Minenunglück in der Türkei: „Nicht Schicksal, sondern Massaker“

Im Mai 2014 erschütterte die Bergwerks-Katastrophe von Soma in der westtürkischen Provinz Manisa, das größte Gruben“unglück“ der türkischen Geschichte mit 301 getöteten Bergarbeitern, die Welt. Die zynischen und verhöhnenden Aussagen von Recep Tayyip Erdoğan stießen seinerzeit auf eine breite und weltweite mediale Empörung. Am Freitag kamen bei einem neuerlichen Grubenunglück in einer Kohlemine in der nordöstlichen Hafenstadt Amasra erneut 41 Kumpels ums Leben. Parallel wurde bekannt, dass die Behörden einen Bericht des Rechnungshofs aus dem Jahr 2019, der vor der Gefahr Grubengasexplosion in dieser Mine gewarnt hatte, einfach ignoriert haben. Der Regent des Palasts in Ankara, Recep Tayyip Erdoğan, verhöhnte die Opfer derweil neuerlich mit einem zynischen Geschwätz vom „Plan des Schicksals“.

Die vom AKP-Regime maßgeblich mit entfesselte und gestützte Profitorientierung führte schon zur Zeit des folgenschweren Soma-„Unglücks“, Hand in Hand mit der von ihr vorangetriebenen Privatisierung ehemals staatlicher Betriebe und Bergwerkszechen zur privatkapitalistisch-forcierten Profitmaximierung, ungebrochen zu tödlichen Arbeitsunfällen, sozialen Verwerfungen, Dumpinglöhnen, unzumutbaren Arbeitsbedingungen, Prekarisierungen und Massenarbeitslosigkeit. Dergestalt verzeichnete die Türkei denn auch durchgängig Rekordzahlen an tödlichen Arbeitsunfällen. Selbst nach offiziellen Regierungsdaten zählte das Arbeitsministerium in Ankara seinerzeit im Schnitt mehr als vier Tote jeden Tag. Neben den Bergwerken erweisen sich vor allem Baustellen und Werften als lebensgefährlich.

Und sich regender gewerkschaftlicher Widerstand wurde und wird, wie der kurz darauf entbrannte, als „Metallsturm“ in die türkische Geschichte eingegangene, große Metallarbeiterstreik im Metall- und Automobilsektor geradezu exemplarischverdeutlichte, rigoros unterdrückt, staatlich niedergeschlagen, kriminalisiert, die Streikenden und Streikführer misshandelt, gefoltert und justiziell verfolgt. Dem Ausstand der MetallarbeiterInnen wurde staatlicherseits überhaupt aus Gründen „der nationalen Sicherheit“ in Rückgriff auf die „Putsch-Verfassung“ zu Leibe gerückt. Allerdings die Regentschaft Erdoğans ist und blieb gleichwohl durchgängig mit harten Arbeits- und Streikkämpfen der Werktätigen konfrontiert – als besonders prägnantes Beispiel sei nur der Bauarbeiterstreik am neuen Flughafen Istanbul herausgegriffen – und erlebte zuletzt auch eine starke landesweite soziale Protestwelle.

Das jetzige Minen“unglück“ ereignete sich in einer der fünf staatlich betriebenen Minen, die Amasra betreffend, ein Bericht des Rechnungshofs wie gesagt schon 2019 vor der Gefahr einer Grubengasexplosion durch hohe Methangaswerte in der Mine TTK resp. TIM „Amasra Hard Coal Enterprise“ gewarnt hatte. Erdoğan hingegen zitierte dagegen gerade zynisch den „Plan des Schicksals“ herbei.

Erdoğans unsägliche Verhöhnung der Opfer

Zur seinerzeitigen Empörungswelle über die bereits damals angezogenen ‚Belehrungen‘ Erdoğans zu Soma wie: es liege in der Natur des Bergbaus dass es solche Unglücke gebe – die selbst die konservative FAZ damals zur Frage veranlasste: „Ist der Mann noch bei Trost?“ –, sorgte seinerzeit auch der als „Demonstranten-Prügler von Soma“ bekannt gewordene Präsidentenberater Yusuf Yerkel für internationale Schlagzeilen. Auf Buhrufe gegen den verlogenen Besuch des „neuen Sultans von Ankara“ rannte er auf den von zwei Polizisten in Kampfmontur am Boden festgehaltenen linken Bergarbeiter Erdal Kocabıyık zu und versetzte ihm mehrere Tritte. Tags drauf ließ sich Yerkel wegen erlittener Verletzungen in jenem Bein mit dem er tags zuvor mit aller Wucht zutrat krankschreiben.

Die politisch Verantwortlichen des AKP-Regimes gingen parallel zur Tagesordnung über und zimmerten an Erdoğans Lieblingsprojekt einer Präsidialdiktatur des „Palasts“ weiter. Vereinzelte kaschierende juristische Aufarbeitungen des Schalten und Waltens der ökonomischen Eliten im nicht mehr unter den Teppich kehrbaren Gruben“unglück“ im Kohlebergwerk von Soma traten jahrelang auf der Stelle. Nur aller seltenst haben die verantwortlichen Kapitaleigner und Behörden mit Folgen zu rechnen. Das Gruben“unglück“ von Soma ließ sich aufgrund seiner Dimension und Symbolkraft freilich nicht ganz übertünchen. Demgemäß wurden letzten Sommer drei Urteile gegen einen Vorstandsvorsitzenden der Grube und zwei Ingenieure gefällt. Die zuständigen Minister für Arbeit und Energie jedoch blieben konsequenzfrei ihrer Verstricktheit in die Todesfalle Soma im Amt und Yerkel natürlich Präsidentenberater, der als „Belohnung“ für seine Herrentreue und Prätorianerdienste zu Jahresanfang schließlich zum neuen Handelsattaché des türkischen Generalkonsulats in Frankfurt ernannt wurde.

„Nicht Schicksal, sondern Massaker“

Erneut hält der taumelnde „neue Sultan von Ankara“ unbeirrt an seinem Zynismus fest und erklärte am Samstag:„Wir glauben an Schicksal (…). Solche Unfälle werden immer passieren, egal, was man tut“.„Manche mögen sich zwar lustig darüber machen, aber wir sind Menschen, die an den Plan des Schicksals glauben.“ Und erneut schlug ihm für seine bigotte Verhöhnung der Opfer nicht nur scharfe Kritik entgegen, sondern gilt es auch acht Jahre nach Soma mit der FAZ zu fragen: „Ist der Mann noch bei Trost?“

Die gewerkschaftsnahe Zeitung BirGün und der HDP erklärten unisono: „Was passiert ist, ist kein Unfall oder Schicksal. Es ist ein Massaker.“ „Menschenunwürdige Arbeitsbedingungen und unbeaufsichtigte Betriebe sind die einzige Ursache für arbeitsbedingte Morde und Todesfälle von Arbeitern. Das kapitalistische Profitregime und die Gier der AKP/MHP-Regierung verachtet Arbeit, ernährt sich vom Hunger der Armen und führt zu Massakern in Gruben. Dieses Regime ist das Ergebnis einer Kartellpartnerschaft, deren Komponenten in Politik, Bürokratie und Kapital zu verorten sind. Tragende Säule ist die Koalition aus AKP und MHP“, so die HDP weiter. Der Vorsitzende der Gewerkschaft Limter-Is rief unterdessen „die arbeitende Bevölkerung dazu auf, die Arbeit niederzulegen, um gegen den Mord am Arbeitsplatz zu protestiern, auch wenn es nur für einen Tag, nur für ein paar Stunden ist.“

Das politische und gesellschaftliche Schicksal der in Vergessenheit geratenen Soma-Kumpels

Die überlebenden Kumpel der Zeche Somas hingegen finden sich aufgrund ihrer kritischen Äußerungen über die Sicherheitsmängel (die beständigen Verstöße gegen Sicherheitsbestimmungen, die schlampigen staatlichen Kontrolle, dem vielfachen Einsatz veralteten Arbeitsgeräts, den fehlenden Rettungskammern, den zu wenigen Kohlenmonoxidsensoren und nicht vorhandenen Notfallplänen – was ihnen jeweils mit einem kurzen „Isine bak!“ – „Kümmere dich um deine Arbeit“ ‚beantwortet‘ wurde), sowie der von der AKP kurz zuvor bewerkstelligten Zurückschmetterung des parlamentarischen Antrags auf eine Untersuchung früherer Arbeitsunfälle in Soma durch eine Parlamentskommission, seither vielfach auf „schwarzen Listen“ wieder. Lediglich 300 der zu Ende 2014 dann gekündigten über 2.800 Soma-Bergleute wurden von der Betreibergesellschaft im Anschluss an ihren kollektiven Rauswurf wieder eingestellt. Und nur wenige, der sich auf den „schwarzen Listen“ Wiederfindenden, fanden in den Bergarbeiterstädten der Region so in anderen Zechen oder Subunternehmen Beschäftigung. Die meisten von ihnen waren im Anschluss zunächst arbeitslos und mussten sich zu einem erklecklichen Teil, da die Arbeitslosenunterstützung nach sechs Monaten ausläuft, als Tagelöhner auf den Feldern der Region verdingen. Die Familien der Todesopfer wurden mit mauen Hinterbliebenenrenten in der Höhe weniger hundert Euro abgespeist. Sowohl das eine, wie das andere reichte schon seinerzeit kaum dazu um über die Runden zu kommen. Ihre heutige Lage unter der galoppierenden Hyperinflation in der Türkei lässt sich nur erahnen.

„Business as usual“ – die vergessene Katastrophe und ihre Fortsetzung am Flughafen Istanbul

Nach den kurzfristigen medialen Empörungen der Weltöffentlichkeit gingen das Regime in der Türkei und die westliche Berichterstattung nach dem Motto „Business as usual“ wieder zur Tagesordnung über. Die Krokodilstränen von damals sind schon lange vertrocknet, die Opfer des Massakers und die Folgen für die Überlebenden dem Vergessen preisgegeben. An der Lage der Werktätigen der Türkei hat sich wie Amasra neuerlich bluttriefend ins Bewusstsein ruft auch nach dem Schock von Soma nichts verbessert.

Das zeigte allerdings wenig später nochmals wie durch ein Brennglas das Prestigeprojekt Erdoğans, den neuen Flughafen von Istanbul pünktlich zum türkischen Nationalfeiertag am 29. Oktober 2018 einweihen zu können, wofür der türkische Staat und das für den Bau zuständige Unternehmen IGA, samt der mannigfachen Subunternehmen im wortwörtlichen Sinne des Wortes über Leichen gingen. Die Mammutbaustelle und der erbarmungslose Hochdruck mit dem auf dieser am Bau des Flughafens gearbeitet wurde, forderten nach Recherchen kritischer Medien bis zum Ausbruch des Arbeitskampfs im September 2018 unter der bezeichnenden Losung „Köle Degiliz!“ – „Wir sind keine Sklaven!“ rund 400 Todesopfer.

Der türkische Staat, fest entschlossen das Bauprojekt unter allen Umständen im vorgesehenen Zeitplan des „neuen Sultans von Ankara“ durchzupeitschen, machte sich daraufhin daran, den Streik mit Wasserwerfern und Tränengas niederzuschlagen und stürmte mit Spezialeinheiten der Polizei (ausgestattet mit Verhaftungslisten) die Unterkünfte der Beschäftigten, verhaftete 543 streikende Arbeiter sowie Gewerkschaftsfunktionäre und transportierte sie in Kasernen der Militärpolizei ab.

An der Lage der Werktätigen in der Türkei hat sich auch nach dem Schock von Soma nichts verbessert. Billigend wurden weiterhin massenhaft Todesopfer wie etwa auf der Istanbuler Flughafenbaustelle, in der Türkei vielfach als „Arbeitsmorde“ bezeichnet, in Kauf genommen. Schlimmer noch: mit der Verhängung des permanenten Ausnahmezustands 2015 wurde den Arbeitenden und Gewerkschaften kurz nach Soma sogar das Streikrecht entzogen – Streiks damit de facto verboten und wurden mit dem expliziten Verweis auf den Ausnahmezustand immer wieder für illegal erklärt (ohne den vielfältigen, mutigen und entschlossenen Arbeitskämpfen im Land damit Herr werden zu können). Nur fanden Letztere keinen Eingang mehr in die bürgerlichen Gazetten. Ebenso wenig wie die rigorosen staatlichen Attacken auf Arbeitskämpfe und das Streikrecht seit Erdogans Inthronisierung im Rahmen seiner Präsidial-Diktatur. Sozial wiederum, hat sich die Lage der Werktätigen am Bosporus dramatisch verschärft. Das Gros der Arbeitenden und einfachen Menschen kommt kaum mehr über die Runden. Was Wunder, dass selbst die eiserne Knute des faschistischen AKP/MHP-Kabinetts vor dem Bersten steht.

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