor mit diesem Erfolg der HDP erstmals ihre bis dahin gehaltene absolute Parlamentsmehrheit. Schon am Tag des Wahlausgangs machte der Despot am Bosporus allerdings klar, dass er nicht bereit ist dieses Wahlergebnis anzuerkennen.

Um wieder eine alleinige Regierungsmacht zu erringen, hat er das Land im unmittelbaren Gefolge seiner Wahlniederlage in einen militanten nationalistisch-chauvinistischen Taumel gejagt, eine Kaskade schmutziger Kriege gegen Kurdistan, die kurdische Befreiungsbewegung und türkische Linke entfesselt, der Presse, den religiösen Minderheiten (unter ihnen allen voran den Aleviten), sowie den kämpferischen Gewerkschaften und jeglicher Opposition den Krieg erklärt,  und den Ausnahmezustand über das Land verhängt.

Die Gunst der Stunde des Juli 2016 als „Geschenk Gottes“ nutzend – wie er offen kundtat –, trat der „neue Sultan von Ankara“ in einem „Gegen-Putsch“ daraufhin eine nochmals verschärfte, drakonische Säuberungskampagne und Repressionswelle los und brach eine regelrechte Kriegswelle gegen die kurdischen Landesteile, die Demokratische Konföderation Nord- und Ostsyriens (Rojava), sowie gegen die Guerilla-Gebiete im Nordirak vom Zaun und eröffnete in neo-osmanischer Ambition Kriegseinsätze und Aggressionen von Libyen bis Bergkarabach. Mit dieser Weichenstellung holte er zugleich die faschistische Partei der Nationalistischen Bewegung MHP – besser bekannt als Graue Wölfe – unter deren Vorsitzendem Devlet Bahçeli ins Boot und schmiedete die seitherige AKP/MHP-Koalition.

Gleichwohl gelang es der AKP/MHP-Phalanx nicht, die HDP auszuschalten, die selbst unter Bedingungen des Ausnahmezustands 2018 erneut mit 11,7% der Stimmen ins Parlament einzog.

Repressionswellen bis hin zum drohenden Verbot der HDP

Nachdem in den vergangenen Jahren bereits über 16.500 Mitglieder und AktivistInnen der HDP inhaftiert wurden, Abgeordnete und BürgermeisterInnen reihenweise ihrer Ämter enthoben wurden bzw. ihr Mandat entzogen wurde, fordert der Vorsitzende der faschistischen MHP und Koalitionspartner Erdoğans, Devlet Bahçeli, seit Anfang dieses Jahres vom Obersten Gerichtshof der Türkei das direkte Verbot der oppositionellen HDP. Die Mission der von Alparslan Türkeş1969 gegründeten MHP – die das Land einst mit ihren paramilitärischen Todesschwadronen überzog – besteht seit ihrer Gründung im rabiaten Kampf gegen die türkische und kurdische Linke. Wenig später wetterte dann auch der 1. Berater von Erdoğan – Fahrettin Altun – in dieselbe Richtung, flankiert von einer kurz drauf durch Innenminister Süleyman Soylu (AKP) losgetretenen, breiten medialen Hetzkampagne gegen die Partei der Völker.

Mit dem jüngst von der Erdoğan und Bahçeli hörigen Oberstaatsanwaltschaft der Türkei eingereichten Verbotsantrag gegen die HDP beim Kassationsgerichtshof (der nach einem attestierten Formfehler unmittelbar vor dem Besuch von der Leyens derzeit vor seiner neuen Einbringung steht), droht folglich schlicht der finale institutionelle Frontalangriff gegen die linke Partei der Völker – um sich damit der stärksten linken und parlamentarischen Opposition zu entledigen und die pro-kurdische Linke für die Präsidentenwahlen 2023 auszuschalten.

Zugleich schwebt mit dem jüngst auf den Weg gebrachten Verbots-Antrag gegen die HDP gleichsam dieses Damoklesschwert über sämtliche gewählte FunktionsträgerInnen der Partei der Völker, die damit für vogelfrei erklärt werden.

Kobanê: 15.000 Jahre Haft für Demirtaş gefordert

Dass mit der am 27. April begonnenen und heute in Ankara fortgeführten justiziellen Prozess-Farce am Bosporus 108 führende HDP-Mitglieder im sogenannten „Kobanê-Prozess“ auf die Anklagebank gezerrt werden, weil sie im Herbst 2014 Partei für die kurdischen Verteidigungskräfte Kobanês gegen die Mörderbanden des IS ergriffen und dazu aufriefen auf die Straße zu gehen und gegen die Unterstützung der djihadistischen Kalifat-Krieger durch die Türkei zu protestieren, vervollständigtErdoğans Feldzug gegen die KurdInnen und Linke gleichdam. Zumal sich die HDP zudem noch als einzige Partei der „Großen Nationalversammlung“ (des Parlaments) am 24. April auch ihrerseits nachdrücklich für die Anerkennung des Genozids an den ArmenierInnen aussprach. Dass für den seit 2016 inhaftierten früheren HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş dabei 15.000 Jahre (!) Haft gefordert werden, wäre – wenn nicht so todernst – ansonsten eher ein Eintrag fürs Guinnessbuch oder Bittgesuch für einen eigenen Platz auf der Anklagebank in Den Haag.

Der Schauprozess – in dem der „Palast“ aus Ankara seinen Rachefeldzug für die Niederlage in Kobanê freilich zugleich auch gegen  die zweite ehemalige Ko-Vorsitzende der HDP, Figen Yüksedağ, führt – begann auch gleich mit einem weiteren handfesten Skandal. Aufgrund der zahlreichen Polizisten im Verhandlungssaal, wurde ein Teil der Anwälte unter Verweis auf fehlende Plätze erst gar nicht zur Verhandlung eingelassen. Auf diesen Affront hin verließen folgerichtig auch die übrigen Verteidiger demonstrativ den Gerichtssaal.

„Nicht die HDP, sondern das faschistische AKP/MHP-Regime muss vor Gericht“

Heute wird der Racheprozess gegen die HDP nach Auftakt-Affront und anschließender Corona-Pause wieder aufgenommen und fortgeführt. Neben einer Reihe internationaler BeobachterInnen werden erneut auch VertreterInnen der Gewerkschaften – wie der KESK und DISK, oder der Berufsverbände TÜMBEL-SEN und SES –  und Linken des Landes zugegen sein. Was das Verfahren als solches betrifft, lässt sich mit den treffenden Worten der damaligen YPJ-Kämpferin Viyan Çiyazan kurz und knapp schließen: „Im Kobanê-Verfahren gehört [nicht die HDP, sondern] das AKP-Regime vor Gericht“.

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