Das Pariser 1,5°-Ziel gilt dem IPCC als nicht mehr erreichbar: Zum Anbruch der „Ära des Kochens“

Purzelnde, ja die seit Messbeginn regelrecht pulverisierende Hitzerekorde, verheerende Feuersbrünste, Gewaltstürme, „kochende“ Weltmeere, …: „Der Klimawandel ist da. Er ist erschreckend“, so UN-Generalsekretär Antonio Guterres jüngst in New York. Und wir stehen erst an dessen Anfang. „Die Welt sitzt auf einem heißen Stuhl“, so Guterres weiter und erklärte markant „die Ära der globalen Erwärmung“ für beendet. Nun sei vielmehr bereits „die Ära des globalen Kochens (oder: Siedens – boiling)“ angebrochen“. Für Jim Skea, dem neuen Chef des UNO-Klimarats (IPCC), war parallel klar, dass die Pariser Klimaziele verfehlt werden. Den Kapitalismus betreffend lässt sich zum Ergebnis eines halben Jahrhunderts realer kapitalistischer Klimapolitik dazu nur mehr sinngemäß mit Shakespeares „Hamlet“ ausrufen: „Ist es auch Wahnsinn, so hat es doch Methode“. Für die ArbeiterInnenbewegung und Linke beinhaltet dies indes zugleich, ihre gesellschaftlichen Konzepte unter der Perspektive eines „Sozialismus auf verbrannter Erde“ auszubuchstabieren.

Vor etwas mehr als einem halben Jahrhundert, 1972 in Stockholm, fand die erste UN-Umweltkonferenz statt – was mit André Leisewitz gesprochen zeigt, dass man sich der globalen Umweltprobleme, denen es gegenzusteuern gilt ,selbst „in den politischen Institutionen der Zentren des entwickelten Kapitalismus klar (wurde)“. Spätestens seit dem historischen „Erdgipfel“ von Rio de Janeiro vor drei Jahrzehnten (1992) bzw. dem vorbereitenden, ersten ausführlichen UNO Klima-Report 1990 wiederum, gilt die durch den menschlichen Einfluss verursachte globale Klimaerwärmung, nach vielen Zwischenstufen, weltweit als nicht mehr bestritten. Aber auch ein weiteres Vierteljahrhundert nach dem Kyoto-Protokoll (1997) und 8 Jahre nach der Pariser Klimakonferenz steigen die Emissionen unvermindert an und überschreiten wir in Riesenschritten das 1,5°-Ziel, das nach neueren Studien womöglich noch gar nicht ausreichen würde um das Kippen des Klimasystems zu verhindern. Und immer mehr ExpertInnen halten die 1,5°-Ziel, wie es im Pariser Übereinkommen verstanden wurde, ähnlich Jim Skeas bereits als nicht mehr erreichbar.

Historisch Interessierte könnte im Revuepassieren des seitherigen halben Jahrhunderts des kapitalistischen Raubbaus an der Natur und des akkumulations- und profitgetrieben verursachten Klimaumbruchs fast ein Déjà-vu ereilen. Besaß ein zur Stockholmer Umweltkonferenz erschienenes Buch den seinerzeitigen Titel „Only one Earth“, begegnet einem seit der, den Klimawandel und Umweltprobleme mit neuer Eindringlichkeit aufwerfenden, aktuellen Klima- und Umweltbewegung die im Grund selbe Losung in gewandelter Gestalt als „There is no planet B!“.

Anderen wieder, kommt vielleicht die historische Anhörung des bekannten NASA-Klimatologen James Hansen vor dem US-Kongress 1988 in den Sinn, in deren Zuge er vor 35 Jahren warnend ausrief: „Es ist an der Zeit, nicht mehr so viel zu schwafeln!“

Gleichwohl: Sämtlichen Projektionen zufolge überschreiten wir aufgrund der bislang unverminderten Emissionsentwicklung wohl schon in wenigen Jahren, sehr wahrscheinlich noch vor 2030, die 1,5° C und befinden uns dem letzten IPCC-Bericht von Anfang April (der sog. Synthese des Sachstandsberichts) auf dem Weg einer 3,2°-Erwärmung. Gleichzeitig sehen Studien wie jene der internationalen Forschergruppe um David Armstrong McKay und Timothy Lenton (die sich seit 2008 mit den Risiken von irreversiblen, möglicherweise abrupten Veränderungen – den Klima-Kippelementen – beschäftigt) in einer Neubewertung der Daten der letzten Dekade mittels eines aktualisierten Modells, das Klima schon früher kippen als bislang angenommen.

Ihrer Studie zufolge würde zudem selbst das Pariser 1,5-Grad-Ziel (dessen Verfehlen sich zudem mehr und mehr herauskristallisiert) womöglich nicht ausreichen, um den Kollaps zu verhindern, werden schon bei einer Erwärmung um 1,5° mit einiger Wahrscheinlichkeit mehrere Schwellenwerte überschritten – womit sich die Klimakrise in einer planetaren Kettenreaktion verselbständigen und vielfach unumkehrbar außer Kontrolle geraten würde.

Die neueren Forschungsergebnisse besagen nicht weniger, als dass einerseits das alte, die Klimadebatte lange begleitende 2°-Ziel schlechthin obsolet ist und wir andererseits eventuell schon 2030 vier der gefährlichen ökologischen Schwellen überschreiten könnten: das unwiederbringliche Abschmelzen der grönländischen und westantarktischen Eisschilde, das Tauen der Permafrost-Böden und das Absterben der tropischen Korallenriffe. Damit verschärfte besagter Kreis führender Klimaforscher und PIK-Experten (Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung) aus mehreren Ländern schon letztes Jahr, nur wenige Monate nach dessen Erscheinen noch einmal den letzten Bericht des Weltklimarats IPCC. Zu alledem ist unter ExpertInnen auch die Liste der gefährdeten Kipppunkte weiter angewachsen.

„Schon ab 1,5 Grad nehmen wir gewaltige Risiken in Kauf“, unterstreicht Mitautor Johan Rockström – der schwedische wissenschaftliche Ko-Direktor des PIK und Ko-Vorsitzender der „Earth Commission“ – nachdrücklich. Auch für ihn wurde die Gefährdungslage der Klima-Kippelement und deren Empfindlichkeit auf die Erderhitzung bislang noch unterschätzt. Den neuesten Forschungsergebnissen zufolge schrillen die Alarmglocken vielmehr bereits bei 1,5°. Und: „Die Vorstellung, wenn wir 1,5 Grad nicht schaffen, dann werden es eben zwei Grad, ist ein gefährlicher Trugschluss.“ Denn bei zwei Grad ist das Klima bereits aus dem Lot.

Dazu gesellt sich, dass – wie Reimund Schwarze, Leiter der Forschungsgruppe Klimawandel und Extremereignisse am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Leipzig anlässlich des diesjährigen Julis als heißesten Monat seit Jahrtausenden gegenüber der jw gerade bemerkte – die „Hitzeextreme weltweit schneller zunehmen, als es die Wissenschaft erwartet hat“. In dieselbe Kerbe schlägt auch Jim Skea im Namen des UN-Klimarats: „Die Tatsache, dass solche Dinge geschehen, ist in gewisser Weise nicht überraschend. Die Geschwindigkeit, mit der es uns getroffen hat“, aber sehr wohl. Das wiederum bedeutet neben seinen dramatischen Auswirkungen in unseren Breiten gleichzeitig, dass weite Teile des Globus, wie etwa große Teile Afrikas und des Mittleren Ostens, die Kipppunkte „menschlicher Bewohnbarkeit“ überschreiten und absehbar schlicht von der menschlichen Unbewohnbarkeit stehen.

Allerdings, während der die erste Umweltkonferenz der Vereinten Nationen in Stockholm vorbereitende UN-Generalsekretär U Thant noch die „historische Verantwortung“ des globalen Nordens – konkret: der früh- oder altindustrialisierten entwickelten kapitalistischen Länder und Zentren – einmahnte, wurde diese gleichviel spätestens mit dem westlichen Gezerre um das Kyoto-Protokoll und der späteren UN-Klimakonferenz in Poznan (2008) im Schatten der Finanz- und Wirtschaftskrise in einem großen Offenbarungseid des Kapitalismus entsorgt. Eine solche laufe dem Profitstreben des kapitalistischen Wirtschaftsmodells zuwider bzw. sei wegen je anderer Problemlagen und der entfesselten Weltmarktkonkurrenz nicht zu priorisieren. Dabei: bilanziert man den Aufbrauch des länderbezogenen CO2-Rest-Budget seit

1990 (Erscheinungsjahr des 1. UN-IPCC-Berichts), wird zudem noch deutlich, dass zahlreiche kapitalistische Industriestaaten dieses bereits seit Jahren komplett aufgebraucht haben und schon langjährig (z.T. schon seit Jahrzehnten) überziehen.

Gelingt es nicht mehr die globale Erwärmung in der gebotenen Dringlichkeit zu stoppen (was zwischenzeitlich bereits passé scheint) bzw. allerallermindestens noch radikal einzuhegen „ist die Erde geradewegs auf Kurs, mehrere gefährliche Schwellenwerte zu überschreiten, die für die Menschen auf der ganzen Welt katastrophale Folgen haben würden“, so nochmals Johan Rockström.

Das Ergebnis eines halben Jahrhunderts realer kapitalistischer Klimapolitik und des aktuell priorisierten Kampfs um globale Vorherrschaft anstatt kooperativen Umsteuerns lässt so das Klima wohl endgültig kippen. Dieses mitten im Gang befindliche Kippen und der Eintritt in die „Ära des globalen Kochens“ wirft für die Linke, revolutionäre Arbeiterbewegung, Gewerkschaften und Befreiungsbewegungen zudem unweigerliche Fragen hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Konzepte und Sozialismusbilder auf – denn vor uns steht damit pointiert gesprochen die Herausforderung des „Sozialismus auf verbrannter Erde“.



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