Während Erdoğan wieder einmal das „Schicksal“ bemühte, ja vor Ort der Erdbebenkatastrophe in der Südosttürkei gar von einem „Plan des Schicksals“ schwadronierte, brachten die linke und kurdische Opposition das Drama dagegen auf den Punkt: „Die Natur brachte die Beben, der Staat die Opfer“ – und knüpfen damit an einen historischen Wendepunkt an. Jenen des Erdbebens von Lissabon 1755, eine der verheerendsten Naturkatastrophen der europäischen Geschichte und tiefgreifende Zäsur in der Weltsicht. Man sagt vielfach, das Erdbeben von Lissabon hat die ‚abendländische Zivilisation‘ – vor den beiden Weltkriegen und dem Holocaust – stärker erschüttert, als jedes andere Ereignis seit der Plünderung Roms. Sein politisches und weltanschauliches Nachbeben jedenfalls bahnten einer Revolution im Denken und auf gesellschaftlichen Ebenen den Weg.
Die historische Erdbebenkatastrophe von Lissabon
Das fürchterliche Erdbeben von Lissabon mit seinen damals 30.000 bis 100.00 Todesopfern (der Stadt, umliegenden Kleinstädten und Dörfern), den verheerenden Schäden und Verwüstungen, sowie dem Verlust an Kunstschätzen und Reichtümern, wurde von der – im 18. Jh. schon von der aufkeimenden Aufklärung bedrängten – religiösen Orthodoxie recht unverhohlen als Gelegenheit für ihre anachronistische Weltsicht genutzt. Eine derart erschütternde Katastrophe „biblischen Ausmaßes“ könne unzweifelhaft nur ein Fingerzeig Gottes sein, ließe sich bloß als Eingreifen der Vorsehung (bzw. der von ihr durchwalteten Natur) deuten und verstehen. Den anfänglich vielfach in blankem Entsetzen und Lähmung erstarten Massen predigte man die apokalyptische Zerstörung nicht zuletzt als Strafe für die „Sünden und Vergehen“ der Lissabonner:innen sowie die Anmaßung der Menschen und Aufklärung gegen die gesellschaftlich Ordnung. Nicht weniger vielsagend ist zweifellos, dass darunter gleichzeitig nur eine einzige Predigt überliefert wurde, die den Finger darin ausnahmsweise auch auf das riesige Kolonialreich der portugiesischen Hauptstadt und „die Millionen armen Indianer, die Eure Vorfahren um des Goldes willen abschlachteten“ legte. Die Anklagen betrafen vielmehr die Lebensweise und keimende Aufklärung im Verhältnis zur Gegenmoderne. Das über die portugiesische Hauptstadt hereingebrochene „Schicksal“ biete als göttliche Heimsuchung aber auch die Gelegenheit zur Gnade: Die Überlebenden des Erdbebens, so die sich schrill überbietenden Priester, erhielten die Chance, vor dem Ausbruch der allgemeinen Apokalypse, ihre Taten zu bereuen. Und sich wieder Gottes Willen zu beugen sowie das auf Autorität beruhende Bauwerk derbestehenden Ordnung zu akzeptieren.
Aufklärung contra anachronistische Gegenmoderne
Die erschütternde Naturkatastrophe bot aber auch Anlass, sich ein Stück mehr aus dem überkommenen, fatalistischen Schicksalsglauben zu befreien. Obwohl die genaueren geologischen Ursachen von Erdbeben erst rund 200 Jahre später erkannt wurden, galten sie den aufgeklärten Köpfen des 18. Jh. schon seinerzeit als natürlichen Ursprungs und nicht als unergründlicher Ratschluss oder Botschaft einer höheren Macht. Das Beben Lissabons durch die biblische Vergleichsbrille der Zerstörung von Sodom und Gomorra wegen deren Sündhaftigkeit zu deuten, galt ihnen bereits als antiquiert. Immerhin, 4 Jahre zuvor erschien bereits der erste Band der „Enzyklopädie“ unter Herausgeberschaft Diderots und D’Alemberts, 7 Jahre zuvor Montesquieus Hauptwerk. Eine bedeutende Rolle in diesem Kontext spielte seinerzeit der im Adel und Klerus umstrittene bis verhasste, in der Tradition der Aufklärung stehende Premierminister Portugals Marquês de Pombal, der natürliche Erklärungen des Erdbebens verfocht. Pombal setzte die sofortige Verpflegung der Überlebenden und Bestattung der Toten (um Seuchen zu verhindern) in Gang, ließ zügig Getreide requirieren um eine Hungernot abzuwenden und stellte das Erscheinen der Zeitungen sicher, um der grassierenden doktrinären Propaganda entgegenzutreten. Diese predigte, anstatt der Schadensbehebungen und tätigen Katastrophenhilfe, sich besser alten und höheren Autoritäten anzuvertrauen, den priesterlichen Entzifferungskünsten dieser übernatürlichen Botschaft Gottes zu glauben und um das Seelenheil zu beten. Ihren pointierten Ausdruck fand dieser gegenmoderne Dünkel wohl in den Predigten des jesuitischen Priesters Gabriel Malagrida: Das Gebot der Stunde sei nicht die Bergung Verschütteter, die Verteilung von Hilfsgütern, die Rettung Kranker und Verletzter, gar der Beginn des Wiederaufbaus, sondern: Einkehr und Buße, Kasteiungen und Fasten sowie alles stehen und fallen lassend, ein einwöchiger Rückzug zum Gebet und zur Meditation in den Häusern der Jesuiten.
Der Anstoß von Lissabon: Das Weltbild der Wissenschaft bricht sich Bahn
Nichts desto trotz bahnte sich gegen diese anachronistische Weltsicht in einem komplizierten, aber steten Weg letztlich das Weltbild der Wissenschaften Bahn. Ja, das Erdbeben von Lissabon hat geradezu den entscheidenden Anstoß zur modernen Erdbebenforschung gegeben. Voltaire griff umgehend zu Papier und Feder, Kant wiederum widmete dem Erdbeben im Folgejahr, 1756, drei Abhandlungen, in denen er als natürliche Erklärung erste Ansätze zu einer Plattentheorie entwickelte. Die Debatten und Dispute unter den Aufklärern sind in die Annalen der Geschichte eingegangen. 1830 bis1833 erschien als (vorläufig) krönender Abschluss dann Charles Lyells dreibändiges geologisches Hauptwerk „Die Prinzipien der Geologie“. Friedrich Engels urteilte zu diesem, ungeachtet seiner ersten Mängel, später: „Lyell brachte Verstand in die Geologie … indem er die Launen des Schöpfers … [durch völlig neue Erkenntnisse und natürliche Erklärungen, Anm.] ersetzte.“
Aberglaube, Gestirne, Moiren, Zorn der Götter, Strafe Gottes
Mit der Erdbebenkatastrophe von Lissabon und der von ihr gleichzeitig ausgelösten geistigen Krise begann so zugleich ein schonungsloses Aufräumen mit Aberglauben, Vorsehungs- und Schicksalsgläubigkeit, bis zu für uns heute überwiegend selbstverständlichen Einsichten: Naturkatastrophen sind weder dem Zorn der Götter (wie in der Antike gedeutet) geschuldet, noch Strafen Gottes. Keine höhere Kraft weist uns – wie man so sagt – ihr Los zu. Das Leben wird von keiner höheren „Schicksalsmacht“ bestimmt, die jedem sein „unentrinnbares Schicksal“ zuweist, dem „niemand entgehen“ könne. Weder spinnen die drei Moiren, die Schicksalsgöttinnen des antiken Griechenlands (Klotho, Lachesis und Atropos), den Faden des menschlichen Lebens und durchtrennen ihn schließlich irgendwo (zum Tod), noch die Parzen genannten Schicksalsgöttinnen der Römer (Nona, Decima und Parca) oder die Nornen der Germanen (Urd, Verdandi und Skuld). Und ebenso wenig hängen angebliche höhere oder natürliche Fügungen an Göttergestalten wie Ananke, Tyche, Fortuna oder anderen der Götterwelt des antiken Pantheons. Genauso wenig steht unser Schicksal in den Sternen geschrieben, wie in den ersten „Hochreligionen“ gedeutet und heute noch als Astrologie sein Unwesen treibend. Dasselbe gilt aber nicht minder auch für den religiösen Schicksalsglauben der monotheistischen Religionen. Sei es als – entzifferbares oder (zumindest dem Menschen) unergründliches – Schicksal, als absolute Vorherbestimmtheit des Gangs der Dinge und der Leiden oder auch als Mischverhältnis von göttlicher Vorherbestimmtheit sowie einer religiösen Verantwortlichkeitslehre. Eine Kontroverse, die gerade im Kontext und Gefolge der Erdbebenkatastrophe von Lissabon an Schärfe gewann bzw. im Rahmen der christlichen Weltanschauungstradition als Theodizee-Problem (also der Frage des Leidens in der Welt angesichts Gottes Allmächtigkeit und Allgütigkeit) in heftigen Disputen verhandelt wurde.
Zornige Kritik ohne im Kielwasser der grassierenden Islamophobie und des antimuslimischen Rassismus zu segeln & nötige Spiegelblicke
Vergleichbare Debatten und Dispute gab es freilich ebenso im Islam. Das sei an dieser Stelle besonders insofern explizit festgehalten, um das Aufräumen sowohl mit den kruden islamisch-fundamentalistischen Interpretationen der bisher in der Türkei als Jahrhunderterdbeben geltenden Erdbebenkatastrophe von 1999 (als Allahs Strafe für eine weltliche Regierung) sowie Erdoğans heutigem Geschwätz, nicht missverstanden in die unsäglichen islamophoben Kielwässer des Gegenwartsdiskurses des westlichen Empires navigieren zu wollen oder unbeabsichtigt religiöse Gefühle zu verletzen. Die diesbezüglichen Suren des Koran sind selbst wörtlich genommen ebenso viel zu widersprüchlich, wie – entgegen einem westeuropäischen Vorurteil – die hermeneutisch-exegetische Auslegung des Prophetenworts im Islam in Wirklichkeit um vieles älter ist als die christliche Hermeneutik der Scholastik. Ganz zu schweigen von Luthers nicht zu rüttelnder und nicht zu deutelnder Unantastbarkeit der „Offenbarung“ im wortwörtlichen Zurück auf die Schrift: „Das Wort sie sollen lassen stahn“ – was durchaus als christliches Pendant zur wortgetreuen Interpretation des Koran (der Sunna und Hadtihen) des Salafismus gelesen werden kann. Und wer sich auch nur einige wenige der zahlreichen christlich-fundamentalistischen Erklärungen zum 11. September 2001, als angeblich göttliche Strafe für die Weltlichkeit der USA, oder auch Reden von US-Präsidenten zu Gemüte führt, sollte überhaupt etwas mehr grundsätzlichere Nachdenklichkeit statt kulturalistische Überheblichkeit und kulturrassistische bzw. islamophobe Selbstüberhöhung wie unangebrachte Selbstgefälligkeitan den Tag legen. Und das gilt gerade für jene rechten ‚ethnopluralistischen‘ Rassisten, die es vielfach gerade mit Oswald Spengler (dem Autor des „Untergangs des Abendlands“) und dessen Stichwortgeberschaft und Wirkmacht halten, dessen gewaltiger Reiz auf Konservative wie Rechtsextreme sowie Weltanschauungskern und Geschichtsmythos geradezu in seinem widerbegrifflichen Begriff einer ‚säkularisierten‘ „Schicksalsidee“ liegt. Analoges gilt freilich auch für den seit Huntingtons „Kampf der Kulturen“ allerorten eingezogenem islamophoben Ethno- und Kulturrassismus, der sich seit 9/11 zum regelrechten Orkan steigerte – wiewohl sich konservative Ideologen wie Huntington im Unterschied zu ihrem ideologisch wahlverwandten Vorgänger Spengler (dem gleichzeitigen Ideologen der „Cäsarenherrschaft“ und des „Rechts des Stärkeren“ im „Daseinskampf“ der menschlichen „Raubtiere“ und der ihren „Raubtiercharakter“ bewahrt habenden „starken Rassen“ und „Herrenvölker“) freilich nicht als Bannerträger des Faschismus begreifen. Aber auch jene, die es im Alltag oft latent überzeugt mit dem im Volksmund zum Sprichwort sublimierten Glaubenssatz halten, dass ohne Gottes Wissen und Willen kein Spätzchen vom Dach falle, wären durchaus einmal angehalten, intensiver über den Gehalt dieses Sätzchens und der dahinter liegenden Denkeinstellung zu reflektieren. Denn so wie Spatzen realiter keinem Schicksalsplan oder göttlichen Ratschluss nach vom Dach fallen, fallen auch Wohnhäuser keinem Plan des Schicksals oder als Strafe Gottes in sich zusammen und begraben Zehn- oder Hundertausende unter sich.
Lissabon: Von den erster Schritt einer akribischen Erdbebenforschung zur Plattentektonik
Vorrangig für den hiesigen Zusammenhang ist jedenfalls: Das politische und geistige Nachbeben der Lissaboner Naturkatastrophe führte seinerzeit zu ersten Schritten einer geradezu akribischen Erdbebenforschung (im Sinne der Seismologie) und eines möglichst erdbebensicheren Wiederaufbaus. Warum genau aber das althergebrachte Sprichwort: „So fest wie der Boden unter den Füßen“ nur relative Gültigkeit beanspruchen kann, brach sich seine Erkenntnis dann freilich erst mit Albert Wegeners Theorie der Kontinentalverschiebung (1925) Bahn, die allerdings erst posthum Anerkennung fand. Zu Wegeners Lebzeiten wurde sie von konservativen Kreisen diverser Couleurs noch auf das Energischste durch die „Isostasie“-These (also dass sich die Kontinente in einem stabilen Zustand befinden) bekämpft, bevor sich mit der Erkenntnis der Plattentektonik eine Revolution in der Geologie vollzog und die moderne Geologie in deren Kollisionen die grundlegende Ursache von Erbeben erkannte.
Weder „Plan des Schicksals“ noch „Götterdämmerung“ – Zeit das „Schicksal“ in die eigenen Hände zu nehmen
Aufgrund dieser Entwicklungen und der leidvollen Erdbebengeschichte am Bosporus wusste heutigentags denn auch jeder und jede, dass die Türkei und die erdbebenbetroffenen Gebiete aufgrund ihrer Lage und den tektonischen Verwerfungen stark erdbebengefährdete Hotspots sind. Nicht zuletzt Erdoğan selbst, der seinen Aufstieg unter anderem auch dem politischen Nachbeben des verheerenden Erdbebens von 1999 verdankt und formaliter ja auf dem Papier auch die mangelnden Bauvorschriften und schleißigen Standards gesetzlich verschärfte. ExpertInnen zweifeln aber durch die Bank, dass sich dadurch tatsächlich substantielles in Richtung erdbebensicheren Bauten geändert habe. Vielmehr regierten willkürlich erteilte oder vielfach auch schlicht fehlende Baugenehmigungen für instabile Häuser und Aufbauten, mangelhafte Baumaterialien, eine grassierende Korruption und stetige Amnestien für die Baulöwen den Bauboom in der Türkei. Seit dem Korruptionsskandal 2013 sind darüber hinaus zudem auch die privaten, profitablen Beziehungen des Erdoğan-Clans und einer Reihe von AKP-Ministern zum Bausektor bekannt. Die rund 37 Milliarden Dollar schwere „Erdbebensteuer“ wiederum ist zweckentfremdet anderweitig versickert. Und das ganze Ausmaß der Zerstörung auch derzeit noch gar nicht absehbar. Währenddessen unterliegt die Katastrophenhilfe der offenen politisch(-rassistisch) motivierten Lenkung nach Vorzeichen des „Palasts“. Entsprechend wurde vielen vor allem von Kurd:innen, Araber:innen sowie auch Armenier:innen bewohnten Regionen teils überhaupt keine oder viel zu späte und spärliche staatliche Krisenhilfe zuteil, wird zivile Katastrophenhilfe systematisch sabotiert und brutal unterbunden, werden Hilfslieferungen nach Gutdünken Ankaras konfisziert und umgeleitet und wird eine bevölkerungspolitische Neuordnung der Südosttürkei vorangetrieben. Und zu den bislang offiziell über 40.000 Toten werden noch über 100.000 weitere unter den Trümmern vermutet. Die genauere, horrende Opferzahl dieses schon jetzt tödlichsten Erdbebens der Geschichte der Türkischen Republik wird sich erst in den nächsten Wochen und Monaten lichten. Die Verantwortlichen der faschistischen AKP/MHP-Koalition sind indes bekannt. Und selbst für Gläubige unterschiedlichster Konfessionen und Glaubensrichtungen muss es sich wie ein kaum mehr zu überbietender Zynismus anhören, wenn Recep Tayyip Erdoğan in Kahramanmaraş die Schuld Gott und dem Schicksal in die Schuhe schiebt, der – wie er sagte – „Autorität über mir“ die „verantwortlich“ für die Katastrophe sei … Es ist denn auch vielmehr Zeit, das „Schicksal“ in die eigenen Hände zu nehmen.