Der Countdown läuft (ab) – Weltklima am Kippen

Der Mittwoch veröffentlichte „Global Tipping Points Report“ (Kipppunkte-Bericht) zeigt, dass fünf neuralgische Kippelemente des Klimasystems schon aktuell an der Kippe stehen. Drei weitere würden bei einer Erderwärmung von mehr als 1,5° ebenfalls schon in den 2030ern wanken. Währenddessen dümpelt die UN-Weltklimakonferenz in Dubai fern allem unabdingbar Notwendigen vor sich hin. „Kipppunkte im Erdsystem stellen eine Bedrohung dar, wie sie die Menschheit noch nie erlebt hat“, so Tim Lenton, der wissenschaftliche Verantwortliche des über 200-köpfigen ForscherInnen- und AutorInnen-Teams aus 26 Ländern:

Gleichwohl: Sämtlichen Projektionen zufolge überschreiten wir aufgrund der bislang unverminderten Emissionsentwicklung wohl schon in ein paar Jahren, sehr wahrscheinlich noch vor 2030, die 1,5° C. So auch die eben auf der COP28 vorgestellte Studie des „Global Carbon Project“, die das Pariser Ziel mittlerweile für nicht mehr erreichbar hält. Gleichzeitig sehen, wie zu COP28-Beginn nochmals eingehender ausgeführt (https://www.komintern.at/good-cop-bad-cop/), aktuellere Studien der internationalen Klimaforschungsgemeinschaft das Klima sogar schon früher kippen als bislang angenommen. Ja, selbst das – realiter schon gerissene – Pariser 1,5-Grad-Ziel würde, wie sich immer deutlicher herauskristallisiert, nicht ausreichen, um den Kollaps zu verhindern, werden neueren Forschungsergebnissen zufolge doch bereits bei einer Erwärmung von 1,5° mehrere Schwellenwerte überschritten – womit sich die Klimakrise in einer planetaren Kettenreaktion verselbständigen und vielfach unumkehrbar außer Kontrolle geraten würde.

Klima an Kipppunkten

Die neueren Forschungsergebnisse besagen nicht weniger, als dass einerseits das alte, die Klimadebatte lange begleitende 2°-Ziel schlechthin obsolet ist und auch der 1,5-Grad-Pfad (höchstwahrscheinlich) nicht ausreichen würde, sondern wir schon mit der zwischenzeitlich erreichten globalen Erhitzung von 1,2° in der akuten Gefahr stehen eine Reihe brisanter und gefährlichen ökologischen Schwellen überschreiten: das unwiederbringliche Abschmelzen der grönländischen und westantarktischen Eisschilde, das Tauen der Permafrost-Böden, das Absterben der tropischen Korallenriffe unddie subpolare Wirbelzirkulation im Nordatlantik.

Damit verschärft die Klimaforschung noch einmal den letzten Bericht des Weltklimarats IPCC. Zu alledem ist unter ExpertInnen auch die Liste der gefährdeten Kipppunkte weiter angewachsen. Dass es auch gegenläufige Effekte und sogenannte „positive Kipppunkte“ gibt, wie von den Leitmedien in Bagatellisierungsabsicht nun allerorten herausgestellt, ist ein alter Hut. Und für Dialektiker ohnehin selbstredend. Nur, resultiert aus diesem Umstand kein Ergebnis wie beim Hornberger Schießen. Denn diese partiellen gegenläufigen Effekte sind ein abgeleitet untergeordnetes Moment des Klimaumbruchs. Entsprechend schrillen unter einschlägigen WissenschaftlerInnen die Alarmglocken zwischenzeitlich denn auch bereits bei 1,5°. Und während interessierte Kreise und ihre Eliten in Dubai gerade ihren schmählichen Offenbarungseid leisten, wird von einer Zahl von KlimaforscherInnen in neuer Weise Tacheles geredet: „Die Vorstellung, wenn wir 1,5 Grad nicht schaffen, dann werden es eben zwei Grad, ist ein gefährlicher Trugschluss“, so etwa der renommierte Klimaforscher Johan Rockström, Ko-Vorsitzender der „Earth Commission“, nachdrücklich. Denn bei zwei Grad ist das Klima bereits aus dem Lot.

Kipppunkte & Dialektik der Natur I

Denn mit dem Überschreiten solcher Kippunkte werden zugleich Kaskaden sich selbstverstärkender eigendynamischer Selbstzerstörungsprozesse des Klimas und der Natur in Gang gesetzt. Dass der Klimawandel anthropogen verursacht ist, bedeutet ja mitnichten, dass diese Prozesse nicht auf (von menschlichem Willen und Handeln unabhängigen) natürlichen (materiellen) Gesetzmäßigkeiten beruhten bzw. nicht in weitere selbstzerstörerische Eigendynamiken kulminieren könnten. Im Gegenteil. Und auch die proto-philosophische Einsicht, dass wir in strenger Redeweise natürlich nicht „das Klima“ oder „die Natur“ zerstören oder via Initialeingriffe überhaupt deren Zerstörung als solche bewirken könnten, sondern ein bestimmtes Klima – nämlich die uns seit Zivilisationsbeginn bekannte und uns geschichtlich tragende klimatische Epoche des Holozän zum Kippen bringen, um in ein neues unwirtliches Klimazeitalter einzutreten –, bzw. bestimmte Naturgestalten, eine bestimmte Naturqualität und ein bestimmtes Naturverhältnis zerstören, tröstet da nicht. Denn freilich ist auch das „neue Klima“ „ein Klima“ und bleiben die neuen Gestalten der Natur und Naturqualitäten „Natur“ – und fußen all unsere Eingriffe in die Natur und in Gang gesetzten Prozesse auf den in jener objektiv angelegten Möglichkeiten. Ebenso wie etwa auch tierische „naturwüchsige“ Schädigungen wie Zerstörungen der Natur und „Naturkatastrophen“ oder gar geochronologisch Umbrüche – mit erdgeschichtlichen Ausrottungen und Massensterben – Selbstwidersprüche „der Natur“ markieren, die Natur mithin stets auch aus sich selbst Widersprüche hervorbringt.

Nur, schafft das unserem Eintritt in die Klimakatastrophe keine Abhilfe – wiewohl es uns umgekehrt mit Marx und Engels zur Einsicht verhilft, die Natur in unabdingbarem Verständnis des Gesamtzusammenhangs und in vernünftiger gesellschaftlicher Planung unseres Naturverhältnisse wieder ins Lot zu bringen; bzw. akut um jedes Zehntelgrad zu kämpfen, den Stopp und die Umkehr noch reversibler Prozesse sofort in Angriff zu nehmen und bereits irreversible Entwicklungen noch weitest möglich einzudämmen.

Selbstverstärkende Effekte und Verselbständigung – Dialektik der Natur II

Kippelemente umfassen Eiskörper, Luft- und Meeresströmungssysteme sowie Ökosysteme von überregionaler Bedeutung. Als überregionale Größen haben Kippelemente auch entscheidende Auswirkungen auf die ökologische und klimatische Beschaffenheit der Erde. Gleichzeitig seht ihr Zustand in engem Verhältnis mit den klimatischen Bedingungen. Sind sie durch die Erderhitzung nahe an einen Schwellenwert (Kipppunkt) gebracht, können sie bereits durch kleine Störungen in einen qualitativ neuen Zustand versetzt werden, in dem sie dann verharren – z.B. die Verdrängung der Nordischen Nadelwälder durch Busch- und Graslandschaften, die Zerstörung von Korallenriffen oder die Austrocknung des Nordamerikanischen Südwestens. Bereits einzelne überschrittene Kipppunkte haben weitreichende Umweltauswirkungen und gefährden die Lebensgrundlage (mindestens) weiter Teile der Menschheit. Zugleich, für Dialektiker und in materialistisch-dialektischer Sicht auf das Klimasystem ebenso wenig überraschend wie obig explizierter Umschlag von Quantität in Qualität, stehen die Kippelemente in Wechselwirkung miteinander, verstärken sich Effekte gegenseitig, beschleunigen einander, bilden neue Wechselwirkungen aus, kulminieren zuweilen selbstverstärkend in neue qualitative Veränderungen bzw. Umschläge, lösen Dominoeffekte aus und könn(t)en selbst emergente Eigenschaften des neuen Klimasystems generieren; kurz: lassen sich auch in dieser Hinsicht mitnichten in Form einer erratischen Aneinanderreihung oder als  beschaulich lineare Beziehungen begreifen. Durch Wechselwirkungen zwischen Kipppunkten können denn auch sogenannte Kippkaskaden ausgelöst werden, Rückkopplungsprozesse, die zu einem selbstreferentiellen und sich selbstdynamisierenden Kippen weiterer Erdsysteme führen. Oder in den Worten von Sina Loriani, eine der Hauptautoren des aktuellen Kipppunkte-Berichts: das Überschreiten von Kippsystemen kann „grundlegende und mitunter abrupte Veränderungen auslösen“.

Denn Kipppunkte markieren in der Tradition Hegel-Marx gesprochen, als eigentümliche Schwellwerte „Maßverhältnisse“ oder qualitative Umschlagspunkte. Demgemäß formulieren auch die beiden Forscher von Kipppunkten im Klimasystem, Conor Purcell und Michael Keary, durchaus treffend: „Kipppunkte sind bestimmte Schwellenwerte im Klimasystem der Erde. Ihr Überschreiten führt zu abrupten und in der Regel irreversiblen Veränderungen in diesem System. … Die Folgen … gehen sogar noch weiter als die bereits im Zusammenhang mit dem Klimawandel vorhergesagten Szenarien.“ Tauen etwa, wie im nun prognostizierten Szenario, die Permafrostböden auf, brechen hinkünftig nicht „nur“ ganze Berggipfel – wie diesen Sommer erstmals im Silvretta-Gebirge in Tirol – ab, sondern befeuert das freigesetzte Methan (wie auch Kohlendioxid) den Treibhauseffekt zusätzlich, und zwar sprunghaft, bis hin zu weiteren klimaumwälzenden Rückkoppelungen. In, wenn auch eingeschränkter, nämliche Kerbe schlägt auch Sina Loriani. Das Kippen der fünf namhaft gemachten Natursysteme, könnte „das Schicksal wesentlicher Teile unseres Erdsystems für die nächsten Hunderte oder Tausende von Jahren unumkehrbar bestimmen“. Ja, es würde uns in eine neue Heißzeit katapultieren und die Grundlagen menschlicher Zivilisation, wie wir sie aus dem bisherigen Klimazeitalter kennen, vernichten.

Wechselwirkungen und Kippkaskaden

Dazu kommt, wie auch der Weltklimarat (IPCC) definiert: Bei einem Kipppunkt handelt es sich zudem um „Schwellenwerte, nach deren Überschreitung bestimmte Folgen nicht länger vermieden werden können, selbst wenn die Temperaturen später wieder gesenkt werden“. Und zahlreiche Momente des Klimasystems sind bereits im Stadium irreversibler und irreparabler Zerstörung bzw. irreversibler Selbstzerstörungsprozesse. Vor diesen Hintergründen hatdenn etwa auch eine schon jüngst erschiene Studie das Risiko von Klima-Domino-Effekten untersucht und die Wechselwirkung zwischen dem Grönland-Eispanzer, dem Westantarktischen Eisschild, der Atlantischen Thermohalinen Zirkulation und dem Amazonas Regenwald beleuchtet. Die beiden Eisschilde sind in diesem Zusammenhang Ausgangspunkt für Kippkaskaden und befinden sich aktuell schon in Gefahr ihre Kipppunkte überschritten zu haben. Durch steigenden Süßwassereinfluss infolge des abschmelzenden Grönlandeisschilds und des Eises der Ränder der Antarktis verringert sich beispielsweise die Umwälzungsströmung des Atlantiks. Dadurch vermindern sich der Kältetransport in südliche sowie der Wärmetransport in die nördliche Halbkugel. Die verringerte oder gar zusammenbrechende Umwälzströmung kühlt die Nordhalbkugel, hat somit einen stabilisierenden Effekt auf das Grönlandeisschild, allerdings durch zusätzliche Erhitzung der Südhalbkugel einen destabilisierenden Effekt auf das Westantarktische Eisschild. Das Grönlandeisschild und das Westantarktische Eisschild destabilisieren sich durch den Anstieg des Meeresspiegels wechselseitig.

Bereits inmitten des Anfangs des Klimaumbruchs und politisch sehenden Auges in den Abgrund

Und das Reißen bzw. Erreichen diverser Schwellwerte rückt immer näher. Entsprechend sorgte etwa, um ein zuletzt stärker beachtetes Beispiel heranzuziehen, gerade diesen Sommer die Prognose des dänischen Forscherpaars Peter und Susanne Ditlevsen eines Zusammenbruchs der thermohalinen Atlantischen Umwälzung in den bereits nächsten Jahrzehnten vorübergehend für Schlagzeilen. (Thermo-halin, weil sowohl durch Termperatur- wie Salzgehaltsunterschiede angetrieben.) Zu Recht. Kommt dieses „globale Förderband“ bei unvermindert anhaltender Treibhausgas-Emission zum Erliegen, wären die Folgen für unsere Gefilde alarmierend. Dass es sich dabei um kein randständiges Schreckenszenario im Sommerloch handelt, bestätigte begleitend auch der renommierte Klimaforscher Stefan Rahmstorf selbstkritisch, der selbst seit Jahrzehnten zur thermohalinen Atlantischen Umwälzung forscht. Auch er musste seine Meinung und die bisherige Einschätzung des IPCC über die Stabilität des Strömungssystems in letzter Zeit revidieren. „Jahrzehnte wurde das Risiko von der Wissenschaft – auch von mir – in die Kategorie ‚geringe Eintrittswahrscheinlichkeit, aber verheerende Folgen‘ einsortiert. … Zusammengenommen zeigen die neueren Studien, dass der Kipppunkt wahrscheinlich deutlich näher ist als bislang gedacht. … Wir Klimaforscher dürfen zu derartigen Großrisiken nicht schweigen oder sie herunterspielen, und die Politik sollte sie nicht ignorieren.“

Ein ‚frommer Wunsch‘ wie schon ein flüchtiger Blick nach Dubai oder in den Wiener Operettenstadl, offiziell als Bundesregierung firmierend, vor Augen führt. Die herrschenden ökonomischen und politischen Eliten markieren ihrerseits vielmehr den gesellschaftlichen Kipppunkt des kippenden Weltklimas.

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