Heute vor 16 Jahren wurde Hrant Dink, Herausgeber der türkisch-armenischen Wochenzeitung „Agos“, in einem bis tief in den Staatsapparat hineinreichenden Komplott in Istanbul auf offener Straße erschossen. Das Motiv der Bluttat? Hrant Dink hat den ersten systematischen, staatlich geplanten und begangenen Genozid in Europa im 20. Jahrhundert offen beim Wort genannt. In der Türkei und ihrem Gründungsnarrativ wie aggressiven Nationalismus ein zu ahndendes „Verbrechen“. Denn, wie der vor kurzem verstorbene marxistische Historiker Werner Röhr schrieb: „Der Völkermord an den Armeniern war Gründungsmoment des gegenwärtigen türkischen Staates“, Bestandsstück des „türkischen Integritätsnationalismus der innerhalb der Nation keine inneren Differenzierungen anerkennen will, seien es ethnische, nationale oder religiöse“. Ein Aspekt, den es gerade auch vor dem Hintergrund des heurigen 100. Gründungstag der Republik Türkei im Bewusstsein zu halten gilt.
Der Mord an Hrant Dink
Aufgepeitscht durch eine nationalistische Hetzkampagne und entfachte antiarmenische Pogromstimmung und sekundiert von einem Strafprozess wegen „Beleidigung des Türkentums“ gegen den 53-jährigen Journalisten, weil dieser den bis heute in der Türkei geleugneten Genozid an den ArmenierInnen in einer öffentlichen Erklärung als „Völkermord“ zur Sprache brachte, erschoss der nationalistische Fanatiker und Jungfaschist Ogün Samast den Herausgeber der zweisprachigen armenisch-türkischen Wochenzeitung Agos 2007 beim Verlassen des Redaktionsbüros. Augenzeugen der Bluttat hörten den Täter im Anschluss rufen: „Ich hab den Ungläubigen erschossen“. Hrant Dink galt nicht nur als die bekannteste Stimme der verbliebenen 80.000 ArmenierInnen in der Türkei, sondern auch als unbestechlicher Journalist und mutiger Streiter für die Meinungsfreiheit.
Die zwei Jahre davor erfolgte Verurteilung Dinks am 8. Oktober 2005 wegen „Beleidigung des Türkentums“ zu einer Bewährungsstrafe wiederum, basierte auf dem berüchtigten „Türkentum“-Paragrafen 301 und machte ihn zugleich zu einer öffentlichen, ja quasi offiziellen Zielscheibe. Das bestätigte auch sein Mörder, der später zu Protokoll gab, Hrnat Dink als Mordopfer insbesondere aufgrund dieser Verurteilung ausgewählt zu haben – schließlich sei durch die Verurteilung erwiesen gewesen, dass es sich bei Dink um einen „Feind der Türken“ handelte.
Bereits im unmittelbaren Anschluss an seine Ermordung demonstrierten am Abend des 19. Jänners 2007 abertausende Mitglieder der armenischen Gemeinde, GewerkschafterInnen, MenschenrechtsaktivistInnen und Linke in Istanbul und Ankara gegen die Bluttat. Unter den skandierten Losungen „Wir sind alle Hrant Dink, wir alle sind Armenier“ und „Schulter an Schulter gegen Faschismus“, aber auch: „Der Staat ist der Mörder“, strömten Massen zu den spontanen Kundgebungen und auf die Straßen. Das Begräbnis Hrant Dinks entwickelt sich dann zu einer wahren Manifestation der ‚anderen Türkei‘. Acht Kilometer lang soll sich der Trauerzug damals durch Istanbul zum armenischen Friedhof Balikli gezogen haben.
Schleier nicht gelüftet
Der Rechtsextremist und Mörder Hrant Dinks, Ogün Samast, der die tödlichen Schüsse abgab, wurde 2011 schließlich zu einer 22jährigen und 10-monatigen Haftstrafe verurteilt, doch mit den Hintermännern und Helfern des jungen Attentäters beschäftigte sich die türkische Justiz nur widerwillig. Schon der Richter erlaubte nicht, das Verfahren auszudehnen, um die Hintermänner des Mordanschlags zu suchen. Zwar wurde später noch der Gülen-Anhänger und glühende Nationalist Yasin Hayal als unmittelbarer Anstifter der Tat, der Ogün Samast auch die Tatwaffe besorgte und aushändigte, zu lebenslanger Haft verurteilt. Im Dunklen blieben bisher jedoch die schon kurz nach dem Attentat zu lesenden Berichte, dass die Polizei umgehend Beweismittel, etwa ein Video einer Überwachungskamera vom Tatort, vernichtete oder die sich seit der Bluttat immer weiter häufenden Indizien der Verstrickung des türkischen Geheimdiensts in den Mordanschlag. Der Schütze Samast selbst beschuldigte später den früheren Polizeichef seiner Heimatstadt Trabzon, Ramazan Akyürek, sowie den damaligen Chef des Polizeinachrichtendienstes in Istanbul, Ali Fuat Yilmazer, als die wahren Hintermänner und sagte: „Sie haben mich den Mord ausführen lassen“ – was die zahlreichen Indizien für eine tief in den Staatsapparat hineinreichende Verschwörung nur zusätzlich bestätigte. Yasin Hayal, so Samast 2014, habe ihm versichert, dass die beiden Polizeioffiziere auf ihrer Seite ständen und für alles Sorge tragen würden. Seit dem Bruch und zwischenzeitlichen Machtkampf zwischen der AKP und der Gülen-Bewegung sind zwar einzelne tiefere Blicke hinter den über den Mord gebreiteten „dunklen Schleier“ (wie Dinks Angehörige es formulieren) ans Tageslicht getreten und weitere Verurteilungen erfolgt – und dass die nun als Terrororganisation eingestufte Fetö tief in die Verschwörung zur Hinrichtung Hrant Dinks involviert ist, steht außer Frage –, gelüftet ist der dunkle Schleier über die ganze Phalanx der Drahtzieher und Hintermänner sowie das staatliche Ausmaß an der Verschwörung aber noch lange nicht.
Noch im selben Jahr des Mordanschlags auf seinen Vater wurde auch Hrnat Dinks Sohn, Arat Dink, das Delikt des Verstoßes gegen den Paragraphen 301 zum Vorwurf gemacht und dieser am 11. Oktober 2007 für schuldig befunden, „das Türkentum beleidigt“ zu haben, weil er (zusammen mit Serkis Seropyan) ein Interview das Hrant Dink der Nachrichtenagentur Reuters 2006 gegeben hatte, veröffentlichte. Die Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt, da er bisher unbescholten war, wie es in der Urteilsbegründung hieß.
Zahnlose EU – „Beleidigungen des Türkentums nicht von Meinungsfreiheit umfasst“
Vor dem Hintergrund der Ermordung Dinks erfolgte daraufhin eine massive Kritik der EU-Staaten am „Türkentum“-Paragraphen. Die EU forderte die Türkei auf, den Gesinnungs-Paragraphen 301 ersatzlos zu streichen. Erdoğan – diesbezüglich oftmals den Satz von sich gebend: „Es gibt in der türkischen Geschichte nichts, weswegen wir uns schämen müssten“ –, erklärte sich letztlich zu einer Reformierung des Paragraphen bereit. Der Gesinnungs-Paragraph 301 wurde auf diesen Druck der EU im Zuge der Beitrittsverhandlungen hin zwar formaliter novelliert, blieb in seinem Kerngehalt aber unverändert in Kraft und dient auch weiterhin als wirksames Instrument zu Verfahren wegen „Herabsetzung“ oder „Beleidigung“ ‚des türkischen Staats und seiner Nation‘. In der Praxis fungiert er in seiner beinahe beliebigen Grenzsetzung für Kritik und Meinungsfreiheit denn auch weiterhin als willfähriges Instrument gegen Oppositionelle und unliebsame Intellektuelle – auch wenn sich EU-Erweiterungskommissar Oli Rehn seinerzeit der erzielten ‚Abschwächung‘ rühmte. Hrant Dinks Anwalt Erdal Doğan bezeichnete die Novelle (Ersetzung der Passage „Beleidigung der Türkentums“ durch „Beleidigung/Herabsetzung der türkischen Nation, des türkischen Staats“ etc.) denn auch bereits damals als „Augenauswischerei“. Entsprechend wurde im Dezember gerade Anklage gegen 11 frühere Mitglieder des Zentralvorstands der HDP erhoben,weil sie den Völkermord an den ArmenierInnen als Genozid bezeichneten und sich für einen Aufarbeitungsprozess aussprachen. „Der türkische Staat und seine Nation“, so die Staatsanwaltschaft zu Anklageerhebung, „werden eines Völkermords bezichtigt, der gar nicht stattgefunden hat“. Wird das Gegenteil behauptet, sind für die Staatsanwaltschaft nach Paragraph 301 („Herabsetzung der türkischen Nation“) die Grenzen einer zulässigen, von der Meinungsfreiheit abgedeckten Kritik überschritten. Ja, das Plädoyer für eine Anerkennung und Aufarbeitung des Genozids an den ArmenierInnen stelle vielmehr eine „gezielte Demütigung der Türken“ und „Gefahr für die nationalen Interessen“ (der Türkei) dar, wie der Oberstaatsanwalt allen Ernstes ausführte.
Der Begriff Genozid, Raphael Lemkin und der Völkermord an den Armeniern
Dabei entwickelte der Völkerrechtlicher Raphael Lemkin, der sich seit 1921 intensiv mit dem Völkermord an den ArmenierInnen beschäftigte, den Begriff „Genozid“, eine Zusammenfügung des altgriechischen Begriffs genos (Volk oder Stamm) und des lateinischen caedere (töten), entgegen der staatsoffiziellen Leugnung des Völkermords am Bosporus sogar im engsten Zusammenhang des Schicksals der ArmenierInnen im osmanischen Reich – das ihm dafür Pate stand.
1934 schlug er dem Völkerbund eine internationale Konvention gegen die Verbrechen an nationalen, religiösen und rassischen Gruppen vor und bezog sich diesbezüglich direkt auf den Völkermord an den ArmenierInnen in den Jahren 1915/1916. 1945/46 assistierte er im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess zunächst dem Anklagevertreter der USA, Robert Jackson. 1947 arbeitete Lemkin dann für die UNO eine Genozidkonvention zur Bestrafung von Völkermord aus. Sein Entwurf wurde am 10. Dezember 1948 von der UN-Vollversammlung einstimmig als Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Verbrechens des Völkermords angenommen und trat nach der Ratifizierung am 12. Jänner 1951 in Kraft. Die Konvention der Vereinten Nationen schließt eine Verjährung von Völkermord aus. Auch die Türkei trat ihr am 31. Juli 1950 ohne Vorbehalte oder Ergänzungen bei. Gleichzeitig bestreitet sie davon untangiert jedoch bis heute den Genozid an den ArmenierInnen und erhob seine Leugnung zur Staatsdoktrin, mit schweren Strafen bei Verstoß gegen diese Raison.
Die ersten Vorzeichen des Herbst 2014
Erste Maßnahmen, „die sich nachträglich als Vorzeichen des Genozids deuten lassen“ – so Ismail Küpeli in Anschluss an Dabag/Platt– wurden bereits im Herbst 2014 auf den Weg gebracht. „Im Zuge der Türkisierung der Wirtschaft erfolgten zuerst Boykottaufrufe und -maßnahmen gegen armenische Geschäfte. Es folgten Verhaftungen und ‚gezielte Morde an kirchlichen, politischen und wirtschaftlichen Repräsentanten‘.“
Die staatsoffizielle bzw. staatlich gelenkte türkische Geschichtsschreibung dagegen, unterfüttert von Publikationen etwa der staatlichen Türkischen Historischen Gesellschaft (Türk Tarih Kurumu, TTK), dagegen, hält auch nach über einem Jahrhundert hartnäckig an der Leugnung bzw. Umdeutungen des Genozids fest.
Der Genozid 1915/16
Mit den etwa 1,5 Millionen Opfern der Morde, Massaker, Deportationen, Todesmärsche, des Hungers und von Krankheiten 1915/16, wurden innerhalb kürzester Zeit mindestens zwei Drittel aller ArmenierInnen hingemordet. Der mit Michael Mann – einem der führenden Experten der Erforschung der modernen Praxen ethnischer Säuberungen und Genozide – gesprochen: proportional „erfolgreichste Säuberungsmord des zwanzigsten Jahrhunderts“.
Unter dem Deckmantel einer vorgeblichen Deportation, vorangepeitscht und systematisch staatlich organisiert unter Federführung Talats (Innenminister), Envers (Kriegsminister) und der grauen Eminenz Sakir – der wie ein tödlicher Odem die Todesmärsche und Massaker an den Männern, Frauen und Kindern beaufsichtigte –, sowie des jungtürkischen Offiziers Cemal und dem Militärarzt Nazim wurde so mit wechselnder Intensität ein rigoroser Völkermord in Gang gesetzt.
Vorangegangen waren ihm eine Geheimberatung der maßgeblichen Führungskräfte des jungtürkischen Komitees „Einheit und Fortschritt“ (CUP) Mitte Februar 1915 unter der Leitung von Talat. In deren Ergebnis wurde einstimmig ein, sich dann noch selbsteskalierendes, Programm zur Ausrottung der ArmenierInnen angenommen, eine systematische Vernichtungsstrategie verabschiedet sowie eine Kommission zur Vorbereitung und Ausführung der totalen Vernichtung ohne Rücksicht auf Alte, Kinder und Geschlecht eingesetzt. Mitte April erging dann ein geheimes Schreiben an die Gouvernements und Kreise des Landes, in dem für den 24. April bei Sonnenaufgang der Beginn angekündigt wurde, gegen die ArmenierInnen als „ungläubige Feinde“ loszuschlagen und „dieses fremden Element auszurotten“. Zuständig, aber zugleich von breiten Kreisen des Militärs, der Polizei, Behörden und der Bevölkerung willfährig unterstützt, die war die zehntausende Mann starken „Spezialorganisation“ der CUP (Teşkilât-i-Mahsusa).
Die sogenannten Unionistenprozesse
Das Ende des Ersten Weltkriegs besiegelt danach nicht nur das Ende des Osmanischen Reichs, sondern setzte – auf internationalen Druck – auch ein Strafgericht gegen die im Landesinneren begangenen Verbrechen ein. In drei Verfahren wegen „Ausrottung eines ganzen Volkes“ vor dem Sondertribunal für die strafrechtliche Verfolgung der für den Massenmord an den ArmenierInnen Verantwortlichen wurden im Jahr 2019 31 Personen – Minister der Kriegskabinette, Funktionäre der CUP, Offiziere sowie regionale und lokale Beamte – angeklagt und gegen 17 von ihnen Todesurteile verhängt. Drei davon auch vollstreckt. Die Beweislast (Dokumente, Zeugen, Berichte, etc.) war auch trotz der in den letzten Kriegstagen von den Verantwortlichen noch weg geschafften Archive und systematischen Vernichtung belastenden Aktenmaterials erdrückend und unzweifelhaft. „Die [sogenannten] Unionistenprozesse“, so der marxistische Historiker Werner Röhr, „stellten vor aller Weltöffentlichkeit klar, dass es sich bei dem Mord an den Armeniern 1915/16 nicht um eine Folge von Kriegshandlungen, sondern um einen von der CUP-Führung geplanten, staatlich organisierten, systematisch betriebenen Völkermord handelte.“ Gegen acht der zum Tode verurteilten Angeklagten sowie Hauptschuldigen des Genozids – unter ihnen: Enver, Talat, Sakir, Nazim und Cemal – wurde in Abwesenheit verhandelt. Deutschland, in dem in den führenden politischen Kreisen die Befürchtung grassierte, die Angeklagten könnten auch die deutsche Mitschuld offenlegen, gewährte ihnen unter dem neuen sozialdemokratischen Präsidenten der nunmehrigen Republik, Friedrich Ebert, Schutz und Unterschlupf.
Ein Genozid zugleich, in den in indirekter wie direkter Mitschuld jedoch auch die imperialistischen Großmächte selbst verstrickt waren. Sei es, dass sie die ArmenierInnen wie Großbritannien in ihren Kriegsplänen zu instrumentalisieren suchten, um sie in eins dann aber ihrem Schicksal zu überlassen. Oder in direkter Komplizenschaft wie Deutschland und Österreich, im „einzigen Ziel“, wie es der deutsche Reichskanzler Hollweg im Wissen um das Gemetzel formulierte, „die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig ob darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht.“ Und die die politischen Hauptverantwortlichen des Genozids nach Kapitulation des Regimes dann heimlich von der deutschen Marine ausschiffen ließ.
Gleichzeitig verblaste im Fortgang der innenpolitischen und internationalen Ereignisse das Interesse und die Bereitschaft der weiteren Aufarbeitung sowie der Strafverfolgung und die Frage der Verstrickung wie Mitschuld der neue Führungsriege der CUP unter Kemal Atatürk zusehends. Dahingehend kam den neuen politischen Führern der Türkei in einer besonderen Ironie der Geschichte auch die Attentate der geheimen Kommandos der armenische Daschnak-Partei, die die Vollstreckung der Istanbuler Urteile in den Schlupfwinkeln der Hauptschuldigen selbst in die Hand nahm, entgegen, dass sie die belastende Erinnerungen an die jeweiligen Verflechtungen mit den jungtürkischen Hauptverantwortlichen des Genozids an den ArmenierInnen bis zu einem gewissen Grad mitbeseitigt.
Bereits im Laufe des Jahres 1919 wurde jegliche weitere Strafverfolgung der Völkermörder eingestellt und die Verurteilten später gar amnestiert. Die Hingerichteten galten fortan sogar mehr und mehr als Helden. Zwei der 1920 für ihre Gräueltaten zum Tode durch den Strang Verurteilten wurden vom kemalistischen Parlament schon wenig später zu „nationalen Märtyrern“ erklärt und Talat, Enver, Sakir und Cemal die Anerkennung ihrer „Verdienste um die Nation“ ausgesprochen. Entsprechend sind für die Haupttäter im Anschluss über die ganze Türkei hinweg Denkmäler errichtet worden, Boulevards, Straßen und Schulen nach ihnen benannt worden
Ja, die sterblichen Überreste Talats wurden vielsagend später in Hitlers Einvernehmen vom Nazi-Faschismus unter militärischer Ehrenbezeugung, in einem zeremoniell mit Hakenkreuzfahnen behängten Zug, nach Istanbul überführt und feierlich beigesetzt. Ein Ort, der bis in die heutigen Tage einen Pilgerweg für türkische Nationalisten markiert. Gleich dem, ethnisch und konfessionell untersetzten, militanten türkischen Nationalismus der Jungtürken – samt Kemal Atatürk. 1996 wiederholte sich analoges mit dem Sarg Envers aus Tadschikistan.
Parallel erhob die Türkei die Leugnung des Genozids an den ArmenierInnen zur Staatsdoktrin und stellte die Wahrheit über den Völkermord als „Verbrechen gegen das Türkentum“ unter Strafe.
Warum?
Auf die Frage, warum die Türkei den Völkermord an den Armeniern auch nach über einem Jahrhundert so hartnäckig leugnet, antwortete der marxistisch orientierte britische Historiker Perry Anderson, ein intimer Kenner der türkischen Geschichte: „Die unerbittliche Weigerung des türkischen Staates, die Tatsache des Massenmordes an den Armeniern auf seinem Territorium anzuerkennen, ist … eine aktuelle Verteidigung der eigenen Legitimität. Denn der ersten großen ethnischen Säuberung, die Anatolien homogen muslimisch werden ließ, wenn auch noch nicht homogen türkisch, folgten kleinere Reinigungen des Staatskörpers, im Namen desselben integralen Nationalismus, und die dauern bis auf den heutigen Tag fort. Griechenpogrome 1955/1964; Annexion und Vertreibung der Zyprioten 1974; Ermordung von Aleviten 1978/1993; Unterdrückung der Kurden 1925 – heute‘“.
Oder nochmals in den resümierenden Worten Werner Röhrs: „Der Völkermord an den Armeniern war Gründungsmoment des gegenwärtigen türkischen Staates und hat mit diesem bis heute überdauert. Mit ihm wird auch seine ideologische Rechtfertigung reproduziert, nämlich jener türkische Integritätsnationalismus, der innerhalb der Nation keine inneren Differenzierungen anerkennen will, seien es ethnische, nationale oder religiöse. Minderheiten haben keine Reichte, weil es keine Minderheiten geben darf, ihre bloße Existenz gilt als ‚Beleidigung‘ der Integrität der türkischen Nation, die Einforderung ihrer Rechte als Straftatbestand.“
Wer sich dem widersetzt, dem und der droht justizielle Verfolgung, Mordhetze bzw. zur Zielscheibe einer extralegalen Hinrichtung zu werden. Und so gilt auch am heutigen Todestag nicht weniger wie vor 16 Jahren: „Wir sind alle Hrant Dink“.
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