Im kollektiven Gedächtnis der westeuropäischen Linken nie so richtig Wurzeln geschlagen, entfachte die Türkei 1937/38 ein schreckliches, zehntausende Opfer fordernde Massaker an den AlevitInnen und KurdInnen Dersims. Unter der noch immer geltenden Staatsdoktrin „ein Staat, eine Nation, eine Sprache, eine Religion“ begann dieses am 4. Mai 1937.
Gedenkveranstaltung, Donnerstag, 4. Mai, 18.00 Uhr, Verein der Frei-Aleviten, Simmeringer Hauptstr. 181, Wien
Gedenkveranstaltung, Samstag, 6. Mai, 16.00 Uhr, im Treibhaus (Kulturzentrum) Innsbruck
Gegen die mit der Gründung Türkischen Republik 1923 und ihrem Integrationsnationalismus einsetzende Zwangsassimilation der Bevölkerung durch das kemalistische Regime in Ankara regte sich bald Widerstand. In Atatürks kemalistischen Staatsdogma: Die Türkei oder türkische Nation bestehe aus einem einzigen homogenen Volk und ausschließlich aus diesem, war für nationale Minoritäten und Andersgläubige kein Platz. Außer: Zwangsassimilierung, Unterdrückung, Ausschluss, Massendeportationen und/oder Vernichtung. Der so definierte „Türke“ „ist der einzige Herr dieses Landes“; „Wer nicht rein türkischer Herkunft ist, hat hier nur ein einziges Recht, das Recht, Sklave zu sein“, verkündete der türkische Justizminister Mahmut Esat Bozkurt 1930 entsprechend.
Mit Massendeportation und Zwangsassimilation hoffte die türkische Regierung vor allem weitere Unabhängigkeitsbestrebungen der kurdischen Bevölkerung zu unterdrücken. Das berüchtigte Gesetz Nr. 2510 zur Verbreitung der türkischen Kultur vom 14. Juli 1934 unterteilte die Türkei in drei Regionen: „1. Diejenigen Regionen, in denen die türkische Kultur in der Bevölkerung sehr stark verankert ist; 2. diejenigen Regionen, in denen die Bevölkerung angesiedelt werden soll, die zu türkisieren ist (das sind die Gebiete im Westen, besondere am Mittelmeer, der Ägäis, dem Marmara-Meer und Trakya); 3. diejenigen Regionen, die aus gesundheitlichen, ökonomischen, kulturellen, militärischen und sicherheitstechnischen Gründen entvölkert werden müssen und in denen sich niemand mehr ansiedeln darf (das sind Agri, Sason, Tunceli, Van, Kars, der südliche Teil von Diyarbakir, Bitlis, Bingöl und Mus).“ Zur Umsetzung dieses Plans überfiel die Jandarma (Militärpolizei) kurdische Dörfer, folterte die Bauern und zerstörte ihre Ernte – wie der Historiker Nick Brauns, einer der intimsten Kenner der türkischen Geschichte im deutschsprachigen Raum, ausführt, dessen Arbeiten wir hier auch weitgehend folgen.
80.000 Partisanen
Ein besonderes „Krebsgeschwür“ stellte in den Augen von Staatspräsident Mustafa Kemal Atatürk dabei insbesondere die Bergregion Dersim dar. Die unzugänglichen Berghöhen Dersims an der nordwestlichen Außengrenze des kurdischen Siedlungsgebiets, die sich schon im Osmanischen Reich ihre Autonomie bewahren konnten, galten Mitte der 1930er Jahre als „letzte freie Burg“ der Kurden wie auch des Alevitentums. Denn die kleinen Bauerndörfer der Berghöhen waren der Kontrolle des türkischen Staates weitgehend entzogen. Von anderen Kurden unterschieden sich die Bewohner Dersims durch den dort gesprochenen Zaza-Dialekt und ihren humanistisch geprägten alevitischen Glauben.
1936 allerdings wurde der Belagerungszustand über Dersim verhängt. Die türkische Regierung und Militärgouverneur General Alp Dogan forderten daraufhin die bedingungslose Kapitulation der Siedlungsgebiete vor der kemalistischen Turkifizierung und die Bevölkerung zur Ablieferung ihrer Gewehre auf. Da die Dersimer von den Massendeportationen in anderen kurdischen Regionen wussten, verweigerten sie die Waffenabgabe.
So fanden denn auch sowohl der aktive Widerstand und Volkswiderstand unter Führung des angesehenen alevitischen Geistlichen Seyîd Riza gegen die kemalisitische Turkifizierungspolitik wie zugleich auch die staatlichen Massaker an den AlevitInnen und KurdInnen in Dersim 1937/38 ihren vorläufigen Höhepunkt. Mit 4. Mai 1937 begannen das Wüten und die Massaker der türkischen Regierung gegen die Bergregion mit ihren althergebrachten Autonomierechten. Ein Angriff auf Polizisten im Juni 1937 avancierte dann zum ultimativen Startschuss des Volkswiderstands. Innerhalb weniger Tage schlossen sich bis zu 80.000 Bauern zu Partisaneneinheiten zusammen, die der anrückenden Armee schwere Verluste zufügten.
Der angesehene alevitische Geistliche Seyîd Riza bot General Alp Dogan an, die Kurden würden ihre Waffen niederlegen, „wenn ihre nationalen Rechte anerkannt werden“. Doch die türkische Regierung war nicht bereit, die geforderte Autonomie zu gewähren, sondern verlangte die bedingungslose Kapitulation. Denn Atatürk hatte nicht weniger als die „Vernichtung dieses Krebsgeschwürs“ angeordnet, wie er sich ausdrückte. Selbst noch der Name „Dersim“ wurde seitens der Regierung gestrichen und durch das türkischsprachige „Tunceli“ ersetzt – was mit „Eiserner Faust“ übersetzt werden kann, jener Faust des Staates, die ab Sommer 1937 gegen Dersim zu wüten begann.
Das Massaker 1937/38 und das spätere Wiederaufleben der Widerstandstradition unter Kaypakkaya und Öcalan
Die brutale, unbarmherzige Militäroffensive des Atatürk/Inönü-Regimes gegen die bäuerlichen Rebellen und Bevölkerung durch Luftbombardements und zu Boden, flankiert durch aus Deutschland geliefertem Giftgas, Exekutionen und Verbrennungen der BewohnerInnen bei lebendigem Leibe (der dazu vielfach in Scheunen zusammengetrieben DersimerInnen), sowie begleitet von stetigen Vergewaltigungen der Frauen und Mädchen, tobte bis Herbst 1938. Tausende Frauen und Mädchen stürzten sich angesichts der befürchteten Vergewaltigungen durch Soldaten von den Felsen oder warfen sich in den Fluss Munzur. Tausende weitere Frauen und Kinder wiederum, die sich in Berghöhlen an den Hängen des Berges Tujik gerettet hatten, wurden mit Giftgas ermordet oder lebendig eingemauert. Dass bei diesem Blutbad auch extra von Nazi-Deutschland geordertes Giftgas massenhaft zum Einsatz kam, sorgte – nachdem das geheime Dekret zur Bestellung von 20 Tonnen chemischer Kampfstoffe mit der Unterschrift Atatürks medial einer breiteren Öffentlichkeit dokumentiert wurde – erst spät für ein gewisses Rauschen in der Zeitungs- und Fernsehlandschaft unserer Tage.
Rund 70.000 AlevitInnen resp. KurdInnen Dersims fielen dem Massaker zum Opfer. Über 100.000 DersimerInnen wurden in andere Landesteile deportiert. Seyîd Riza selbst wurde bereits im November 1937 verhaftet und in Elazig hingerichtet. Ein Dutzend weitere Anführer des Widerstands, darunter die Parlamentsabgeordneten Said Abd el-Kader und Hassan Khairi, wurden am Galgen gehenkt. Ministerpräsident Ismet Inönü erklärte am 18. November 1937 das „Problem Dersim“ für gelöst. „Wir haben alle militärischen Aktivitäten der Bergtürken in Dersim zerschlagen.“ Tatsächlich war der Widerstand in den bis zu 3.000 Meter hohen Bergen von Dersim keineswegs am Ende. Nach der Schneeschmelze im Frühjahr 1938 mussten weitere 100.000 Soldaten gegen die Guerilla aufgeboten werden. Die grünen Täler Dersims füllten sich mit Giftgasschwaden, Wälder wurden angezündet, um die dahin Geflohenen herauszutreiben und zu erschießen.
Dem Staat gelang es, einige Aghas (Großgrundbesitzer) und Stammesführer zur Kollaboration zu überreden, die Verstecke der Aufständischen verrieten. Auch die Feindschaft sunnitischer Stämme mit den Aleviten machte sich die Armee zunutze, um den Widerstand zu spalten. Als sie nicht mehr gebraucht wurden, ging die Armee auch gegen die Kollaborateure vor. Rund 400 Familien des Stammes Kiran hatten den türkischen Verlautbarungen vertraut, dass ihnen nichts geschehen würde, wenn sie sich von den Kämpfen fernhielten. Doch als die Armee in deren Dörfer einrückte, wurden die Männer erschossen, Frauen und Kinder abermals in Scheunen lebendig verbrannt.
Die so traditionsreiche Region wurde damit vorübergehend in einer Friedhofsruhe erstickt – bis dort in den 1970er Jahren die maoistischen Partisanen der „Arbeiter- und Bauernbefreiungsarmee der Türkei“ von Ibrahim Kaypakkaya (dessen Ermordung sich am 18. Mai zum 50. Mal jährt) und in den 1980er Jahren die Arbeiterpartei Kurdistans PKK den bewaffneten Kampf aufnahmen und sich Dersim erneut zu einem Kulminationspunkt und einer neuen Hochburg des Kampfes und Ringens um Anerkennung und Selbstbestimmung entwickelte.
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