Kulminationspunkt einer über 70jährigen gewerkschaftlichen Fehlorientierung: größter Reallohnverlust seit 1955

Während sich die Gewerkschaftsspitzen gerade für ihre Lohnabschlüsse auf die Schultern klopfen und zahnlose Appelle an die Regierung zur Eindämmung der Inflation richten, errechnete das WIFO mit minus 2,3% für 2022 eben den drohend größten Reallohnverlust seit 1955, sprich: seit knapp 70 Jahren. Dieses Absacken der Löhne und Gehälter und das ganze gewerkschaftliche Schlammassel lässt sich allerdings mitnichten schulterzuckend mit „höherer Gewalt“ einer brachial zurückgekehrten Inflation oder schnöden Verantwortlichkeitszuweisung an eine nicht aus den Startlöchern kommenden „Inflationskommission“ abschieben, sondern fußt zutiefst in den lohnpolitischen Leitlinien und der „sozialpartnerschaftlichen“ Orientierung des ÖGB.

1947 – 1951: erste Ansätze einer „Wirtschafts- und Sozialpartnerschaft“

Zwischen 1947 und 1951 wurden die Lohnabschlüsse in Österreich durch die sogenannten Lohn- und Preisabkommen geregelt, die gleichsam Generalkollektivverträgen entsprachen und die ersten Ansätze einer „Wirtschaftspartnerschaft“ bzw. der späteren „Sozialpartnerschaft“ bildeten. Da die Preissteigerungen dabei den Lohnabschlüssen regelmäßig davonliefen, fraß die Inflation bereits seinerzeit beständig die Lohnerhöhungen auf und erlitten die Arbeitenden stete Reallohneinbußen. Gleichviel im Rahmen der Lohn- und Preisabkommen neben der Regelung der Lohnerhöhungen auch bestimmte Lebensmittelpreise und bestimmte Tarife – Strom, Gas, Bahn, Straßenbahn – gedeckelt wurden. Entsprechend, sowie in grundsätzlicher Absicht, gab es bereits seinerzeit Debatten um die „gelenkte Lohnpolitik“, die (wie hohe Gewerkschaftsfunktionäre freimütig bekannten) als Funktionsmechanismus beinhaltete, dass die gewerkschaftlichen Lohn- und KV-politischen „Forderungen weder von den Mitgliedern aufgestellt (werden), noch werden sie um ihre Billigung gefragt“. Mit der Abschaffung der Subventionen der Kohle- und Kokspreise und dem Wegfall verschiedener Preisstützen wurden zudem zum einen parallel Güter des täglichen Bedarfs teurer (wie Brot, Milch, Schweinefleisch, Zucker und Teigwaren). Zum anderen stiegen die Lebenserhaltungskosten aufgrund einer allgemeinen Teuerung (Strom, Gas, Erhöhung der Tarife für Verkehrsmittel und Post) deutlich an. Zudem ließ der Korea-Krieg der USA (1950 – 1953),der mehr als 1 Million koreanischen Zivilsten und nochmals rund 1 Million nordkoreanischen Soldaten das Leben kostete, zugleich die Preise für Rohstoffe und landwirtschaftliche Produkte hinaufschnellen.

1955: Wiederaufbau und Budgetsanierung auf Kosten der Arbeitenden

1955 – dem Jahr mit dem valide Reallohn-Aufzeichnungen begannen – zeichnete sich zudem mehr und mehr ab, dass trotz sogenanntem österreichischen „Wirtschaftswunder“ zwischen 1953 und 1962 (mit einem durchschnittlichen BIP-Wachstum von 6,3% pro Jahr) und günstiger Beschäftigungslage der Kampf um Löhne und Preise härter wird. Vor diesem Hintergrund trat – zumindest auf programmatischer Ebene – zwar der Reallohn (im Verhältnis zu den Nominallohnerhöhungen) formell stärker ins Zentrum der gewerkschaftlichen Erwägungen. Allerdings versuchte der ÖGB den Reallohn aufgrund seiner – mit einem Vorrang des Wirtschaftsaufbaus begründeten – zurückhaltenden Lohnpolitik völlig überbordend durch eine Senkung der Preise zu erreichen. Diese aber hatten schon die Lohn- und Preisabkommen nie im Griff, weshalb die Reallöhne auch auf breiter Front absackten. Aus der Arbeiterschaft und den Betrieben gab es gegen die ÖGB-Strategie bereits zu jener Zeit klare Forderungen nach Lohnerhöhungen um bis zu 25%, was die Gewerkschaftsspitze allerdings brüsk ablehnte. Durch das Primat des Wiederaufbaus und des Wiederaufschwungs der österreichischen Wirtschaft sowie der Budgetsanierung wurden deren Kosten dergestalt denn auch auf die Arbeitenden abgewälzt.

Die sogenannte „Golde Zeitalter“ – die kurze außergewöhnliche Phase des Kapitalismus

Im Anschluss an die unmittelbare Rekonstruktionsperiode des Kapitalismus stiegen in einer außergewöhnlichen Phase der Kernländer des Kapitalismus bis zur neoliberalen Wende Mitte/Ende der 1970er Jahre die Löhne dann an (und verringerte sich auch die Ungleichheit etwas, wie die Daten Thomas Pikettys im Einzelnen akribisch zeigen). Und selbes gilt lohnpolitisch ebenso für Österreich. Eine allerdings nur kurz währende Phase eines Vierteljahrhunderts, die sich zudem weitgehend auf die kapitalistischen Zentren beschränkte.

Die Neoliberale Wende der 1970er Jahre

Einen – wenn auch aus mehrerlei Gründen – nur ungenauen, aber nichts desto trotz aussagekräftigen Hinweis auf die globale Trendänderung in der Lohnentwicklung und Ausbeutungsrate bietet die Entwicklung der Lohnquote. Laut OECD ist der Anteil der Löhne am BIP in den reichsten 15 EU-Staaten seit den achtziger Jahren denn auch massiv zurückgegangen. In Österreich seit 1978. Besonders drastisch ergeht es dabei den ohnehin ums Alltägliche ringenden untersten Einkommensschichten. Sie mussten, den Rechnungshof-Einkommensberichten zufolge, überhaupt die stärksten Kaufkrafteinbußen verbuchen, weil in ihren Lohn- und Gehaltsabschlüssen vielfach deutlich unter der Inflationsrate liegend. Quer über alle Berufsgruppen brachen die Reallöhne- und Gehälter des untersten Einkommenszehntels der Lohnabhängigen schon vor der Wirtschafts- und Corona-Krise alleine von 1998 – 2013 um sage und schreibe 35% ein.  Jene der männlichen Beschäftigten des gesamten unteren Einkommensviertels wiederum sackten um ihrerseits immense 24% ab. Aber auch die mittleren Einkommen sanken innerhalb des Vergleichszeitraums real und netto um weitere Prozente ab, bereits das Jahrzehnt zuvor spürbare Kaufkraftverluste verbuchen müssend.

Das Abgehen von „Benya-Formel“ mit neuer lohnpolitischer Leitlinie

Unter gewerkschaftlicher Perspektive entscheidend mitverantwortlich dafür ist diesbezüglich auch die strategische Wende des österreichischen Kapitals und der politischen Eliten von einem nachfrageseitigen Austro-Keynesianismus zu einer angebotsorientierten Wirtschaftspolitik und neoliberalem Modell des Kapitalismus. Damit einhergehend wandelte sich in Österreich seit Anfang der 1980er auch das „sozialpartnerschaftliche Arrangement“ und die lohnpolitische Leitlinie der Gewerkschaften. Die vormals keynesianische, an der sog. „Benya-Formel“ orientierte Lohnpolitik (die jährliche Lohnerhöhung habe den Anstieg der Lebenserhaltungskosten – genauer: die Inflationsrate – auszugleichen plus den halben Wert des Produktivitätszuwachses zu umfassen), wurde seit den frühen 80er Jahren mehr und mehr zugunsten einer wettbewerbsorientierten Lohnpolitik „maßvoller“ Lohnabschlüsse im „höheren Interesse“ der Schlacht um den Weltmarkt entsorgt.

Der ÖGB – oder der Mangel einer theoretisch begründeten autonomen Gegenposition

Der ideologische Tsunami des sog. Neoliberalismus fand seitherauch in Österreich immer stärkeren Eingang in die Kollektivvertragspolitik. Dessen zentrales lohnpolitisches bzw. KV-politisches Credo zurückhaltender Lohn- und Gehaltsabschlüsse, Deregulierungen und Arbeitszeitflexibilisierungen um der vielbeschworenen „internationalen Konkurrenzfähigkeit“ wegen, stieß auch seitens der Gewerkschaftsspitzen auf strategische Akzeptanz und entwand dem ÖGB und den Fachgewerkschaften im Grunde die Möglichkeit jedweder theoretisch begründeter autonomer Gegenposition.

Während die so sukzessiv verdrängte frühere keynesianistisch begründete lohnpolitische Konzeption in der Entwicklung der Löhne und Gehälter noch das entscheidende Nachfrageaggregat in Anschlag brachte, trat mit der ideologischen Wende zum „sozialpartnerschaftlichen Angebotskorporatismus“ an deren Stelle vorrangig die Froschperspektive der betriebswirtschaftlichen Verwertungslogik des Kapitals sowie das Mantra des internationalen Standortwettbewerbs.

Damit verabschiedete sich der ÖGB nicht nur selbst noch von der Grundideologie des gewerkschaftlichen Reformismus nach 1945 im Land, sondern verfügt seither auch über kein eigenes Konzept gegen die neoliberale Offensive.

Kämpferische Perspektive: Preise runter! – Löhne rauf!

Der vom WIFO gerade prognostizierte höchste Reallohnverlust in Österreich seit grob 70 Jahren lässt sich nur über ein Ausbrechen aus diesem Gewerkschaftsschlammassel und einer Wende zu einer klassenkämpferischen Perspektive entgegentreten. Die österreichweite BetriebsrätInnen-Konferenz zur Inflation am 8. Juni böte denn eigentlich auch die Gelegenheit, die Weichen genau diese Richtung neu zu stellen und zu einem kämpferischen, effektiven und sozial zielgerichtet konzipierten „Preise runter!“ parallel dazu die Zeichen ebenso auf ein entsprechend kräftiges „Löhne rauf!“ zu setzen.

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