Die Geschichte, das Geschick und die brachialen Repressionen gegen die linke, pro-kurdische HDP (Demokratische Partei der Völker) ist – neben vielen anderem – untrennbar mit den Parlamentswahlen im Juni 2015 in der Türkei verknüpft. Mit 13% der Stimmen knackte die HDP überraschend klar die 10%ige Wahlhürde und zog in die sog. „Große Nationalversammlung“ ein. Die AKP Erdoğans hingegen verlor in eins mit diesem Erfolge der HDP erstmals in ihrer Geschichte ihre bis dahin gehaltene absolute Parlamentsmehrheit. Schon am Tag des Wahlausgangs machte der Despot am Bosporus allerdings klar, dass er nicht bereit ist dieses Wahlergebnis anzuerkennen.
Um wieder eine alleinige Regierungsmacht zu erringen und sein großes Projekt, den Umbau der Türkei in eine – verharmlosend „Präsidialsystem“ genannte – Präsidialdiktatur zu erreichen, hat Erdoğan das Land im unmittelbaren Gefolge seiner Wahlniederlage unter einer erneuerten ideologischen „türkisch-islamischen Synthese“ in einen faschistischen nationalistisch-chauvinistischen Taumel gejagt, eine Kaskade schmutziger Kriege gegen Kurdistan, die kurdische Befreiungsbewegung und türkische Linke entfesselt, der Presse, den religiösen Minderheiten (unter ihnen allen voran den Aleviten) und jeglicher Opposition den Krieg erklärt, ein rigoroses Streikverbot erlassen und den Ausnahmezustand über das Land verhängt.
Dem parlamentarischen Widerstand der HDP gegen seine Präsidial-Diktatur und Stimme für einen progressiven Wandel der Türkei wiederum, schlug er kurz darauf mit der (allem voran) gegen die linke Partei der Völker gerichteten Aufhebung der Abgeordnetenimmunität in einem kalten Staatsstreich die Köpfe ab. Die beiden Ko-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksedağ sowie zahlreiche Abgeordnete wanderten schnurstracks ins Gefängnis. Ein Coup, mit dem er die HDP nicht „nur“ in die Knie zu zwingen trachtete, sondern zugleich das Damoklesschwert über sie verhängte, sie de facto aus dem Parlament zu fegen. Aktuell droht gerade 9 weiteren Abgeordneten der HDP akut die Aufhebung ihrer parlamentarischen Immunität, um sie im für 25. April angesetzten „Kobanê-Prozess“ auf die Anklagebank zu zerren. Insgesamt sind alleine gegenwärtig gegen 21 HDP-Abgeordnete Immunitäts-Aufhebungen im Laufen.
Die Gunst der Stunde des Juli 2016 als „Geschenk Gottes“ nutzend – wie er offen kundgab –, trat der „neue Sultan von Ankara“ in einem „Gegen-Putsch“ daraufhin eine nochmals verschärfte, drakonische Säuberungskampagne und Repressionswelle los und brach eine regelrechte Kriegswelle gegen die kurdischen Landesteile, die Demokratische Konföderation Nord- und Ostsyriens (Rojava), sowie gegen Guerilla-Gebiete im Nordirak vom Zaun und eröffnete in neo-osmanischer Ambition Kriegseinsätze und Aggressionen von Libyen bis Bergkarabach. Mit dieser Weichenstellung holte er zugleich die faschistische Partei der Nationalistischen Bewegung MHP – besser bekannt als Graue Wölfe – unter deren Vorsitzendem Devlet Bahçeli ins Boot und schmiedete die seitherige AKP/MHP-Koalition.
Bereits während des verhängten Ausnahmezustands über das Land 2016 wurden 90 von 103 demokratisch gewählten Bürgermeistern in kurdischen Hochburgen ihres Amtes enthoben und durch eingesetzte Zwangsverwalter ersetzt. Nichts desto trotz gelang es der HDP bei den Kommunalwahlen im März 2019 die überwältigende Anzahl der Städte unter schwierigsten Bedingungen zurückzugewinnen. Allerdings: bereits im Oktober 2018 hatte Erdoğan unverhohlen gedroht, die Bürgermeister absetzen zu lassen. Getreu seinem politischen Credo „Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind“. Dementsprechend setzt Erdoğan im Anschluss auch vor aller Weltöffentlichkeit seinen politischen Putsch fort, enthebt erneut nach Gutdünken HDP-BürgermeisterInnen und stellt die Städte, darunter auch die wichtigsten Städte in den kurdischen Landesteilen der Türkei – wie etwa Amed (Diyarbakir), Merdin (Mardin) und Wan (Van) – , wieder unter Zwangsverwaltung. 72 HDP-BürgermeisterInnen wurden festgenommen, 37 von ihnen, darunter 19 Frauen, inhaftiert. 15 davon befinden sich nach wie vor im Gefängnis, 7 weitere stehen unter Hausarrest.
Seit Sommer 2016 hat das faschistischen AKP/MHP-Regime Oppositionelle sämtlicher Couleur – allen voran jedoch die linke, pro-kurdische und revolutionäre Opposition, sowie die um ihre religiöse Anerkennung und eine gesellschaftliche Emanzipation ringenden AlevitInnen – endgültig für vogelfrei erklärt und rollt eine Massenverhaftungswelle nach der anderen durchs Land. Der ehemalige HDP-Abgeordnete und Ehrenvorsitzende der Alevitischen Föderation Europa, Turgut Öker, wiederum, sieht sich in Istanbul einer Verurteilung nach der anderen wegen angeblicher „Präsidentenbeileidigung“ ausgesetzt. Denn die Verfolgungen betreffen – in westlichen Medien kaum zur Kenntnis genommen – nicht zuletzt auch die AlevitInnen in der Türkei. Das Alevitentum begann sich im 13. Jdt. zu organisieren und zu institutionalisieren – wird aber in der Türkei bis heute nicht als eigenständige Religion anerkannt. Dementsprechend sahen sich die AlevitInnen – seit einer berühmt-berüchtigten Fatwa des 16. Jhdts. „als die minderwertigsten Menschen, die es überhaupt gibt“ bezeichnet – zeit ihrer Geschichte blutigen Massakern und Pogromen ausgesetzt. Eine brachiale Unterdrückung der Millionen großen Religionsgemeinschaft, die unter Erdoğan unvermindert statthat und jüngst mit der Begnadigung des Drahtziehers des Sivas-Massakers auf präsidialem Geheiß in eine offene Verhöhnung der alevitischen Opfer gipfelte.
Gleichwohl gelang es der AKP/MHP-Phalanx nicht, die HDP auszuschalten, die selbst unter Bedingungen des Ausnahmezustands 2018 erneut mit 11,7% der Stimmen ins Parlament einzog.
Nachdem in den vergangenen Jahren dessentwegen bereits rd. 10.000 Mitglieder der linksdemokratischen HDP inhaftiert wurden, ParlamentarierInnen, Abgeordnete und BürgermeisterInnen reihenweise ihrer Ämter enthoben wurden, fordert der Vorsitzende der faschistischen MHP und Koalitionspartner Erdoğans, Devlet Bahçeli, seit Anfang dieses Jahres vom türkischen Kassationshof das direkte Verbot der oppositionellen HDP bzw. droht unverhohlen, andernfalls selbst „die nötigen Schritte“ einzuleiten. Letzte Woche wetterte auch der 1. Berater von Erdoğan – Fahrettin Altun – parallel zur taggleichen Verhaftungswelle von 718 HDP‘lerInnen im Land in dieselbe Richtung. Im unmittelbaren Anschluss hat zudem dann auch noch Meral Aksener, die Vorsitzende der IYI-Partei (eine MHP-Abspaltung) ihre Zustimmung zu einem HDP-Verbotsverfahren angekündigt. Und aktuell hat gerade Hardliner und Innenminister Süleyman Soylu (AKP) eine weitere, breite mediale Hetzkampagne gegen die HDP losgetreten.
Ein Verbot der HDP durch den „Palast“ in Ankara und seine willfährige Justiz ist heute so nah wie noch nie!
Dies, nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund des immer weiteren Abrutschens des Landes in eine wirtschaftliche, soziale und gesundheitspolitische Dauerkrise. Nach anfänglicher Leugnung der Corona-Gefahr, schwenkte das Regime danach auf eine dilettantische, offen viel stärker der Profit-Logik verpflichteten und nationalistisch aufgeladene Corona-Politik („Türken helfen Türken“) um. Parallel befindet sich das Land bereits seit drei Jahren in einer manifesten Wirtschaftskrise, die sich durch die Corona-Pandemie nur nochmals zusätzlich verschärfte. Die Arbeitslosigkeit liegt selbst nach offizieller Statistik bei 13% – nach Angaben der großen Gewerkschaftsverbände (um statistische Tricks bereinigt) jedoch mindestens doppelt so hoch. Die Lira befindet sich seit Jahren im Niedergang und steht auch nach ihrer jüngsten Stabilisierung auf taumelnden Füssen. Und die Inflation bewegt sich seit Jahren im zweistelligen Bereich und liegt aktuell bei 15%. Besonders unter Druck stehen dabei die Güter des täglichen Bedarfs. Millionen Haushalte stehen damit in akuter Bedrängnis. Die Unzufriedenheit in der türkischen Gesellschaft wächst entsprechend quer durch Bevölkerung.
Die faschistischen AKP/MHP-Regierenden mögen mit ihren Macht- und Gewaltmitteln, justizieller Willkür, beständigen Eskalations- und Ausnahmezuständen die Opposition und gesellschaftlichen Widerstände zu kriminalisieren, zu verfolgen und repressiv niederzuschlagen. Aber die zunehmenden Widersprüche gegen ihre Herrschaft vermögen sie damit ebenso wenig aus der Welt zu schaffen, wie über ihre tiefe Hegemoniekrise hinwegzutäuschen. Das zeigt sich nicht nur am ungebrochenen politischen Widerstand der HDP sowie sozialistischen und kommunistischen Kräften oder kraftvollen regionalen Streiks, sondern nicht minder an der erstarkenden Frauenbewegung, den vermehrten öffentlichen Wirken von LGBTQI*-Personen, sowie aktuell insbesondere an den auch nach zwei Monaten hartem Vorgehens und Attacken der Sicherheitsbehörden und Justiz nicht verstummenden Boğaziçi-Protesten, die unter den Machthabern am Bosporus die Angst eines neuen Gezi-Aufstands hervorgerufen haben.
Die aktuellen Entwicklungen in der Türkei und das immer drohendere Verbot der linken Partei der Völker gehen insofern auch alle Demokraten, Antifaschisten, Internationalisten und Revolutionäre in aller Welt an.
Und wenn im türkischen Fernsehen unter dem Titel »Wer bekommt die Stimmen der HDP?« auch bereits diskutiert wird, als sei das Verbot der HDP bereits vollzogen, gilt dennoch vielmehr das kämpferische Wort der Vizefraktionsvorsitzenden der Partei der Völker Meral Danış-Beştaş: „Es wird keine Türkei ohne die HDP geben. Selbst wenn die HDP verboten wird, wird sie ihren Weg weitergehen. Millionen von Menschen, die die HDP unterstützen, werden nicht plötzlich verschwinden, wegfliegen oder zu anderen Parteien wechseln. Diese Realität sollte beachtet werden.“
Bekämpfen wir mit allen Kräften und zusammen das drohende Verbot der HDP bzw. den Versuch sie lahmzulegen!
Hände weg von der HDP!
Solidarität mit der HDP!
Hoch die Internationale Solidarität!
Demokratik Güç Birliği Avusturya / Bündnis der demokratischen Kräfte – Österreich, 27.2. 2021