Mit dem ersten landesweiten Eisenbahner*innenstreik seit rund 30 Jahren Ende Juni und dem Hafenarbeiter*innenstreik in Großbritanniens größtem Containerhafen Felixstowe zeichnet sich im Vereinigten Königreich ein „heißer Herbst“ und die größte Streikwelle seit langem ab. Die Inflationsrate auf der Insel ist bereits auf über 10% emporgeklettert, die Bank of England prognostiziert für den Spätherbst „knapp über 13%“, die Citi Bank gar 18%.
Die regelrecht explodierten Energiepreise, die mit 1. Oktober nochmals um schwindelerregende 80% steigen, belaufen sich für die untersten Einkommen und ärmsten Familien dann überhaupt auf unfassbare 47% ihres Gesamteinkommens und fast die Hälfte der britischen Bevölkerung gibt in einer jüngsten Umfrage an, dass sie die horrenden Energiepreise bereits an ihre finanziellen Grenzen gebracht haben oder sie sich diese schlicht nicht mehr leisten können. Gleichzeitig dümpeln die Löhne im Königreich auf Niedrigniveau dahin und liegt die KV-Abdeckung im neoliberalen Musterland Europas bereits bei weniger als 25%. Einer aktuellen Studie der „Resolution Foundation“ zufolge machte ein „Weiter so“ bis Mitte 2023 quasi auf einen Schlag das gesamte Reallohnwachstum der vergangenen 20 Jahre zunichte.
Vor diesem Hintergrund umfasst die begonnene Streikwelleneben den Eisenbahner*innen und Hafenarbeiter*innen, auch die Post- und Callcenter-Beschäftigten, Buslenker*innen, Krankenpfleger*innen, Assistenzärzt*innen, Telekommunikationsbeschäftigte, Fahrer*innen von Lieferdiensten, Reinigungskräfte des öffentlichen Sektors, Amazon-Lagerarbeiter*innen, Müllarbeiter*innen, bis hin zu Unidozent*innen und Rechtsanwält*innen.
Um der bevorstehenden Streikwelle mit allen Mittel zu Leibe zu rücken, wollen die Torys abermals das Streikrecht verschärfen, um die Streikfähigkeit der britischen Gewerkschaftsbewegung gesetzlich noch weiter einzuschränken. Dabei hat Großbritannien selbst nach den Worten des einstigen New-Labour Aushängeschilds Tony Blair ohnedies bereits „die restriktivsten Gewerkschaftsgesetze der westlichen Welt“ – die freilich auch in der aggressiv neoliberalen New-Labour-Ära 1997 bis 2010 nicht aufgehoben wurden. Elizabeth Truss, die wohl nächste Premierministerin Großbritanniens, hat sich in Tradition der Eisernen Lady Margaret Thatcher gleichviel weitere Anti-Gewerkschaftsgesetzte (bis hin zur Streichung der Freistellungen für Gewerkschaftsarbeit) auf die Fahne geheftet und sucht mit Antrittsbeginn als neue Premierministerin von Anfang an die Konfrontation mit den Gewerkschaften. Und Labour-Vorsitzender Keir Starmer, schon bisher kein Unterstützer von Arbeitskämpfen, ist ganz in die Fußstapfen Tony Blairs geschlüpft.
Allerdings, die Beschäftigten und Massen werden so schnell nicht einknicken. Die Streikwelle gegen den Inflations-Tsunami und die Niedriglöhnerei im Vereinigten Königreich sowie den drohenden Absturz Hunderttausender wenn nicht Millionen Werktätiger, Familien, SozialtransferempfängerInnen und Pensionistinnen hält ungebrochen an. Ebenso die zahlreichen lokalen und regionalen Solidaritäts-Kundgebungen, -Aktionen und -Delegationen weiterer Gewerkschaften und Betriebsdelegierter und sozialer Bewegungen. Die „Enough is Enough“-Bewegung („Genug ist genug“) für kräftige Lohnerhöhungen und ein Einfrieren der Strom- und Gaspreise, findet breiten Zuspruch unter den BritInnen.
Während sich das politische Establishment um die Nachfolge Boris Johnsons rankt, rutscht das Land zusehends in die tiefste soziale Krise seit Jahrzehnten. Die University of York geht in einer großangelegten Studie davon aus, dass sage und schreibe zwei Drittel der Bevölkerung (45 Millionen BritInnen) diesen Winter ihre Rechnungen nicht mehr aus ihren Einkommen bezahlen können und sich (so sie sich nicht der „Don’t Pay“-Kampagne anschließen) verschulden müssen. Das Wort der massenhaften Energiearmut ist denn auch in aller Munde. Selbst Tory-nahe Journalisten prognostizierten unlängst, dass die für Herbst von den Gewerkschaften angekündigten „koordinierten Streiks“ und Streikfront – denen sich auch die Lehrer*innen, Beamte und Feuerwehrleute sowie weitere Berufsgruppen anschließen dürften – und sich abzeichnenden sozialen Unruhen die selbstgefällige neue Eiserne Lady bald „in einem ökonomischen Blizzard verschwinden“ lassen werden. „Enough is Enough!“