Offener Brief der Studierenden der Boğaziçi-Universität

Untenstehend dokumentieren wir den offenen Brief der sich im Protest befindenden Studierenden der Boğaziçi-Universität in Istanbul. In Wien fand heute eine Solidaritätskundgebung mit dem Kampf der Studierenden statt – unten Impressionen davon.

Offener Brief an den 12. Präsidenten der Türkei

Wir hatten schon zuvor Melih Bulu mit dem Gedicht „Gedichtversuche über einen Provokateur“ geantwortet. Es ist erfreulich, dass Sie verstanden haben, dass der eigentliche Verantwortliche Sie selbst sind und dass Sie uns geantwortet haben.
Bisher haben Sie über die Stiftung TÜRGEV unter der Hand mit uns Kontakt aufgenommen. Jetzt versuchen Sie also über die Medien mit uns zu diskutieren. Wir mögen keine Mittelspersonen und bevorzugen es direkt und offen für alle in Kontakt zu treten. Wir hoffen, dass auch Sie auf diese Art weitermachen werden.

Zuerst möchten wir Sie noch einmal an die Gründe unserer Proteste und an unsere Forderungen erinnern:

Sie haben die Studierenden und Lehrenden unserer Universität ignoriert und einen Zwangsverwalter eingesetzt. Ist das, was sie gemacht haben, legal? Ja, wie Sie ja auch bei jeder Gelegenheit betonen, ist es legal, aber legitim ist es nicht. Diese Einsetzung bringt jeden in dieser Gesellschaft, der oder die auch nur ein Krümelchen Gerechtigkeitsbewusstsein besitzt, dazu sich dagegen zu erheben!

Obendrein eröffnen Sie dann auch noch in einer Schnellschusserklärung Freitag nachts Fakultäten und setzen Dekane ein um die Lehrenden, Studierenden, Arbeiter*innen und die ganze Institution zu unterdrücken. Es ist ein Ausdruck der politischen Krise in der Sie sich befinden, dass sie versuchen unsere Universitäten mit ihren eigenen politischen Militanten zu besetzen. Die Opfer dieser Krise werden jeden Tag mehr!

Wir nutzen unsere von der Verfassung garantierten Rechte um alle Teile der Gesellschaft auf die Ungerechtigkeit, die uns angetan wird, aufmerksam zu machen.

Unsere Forderungen sind:

– Alle unsere Freund*innen, die während der Proteste festgenommen wurden, sollen sofort freigelassen werden!

– Die diskreditierenden Kampagnen gegen unsere LGBTI+ Freund*innen und alle anderen als Zielscheibe ausgegebenen Gruppen müssen enden!

– Allen voran Melih Bulu, der der Grund für diese Festnahmen, Verhaftungen und Sündenbockpolitik ist, sowie alle anderen Zwangsverwalter müssen zurücktreten!

– An den Universitäten sollen demokratische Rektoratswahlen stattfinden, an denen alle Teile der Universitäten teilnehmen!

Sie haben einen Satz gesagt, der mit den Worten „Wenn sie mutig genug sind“ anfängt.

Ist es ein von der Verfassung garantiertes Recht den Präsidenten zum Rücktritt aufzufordern? JA!

Seit wann ist es dann eine Frage des Mutes, ein von der Verfassung garantiertes Recht in Anspruch zu nehmen?

Verwechseln Sie uns nicht mit jenen, die Ihnen bedingungslos unterwürfig sind. Sie sind kein Sultan und wir nicht ihre Untertanen.

Aber da sie schon von Mut gesprochen haben wollen wir auch darauf eine Antwort geben.

Wir haben überhaupt keine Immunität! Sie aber agieren seit 19 Jahren unter einem Panzer an Immunität.

Der Innenminister lügt und nutzt dafür religiöse Empfindlichkeiten. Aber wir halten dagegen, dass wir keine Selbstzensur anwenden werden.

Ihr nennt unsere LGBTI+ Freund*innen Perverslinge, aber wir sagen, dass die Rechte von LGBTI+ Individuen Menschenrechte sind

Ihre Parteifreunde treten in Soma Bergarbeiter, wir beziehen klar Position an der Seite der Arbeiter*innen und werden das auch weiterhin tun.

Sie halten den Vorsitzenden der HDP ohne rechtliche Grundlage im Gefängnis. Ebenso Journalist*innen und Gewerkschafter*innen… Wir hingegen sind eins mit denjenigen, die ohne Furcht die Wahrheit laut hinausrufen, wir gehören zusammen, wir sagen, wir sind gegen alle Zwangsverwalter.

Sie lassen die Mutter von Berkin Elvan auf Kundgebungen ausbuhen. Wir sagen, wir sind an der Seite Berkin Elvans.

Sie pöbeln Ayşe Buğra an und machen sie zur Zielscheibe, in dem Sie sagen “Die Ehefrau von Osman Kavala ist auch unter diesen Provokateuren”, und erwähnen dabei nicht einmal ihren Namen. Mit dieser rohen Ausdrucksweise, die suggeriert, die einzig nennenswerte Eigenschaft einer Frau, sei die Ehegattin von ihm zu sein, bringen sie eine sexistische, einfältige Überzeugung zum Ausdruck. Wir hingegen sagen, “Ayşe Buğra ist unsere geschätzte Dozentin und eine Wissenschaftlerin.” Wir sagen, „ein Angriff auf sie, verstehen wir als einen Angriff auf uns.“

(Wir wissen, dass Sie für diesen Brief dutzende Verfahren eröffnen werden, wegen Verherrlichung von Verbrechern oder Beleidigung des Präsidenten, aber wir wissen auch, dass wir niemals aufgeben werden, das Richtige zu sagen!)

Sich mit neugegründeten Fakultäten und einem aufgeblähten Lehrkörper auf den Beinen zu halten, da Ihre Kraft nicht ausreicht, um den von Ihnen selbst eingesetzten Rektor an der Uni zu halten, ist kein sonderlich wagemutiger Schritt. Aus diesem Grund nehmen wir das, was Sie über Mut sagen, nicht ernst.

Uns ist bewusst, weder die Boğaziçi Universität ist die wichtigste Einrichtung der Türkei, noch die Einsetzung von Melih Bulu als Zwangsverwalter ist das größte Problem des Landes.

Geht es um die Forderung nach Ihrem Rücktritt, so rufen wir Sie nicht aus diesem Grund zum Rücktritt auf.

WARUM?

Wenn Sie zurücktreten würden, wären sie zurückgetreten, als Hrant Dink ermordet wurde!

Als in Soma 301 Minenarbeiter ermordet wurden, wären sie zurückgetreten!

Als in Roboski 34 Kurd*innen ermordet wurden, wären Sie zurückgetreten!

Nach dem Zugunfall in Çorlu wären sie zurückgetreten!

Als sie gesehen haben, dass sie tausende von Staatsbürgern arbeitslos gemacht haben, allen voran die durch präsidiale Dekrete entlassenen, wären sie zurückgetreten!

Als die Wirtschaft so tief in der Krise steckte, dass das Volk in die Verarmung getrieben wurde, da hätten sie Verantwortung übernommen, statt ihren Schwiegersohn zu opfern.

Es gibt noch weitere Beispiele, aber Sie sind nie zurückgetreten.

Statt in ihren Aussagen Mut zu bekennen, haben Sie es bevorzugt, so auszusehen, als seien Sie naiverweise betrogen worden.

Warum sollten wir Sie jetzt zum Rücktritt aufrufen?

Solange Melih Bulu auf seinem Rektorsstuhl sitzt, werden wir unsere Proteste verstärken und fortsetzen.

Ob Sie in dieser Frage die notwendigen Schritte setzen werden, das müssen Sie selbst wissen.

Wir sind an der Seite derer, die ihrer demokratischen Rechte und Freiheiten beraubt wurden!

In der Hoffnung, dass Sie verstehen, dass Sie die Unterdrückten dieses Landes nicht zum Schweigen bringen können, indem sie von den Plätzen und Rednerpulten schreien und drohen.

Quelle: Boğaziçi Dayanışması Solidaritätsseite

Eindrücke der heutigen Kundgebung

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