Die EU knipst in Pakistan und dem Globalen Süden das Licht aus

Nach der dörrenden Hitzewelle im Frühjahr mit bis zu über 50°C, wird Pakistan gegenwärtig von den schlimmsten Überflutungen seit Jahrzehnten geschüttelt. Über ein Drittel des Landes steht unter Wasser. Rund 33 Millionen sind auf der Flucht und haben vielfach ihr gesamtes Hab und Gut wie auch die Ernte verloren. Islamabad steht vor einer multiplen humanitäreren Katastrophe. In pakistanischen Medien – aber auch von UNO-Generalsekretär Guterres oder KlimaforscherInnen – wird die Katastrophe jedoch ebenso als eine mit Ansage behandelt. Nicht nur die Monsune werden als Folge des Klimawandels wie aktuell immer heftiger, auch die Gletscher des Himalayas schmelzen immer schneller ab. Welche Wassermassen sich dabei teils ergießen, vermag vielleicht der Hinweis näherzubringen, dass die Eisschilde am „Dach der Welt“ unter Klimaforschern vielfach als der „dritte Pol“, neben den Polarregionen, gelten. Pakistan gehört denn, neben weiteren Bedingungen, auch zu den zehn am stärksten vom Klimawandel betroffenen Staaten der Welt. Dem nicht genug, kauft ihm der Westen seit den Sanktionspaketen gegen Russland auch noch die Energieversorgung vor der Nase weg. Oder in den Worten Steve Hills, stellvertretender Vorstandsvorsitzender von Shell: „Europa saugt LNG aus der Welt, was bedeutet, dass weniger LNG in die Märkte der Entwicklungsländer fließt.“

„Als lebe die gesamte Europäische Union in kompletter Dunkelheit“

Die Folgen für die ohnehin armen und gebeutelten Länder des Südens und Asiens, deren Energiesystem auf Flüssiggasimporte fußt, sind fatal. Ein Forscher aus Bangladesch drückte es plastisch gerade wie folgt aus: In den Ländern die mit dem neuen Flüssiggas-Staubsauger EU in ihrer Finanzkraft nicht mithalten können, werden „Millionen Menschen in die Dunkelheit gestürzt.“ Und das ist keine Metapher, sondern wörtlich zu nehmen. Ähnlich denn auch schon vor wenigen Jahren der bekannte Unternehmer Chandran Nair: „Heute leben allein in Indien 400 Millionen Menschen ohne Strom. Das ist, als lebe die gesamte Europäische Union in kompletter Dunkelheit.“

 „Europa saugt LNG aus der Welt“: Die Folgen des Hauen und Stechens um Flüssiggas für den Globalen Süden

Um die aufgrund der gegen Moskau verhängten Sanktionen gedrosselten und mit der vom Westen geplanten vollständigen Abkoppelung Moskaus zukünftig ganz entfallenden Gaslieferungen aus Russland auszugleichen, hat die Europäische Union einen abrupten energiepolitischen Kurswechsel weg von russischem Pipeline-Gas auf Flüssiggas vollzogen. Was in westlichen Medien, untermalt mit devoten Bettelreisen des europäischen politischen Personals um die halbe Welt, als „Verringerung“ oder „Befreiung“ aus der „Russland-Abhängigkeit“ gefeiert wird, hat für zahlreiche Länder des Globalen Südens indes desaströse Folgen. Denn die LNG-Tankerflotten werden nun nach Europa umdirigiert und die knappen Kapazitäten zu horrenden Preisen und zu Lasten der hiesigen Bevölkerung, aber viel drastischer noch zu Lasten des Globalen Südens aufgekauft. Den Globalen Süden betreffend, treibt der von Washington und Brüssel entfachte Wirtschaftskrieg als „Kollateralschaden“ ganze Länder an den Rand des Zusammenbruchs, destabilisiert weltweit ganze Regionen und stürzt Millionen und Abermillionen Menschen weiter ins Elend.

Die Ökonomin Helen Thompson, schrieb dazu jüngst in der Financial Times: „Weltweit versuchen Politik immer verzweifelter, die explosiven Folgen der Energiekrise einzudämmen. In den Teilen Asiens, des Nahen Osten und Afrikas, die bereits in zahlreichen wirtschaftlichen und politischen Schwierigkeiten stecken, erweist sich die Krise als katastrophal. … Diejenigen, die Flüssigerdgas importieren, müssen nun mit europäischen Nachzüglern auf dem LNG-Markt konkurrieren, die eine Alternative zu russischem Pipeline-Gas suchen. … In armen Ländern fließt ein großer Teil der staatlichen Mittel in die Subventionierung des Energieverbrauchs. Zu den vorherrschenden Preisen können einige das nicht (mehr).“

„Indem sich die europäischen Länder dem LNG zuwandten“, so der Ökonom Günther Grunert noch ausführlicher, „lösten sie einen Bieterkampf um das begrenzte weltweite LNG-Angebot aus (es gibt weltweit kaum freie LNG-Lieferkapazitäten), der es zahlreichen Schwellenländern unmöglich gemacht hat, LNG zu einem bezahlbaren Preis zu beziehen. Denn mit der wachsenden europäischen LNG-Nachfrage stiegen die weltweiten LNG-Preise auf Rekordniveau. Die Erdgaspreise in Europa haben sich nach Angaben der Financial Times im Vergleich zum Vorjahr bereits verfünffacht.“

Aufgrund der Finanzmacht der EU „haben Handelsgesellschaften [natürlich] einen großen Anreiz, LNG-Ladungen dorthin zu schicken, um höhere Gewinnspannen zu erzielen“, so Grunert weiter. Ja: „Die Preisunterschiede sind so groß, dass – der Financial Times zufolge – in einigen Fällen Händler mit langfristigen Verträgen in Asien ihre bestehenden Verträge auflösen und die Vertragsstrafen zahlen können, aber dennoch einen [Zusatz-]Gewinn erzielen, wenn sie in Europa weiterverkaufen.“

„Jedes Molekül, das in unserer Region erhältlich war, ist von Europa gekauft worden“

Staaten wie Japan und Südkorea können bei dieser Preis-Rally und „regelbasiertem“ Hauen und Stechen zwar noch mithalten, ärmere und wie Pakistan verheerte und bereits bis an den Rand der Staatspleite verschuldete Länder aber nicht mehr. Entsprechend geht die Finanzagentur sowie Marktanalyst Bloomberg mittlerweile auch von mehrjährigen schweren Gasversorgungsengpässen in Ländern wie Pakistan wie auch Bangladesch oder Thailand aus. Pakistan etwa konnte im Frühsommer keine einzige LNG-Ausschreibung abschließen, da die EU dem Süden jetzt auch noch vielfach das Flüssiggas, um das zahlreiche Energiesysteme des Südens, insbesondere Asiens aufgebaut sind, vor der Nase weg kauft. „Jedes Molekül, das in unserer Region erhältlich war“, so Pakistans Ölminister Musadik Malik im Wall Street Journal in drastisch, aber dem Ernst der Lage entsprechenden Worten, „ist von Europa gekauft worden.“ Der Preis an den Spotmärkten ist für Islamabad schlicht nicht bezahlbar (bzw. fehlte das ohnehin knappe Geld dann in nochmals dramatischerem Ausmaß für anderes), langfristige Lieferverträge wurden seitens der Händler vielfach gecancelt und die LNG-Tankerflotten in Richtung der neuen Hauptdestination Europa umgeleitet und neue Langfristverträge schossen nicht nur ihrerseits preislich bereits um 75% in die Höhe, sondern werden Bloomberg zufolge aufgrund des begrenzten globalen Flüssiggas-Angebots und Gas-Hungers des Westen, wahrscheinlich auch nicht vor 2026 in hinreichendem Maß abschließbar sein. Auch das IEEFA (Institute for Energy Economics and Financial Analysis) rechnet nicht damit, dass sich die globalen Flüssiggas-Lieferkapazitäten mittels neu zu erschließender Kapazitäten vor 2026 nennenswert entspannen werden. Es gibt auf absehbare Zukunft schlicht „nicht genug LNG für alle“, so auch Rystad Energy wie auch Helen Thompson.

Die multiplizierte Misere Pakistans

Zu alledem hängt das hoch verschuldete Pakistan seinerseits noch an der Strippe des Internationalen Währungsfonds (IWF), der im Rahmen seinerKreditauflagen bereits eine Senkung der Energiesubventionen für Elektrizität und Treibstoff einfordert hat und auch einen eventuellen Notkredit angesichts der Naturkatastrophe wohl an eine Reihe weiterer, harter, neoliberale Auflagen binden dürfte. Damit steht Pakistan –das schon bishervon Stromausfällen, Stromabschaltungen, Rationierungen und verordneten Schließungen von Fabriken gelähmt war –nicht nur vor den Verwüstungen der über das Land gebrochenen Naturkatastrophe, sondern auch vor einer durch die zusätzliche Energie- und Finanzkrise und nochmals zusätzlich befeuerten sozialen Krise.Und steckt in einem Teufelskreis: denn durch die Energiekrise verlor das Land bereits Exportaufträge in Milliardenhöhe und zehrt die Lage massiv an seinen Dollar-Reserven für Gas. All das wird wie ein regelrechter Tsunami zudem auch auf den Wiederaufbau durchschlagen und über diesen hinwegfegen. Und wie es – neben der gerade vernichteten Ernte – um die traditionell im Oktober beginnende und bis in den Dezember dauernde zweite Jahresaussaat und damit Frühjahrsernte 2023 bestellt ist, weiß heute noch niemand zu sagen. Die Agrarwissenschaftlerin Rike Becker warnt vor akut drohenden Hungersnöten. Zudem, so die Analysen und Simulationen, werden die Folgen der Klimawandels in Pakistan bereits auf mittlere Frist zu „deutlichen Ertragsrückgängen“ führen.

Die ökologische Schuld des westlichen Metropolenkapitalismus resp. das Konzept der Klimaschulden

Denkt man die höchst ungleiche Verantwortung für den Klimawandel sowie die regional unterschiedlichen sozial-ökologische Betroffenheiten und Konsequenzen an Verlusten, Verheerungen und Schäden mit hinzu – Pakistan sorgt weltweit für weniger als 1% der Treibhausgasemissionen, gilt aber als das achtstärkste vom Klimaumbruch betroffene Land –, wird auch die zu verantwortende ökologische Schuld des westlichen Metropolenkapitalismus schlagartig deutlich. Und das Konzept der Klimaschulden beinhaltet neben den Verpflichtungen zur rigorosen Emissionsreduktion der hochindustrialisierten Länder und eines Ausgleichs der Anpassungsmaßnahmen in den armen Ländern, auch eine Deckung der von den Klimakillern verursachten und hervorgerufenen „Verluste und Schäden“. Nicht ganz so weit gehend, aber immerhin den Hauptverursacher mit Ross und Reiter nennend, fordert angesichts der Katastrophe in Pakistan auch der Klimaforscher Muhammad Saleem Pomee vom „Westen“ eine Erfüllung seiner „globalen Verpflichtungen“, „um Regionen wie Pakistan vor den negativen Folgen des Klimawandels zu schützen.“ Mit Sonntagsreden, punktuellen Katastrophenhilfen und freiwilligen Selbstverpflichtungen kann es beiweilen nicht sein Bewenden haben. Zumal das IPCC auch heute noch einen permanenten Zuwachs an Treibhausgasemissionen ausweist und ein jüngster Report aus den USA für 2021 überhaupt einen neuen globalen Emissionsrekord ermittelte.

Westliche Werte vs. Menschenrechte und Bedingungen des 21. Jahrhunderts

Man muss Chandran Nairs politische Ansichten nicht teilen um seiner Problembestandsaufnahme und Problemakzentuierung doch gewichtiges abzugewinnen. „Der Westen argumentiert gerne mit Menschenrechten, um seine Positionen durchzusetzen“ – eine Auffassung, die auch der langjährige außenpolitische Falke und Machtpolitiker Henry Kissinger als geschickteste Form der westlichen Interessensdurchsetzung offen aussprach. „Ich glaube jedoch, dass wir im 21. Jahrhundert neue Prioritäten [in der Gewichtung der Menschenrechte] setzen müssen: … das Recht auf sanitäre Anlagen, Elektrizität, sauberes Wasser und Bildung. Heute leben allein in Indien 400 Millionen Menschen ohne Strom. Das ist, als lebe die gesamte Europäische Union in kompletter Dunkelheit. … Im Jahr 2060 wird es etwa fünf Milliarden Asiaten geben. Wenn alle diese Menschen denselben Lebensstandard haben wollen wie die etwa 600 Millionen First-Class-Konsumenten in Amerika und Europa heute, wird unser Planet zusammenbrechen … Schon heute haben mehr Inder ein Handy als eine Toilette … Deshalb brauchen wir starke staatliche Institutionen, die in die Kapitalflüsse eingreifen können, um für die Menschen die grundlegenden Bedingungen eines würdevollen Lebens zu schaffen.“

Das von der UNO nach jahrzehntelangem Ringen erklärte Gleichgewichtigkeit und die Unteilbarkeit der Individual- und Freiheitsrechte (Rechte der 1. „Dimension“) und der sozialen Menschenrechte (Rechte der 2. „Dimension“) sowie die Rechte der Völker auf Entwicklung und Selbstbestimmung (Rechte der 3. „Dimension“), ist in der herrschenden, profitdominierten Welt(un)ordnung regelrecht verglüht. „Es ist“ jedoch, so Nair weiter, „eine rein westliche Wertvorstellung, die Freiheit des Individuums über die Grundversorgung des Kollektivs zu stellen. Sie ist unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts nicht mehr zu halten“ – und widerspricht eigentlich auch der von der UNO 1993 auf der II. UN-Menschenrechtskonferenz in Wien festgehaltenen Gleichrangigkeit der Menschenrechte der 1., 2. und 3. Dimension.  

Zusammen mit der spekulationsgetriebenen Explosion der Nahrungsmittelpreise und Wetten auf Getreide zeigt sich darin nicht nur der blanke Zynismus des gebetsmühlenartig als „wertebasierte Außenpolitik“ feilgebotenen Kampfs um die westliche Vorherrschaft, sondern auch die ganze Unerträglichkeit der notorischen Selbstgerechtigkeit Washingtons, Brüssels, Berlins, Paris‘, Londons und Wiens.

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