Ankara im antikurdischen Kriegsrausch & gesellschaftlichem Tabularasa – der Westen sekundiert

Seit seiner Wahlniederlage 2015 hat Erdogan die Türkei in einen militanten nationalistisch-chauvinistischen Taumel gejagt, die faschistische MHP ins Boot geholt und eine Kaskade mittlerweile bereits 6 Jahre andauernder, schmutziger Kriege gegen Kurdistan, den kurdischen Freiheitskampf und die türkische Linke entfesselt. Parallel wurde der Presse, den religiösen Minderheiten (unter ihnen allen voran den Aleviten und Jesiden), der Frauen- und LGBTQI*-Bewegung, sowie den kämpferischen Gewerkschaften und jeglicher Opposition politisch und justiziell der Krieg erklärt. Seit Beginn des Jahres eskaliert Ankara seinen Krieg gegen den kurdischen Freiheitskampf und die linke, pro-kurdisch Opposition um eine weitere Umdrehung. Für diesen Montag, 14.6., sind denn auch europaweite Solidaritätskundgebungen- und Demonstrationen ausgerufen. Die heute zur Abreise nach Erbil aufbrechen wollende Friedensdelegation von Civaka Azad wurde von den deutschen Behörden am Flughaften Düsseldorf gestoppt und die Ausreise untersagt.

KUNDGEBUNG zum Human Shield Action in Südkurdistan gegen den türkischen Besatzungskrieg: , Montag, 14.06, 17 Uhr, Museumsquartier, Wien

Erneuter Drohnenangriff auf das Flüchtlings-Camp Mexmûr

Vorletzten Samstag erfolgte abermals ein türkischen Drohnenangriff auf das Flüchtlingslager Mexmûr. In Mexmûr leben heute rund 13.000 Menschen, die in den 1990er Jahren aufgrund der Repression und des Spezialkriegs des türkischen Staates gezwungen waren, ihre Dörfer in der Botan-Region in Nordkurdistan – in denen die kurdische Freiheitsbewegung damals große Verankerung und starke Machtpositionen besaß – zu verlassen.  Die Türkei reagierte auf den gestiegenen Einfluss der PKK im Frühjahr 1991 mit dem Erlass eines weiteren sog. „Anti-Terror-Gesetzes“, das nicht alleine die PKK, sondern auch alle, die sie unterstützten, zu „Terroristen“ und Angriffszielen des Staates erklärte. In der Folge bombardierte die türkische Armee immer öfter Städte und Dörfer – insbes. auch der Botan-Region – und weitete der türkische Staat die „extralegalen“ Hinrichtungen aus (also gezielte Morde „unbekannter Täter“ im Auftrag des Staates).Die Todesschwadronen und Konterguerilla im Auftrag Ankaras ermordeten daraufhin 1991 hunderte kurdische PolitikerInnen, Ärzte, Anwälte, GewerkschafterInnen und LehrerInnen. Insgesamt wurden in den 1990er Jahren so Tausende und Abertausende KurdInnen, AktivistInnen des kurdischen Freiheitskampfes und Linke extralegal hingerichtet. Die Region stand unter dem totalen Krieg der Türkei mit systematischen Dorfzerstörungen, breiten Bombardierungen, Einsätzen von Spezialeinheiten und dem Wüten der Konterguerillaorganisationen bis hin zu verhängten Lebensmittelembargos. Zahllosen BewohnerInnen blieb nur die Flucht.Ein Großteil von ihnen suchte daraufhin Schutz in den türkischen Metropolen oder in Europa. Ein kleiner Teil flüchtete allerdings nach Südkurdistan. Nach einer mehrjährigen Odyssee und Aufenthalten in verschiedenen Camps, die immer wieder angegriffen wurden, haben sie sich 1998 am Rand der Wüste niedergelassen. Heute ist Mexmûr – das auf halber Strecke zwischen den Städten Mossul und Kirkuk liegt – eine Kleinstadt, die trotz Armut, stetiger Bedrohung und Angriffen ein Ort des Friedens und der kollektiven Selbstbestimmung ist.

Die türkische Regierung bezeichnet das offiziell unter dem Schutz der Vereinten Nationen stehende Flüchtlingslager Mexmûr (arabisch: Machmur) im Nordirak, an dessen Eingang denn auch die Fahne des UN-Flüchtlingshilfswerkes ­UNHCR weht,seit langem als „Militärcamp“ sowie Rückzugsraum der PKK und fordert seine Schließung. Immer wieder kommt es zu  tödlichen Angriffen und Bombardierungen Mexmûrs durch die türkische Luftwaffe. Und bereits seit Jahren kämpft Mexmûr mit von der Türkei über das – von Erdoğan als „Brutstätte“ der PKK bezeichnete – Flüchtlingscamp verhängten bzw. erzwungenem rigorosen Embargos. Die letzten Tage drohte er offen: Sollte die UNO das Camp nicht „säubern“, werde es die Türkei selbst tun und machte am Samstag ernst und ließ Mexmûr mit einer Drohne angreifen. Wo aber bleiben der weltweite Aufschrei, die Empörung und die Forderung Ankara zur Raison zu bringen?

Überhaupt: Mit welchem Recht überfliegen türkische Drohnen und Kampfjets ein Flüchtlingslager, das unter dem Schutz der UNO und des Irak steht?, fragen nicht nur der Volksrat des selbstverwalteten Flüchtlingskamps und kurdische Kräfte angesichts des völkerrechtswidrigen und menschenverachtenden Angriff zu Recht. Worauf basiert eigentlich die Öffnung des Luftraums für Angriffe auf ZivilistInnen? Denn, ohne Einwilligung und grünes Licht für die türkische Luftwaffe und Armee sind diese dreckigen Manöver nicht möglich – die letzten Sommer etwa auch ganze landwirtschaftliche Anbauflächen Mexmûrs inmitten der ansonsten vorrangig steinigen und wüstenartigen Landschaft zerstört haben. ‚Die Absicht hinter den Angriffen auf Flüchtlinge innerhalb des Camps wiederum ist eindeutig. Damit soll gezeigt werden, dass alle Kurdinnen und Kurden, die mit ihrer Sprache, ihrer Kultur und ihren emanzipatorischen Ideen leben, überall angegriffen werden, auch wenn es sich um ZivilistInnen handelt‘ – sind sich die kurdischen Freiheitskräfte einig.

Der Vernichtungsfeldzug „Krallenblitz“ gegen die Medya-Verteidigungsgebiete

Dieser Drohnenangriff reiht sich dabei nahtlos in den gegenwärtigen Drohnenkrieg gegen den kurdischen Freiheitskampf ein. Nach den Kriegsgängen und Invasionen in Rojava zielt das Kriegsgeschehen Ankaras heute vorrangig auf die Medya-Verteidigungsgebiete bzw. Kandil-Berge in Südkurdistan/Nordirak, die! – im Unterschied zum Flüchtlings-Camp Mexmur – bekanntlich als „Herz“ und Rückzugsraum der kurdischen Guerilla gelten. Versuche der türkischen Armee, das Gebiet in der kurdischen Autonomiezone einzunehmen, musste diese immer wieder unter hohem Blutzoll und großen Verlusten abbrechen. Trotz alledem hält Ankara seit eh und je unerbittlich an seiner antikurdischen Staatsdoktrin fest, die Erdoğan schon 2008 lancierte und seither in zahllosen Abwandlungen variierte und wiederholte: „Die Operationen werden weitergehen, bis auch der letzte Terrorist [Anm. sprich: Guerillero des kurdischen Freiheitskampfes] die Waffen gestreckt hat“. Die aktuell unter dem Namen „Operation Krallenblitz“ und mit grünem Licht des Westens und der NATO, sowie Freigabe des Luftraums durch die USA geführte Militäroffensive Ankaras ist jedoch weniger als Blitz-Operation denn als langfristiger Vernichtungsfeldzug und unter augenscheinlichem Einsatz von Giftgas und geächteter chemischer Waffen angelegt. Während Ankara letzteres nach Kräften zu vertuschen sucht, werden die neuen Drohnen hingegen, insbesondere die auch mit westlichem Know-how entwickelte über 400 kg und euphemistisch „Fahnenstange“ benannte Bayraktar-TB2-Drohne, auf türkischen Paraden wie Helden gefeiert. Dabei wird die türkische Kriegsführung immer schmutziger und der Kampf immer asymmetrischer. Rein militärisch, das beweisen die Geschichte wie aktuell auch die gestarteten Gegenoffensiven der PKK und des mit ihr verbündeten kommunistischen Guerillabündnisses HBDH, lässt sich eine Guerilla nicht besiegen. Darum führt die Türkei ihre nunmehrige Offensive gegen die Medya-Verteidigungsgebiete auch immer stärker als Drohnenkrieg. Bis hin zum – selbst von der US-Botschafterin bei den UN, Linda Thomas-Greenfield verurteilten  – verbrecherischen Einsatz gegen Mexmur. Allerdings steht auch der Luftraum über dem Camp unter US-Kontrolle.

Da die massiven Luftangriffe, die Spezialoperationen, der stete Drohnenkrieg und der Einmarsch von Bodentruppen des gegenwärtigen türkischen Vernichtungsfeldzugs ohne Einverständnis der USA und NATO schlicht nicht möglich sind, erklärte die KCK (Dachverband der Union der Gemeinschaften Kurdistans) daher auch: „Der laufende Angriff auf Südkurdistan ist ein NATO-Angriff, der durch die Türkei ausgeführt wird“. Und diesen Umstand gilt es auch hinsichtlich des Angriffs auf Mexmûr und der Drohung das Camp zu „säubern“, wie sich Erdoğan ausdrückte, zu bedenken.

Nochmals Mexmûr – das unliebsame Modell demokratischer Selbstverwaltung

Die aktuellen Angriffe auf die südkurdischen Regionen Metina, Zap und Avaşîn richten sich zwar vorrangig gegen die Guerilla der Freiheitsbewegung Kurdistans –  in deren Windschatten aber auch die Attacken in Nordsyrien und Rojava weitergehen.  Doch auch über Mexmûr und Şengal lagern dunkle Wolken und werden beständig als weitere Fokus-Ziele zukünftiger türkischer Angriffe genannt.

Denn zwar ist Mexmur– entgegen den dümmlichen Behauptungen Ankaras – mitnichten die „PKK-Zentrale“, wie es die türkische Regierung auch schon nannte. Aber Mexmûr weist eine Art Vorreiterrolle auf, in der Abdullah Öcalans Überlegungen zu direkter, rätebasierter Demokratie und Frauenbefreiung schon seit Jahrzehnten erprobt werden. So sind etwa alle Leitungsfunktionen bereits lange vor der Rojava-Revolution paritätisch besetzt, oder gibt es einen Ko-Bürgermeister und eine Ko-Bürgermeisterin. Diese Inspiration des Lebens durch die Ideen Öcalans an der Südgrenze der Türkei und das Modell der demokratischen Selbstverwaltung in Mexmûr ist dem faschistischen AKP/MHP-Regime in Ankara ein dermaßen starker Dorn im Auge, dass die Regierung am Bosporus auch davor nicht zurückschreckt, das Flüchtlingslager militärisch ins Visier zu nehmen und mittels wirtschaftlichen und Lebensmittelembargo zu erdrosseln zu versuchen. Und der Westen schweigt, begnügt sich mit Sonntagsreden und Redeschablonen oder wiegelt ab.

Die schmähliche Rolle der KDP

Aber auch die vom Barzani-Clan dominierte konservative KDP in Erbil spielt erneut eine unrühmliche Rolle und macht sich abermals zum Gehilfen der Türkei. Schon in den 1990er Jahre kollaborierte die KDP militärisch mit der Türkei. Wirtschaftlich stramm mit Ankara verbunden, unterhält der herrschende Barzani-Clan seit Langem auch politische enge Beziehungen mit den Machthabern am Bosporus.2007 erklärte die KDP im Gefolge des Staatsbesuchs von Recep Tayyip Erdoğan beim damaligen US-Präsidenten George W. Bush, in dessen Ergebnis die Führer der beiden größten NATO-Armeen die PKK zum „gemeinsamen Feind“ der Türkei und den USA erklärten, in devoter Kollaboration überhaupt öffentlich-offiziell, dass auch die KDP „Maßnahmen gegen die PKK ergreifen“ werde. Dem entsprechend lässt sich KDP heute denn auch zunehmend intimer in den aktuellen Vernichtungsfeldzug Ankaras einspannen, nachdem sie in den letzten Jahren bereits einem massiven gegen die Kandil-Berge und Bewegungsfreiheit der Guerilla gerichteten Ausbau militärischer Brückenköpfe der Türkei in der Autonomieregion ihr Plazet gab. Dabei schreckt sie, wie Ereignisse der letzten Wochen und entsprechende Verlegungen von Peschmerga-Einheiten zeigen, selbst vor einem verderblichen innerkurdischen „Bruderkrieg“ („Brakuji“) zwischen ihren Peschmergas mit der Guerilla der PKK, den Volksverteidigungskräften HPG und der Frauenguerilla YJA-Star, nicht zurück – sondern zündelt unentwegt daran und befeuert einen solchen vielmehr, und bezeichnet auch ihrerseits die in der Bevölkerung hoch angesehenen HPG- und YJA-Star-KämpferInnen im Gleichklang der Sprachbausteine aus Ankaras als „terroristisch“, die mit den Medya-Verteidigungsgebieten zudem einen Teil der Autonomieregion Südkurdistans „besetzt“ hielten.

Der begleitende innenpolitische Frontalangriff auf die HDP

Innenpolitisch richtet sich der Hauptstoß begleitend gegen die linke, pro-kurdische HDP. Nachdem in den vergangenen Jahren bereits über 16.500 Mitglieder und AktivistInnen der linksdemokratischen Partei der Völker inhaftiert wurden, Abgeordnete und BürgermeisterInnen reihenweise ihrer Ämter enthoben wurden bzw. ihr Mandat entzogen wurde, fordert der Vorsitzende der faschistischen MHP und Koalitionspartner Erdoğans, Devlet Bahçeli, seit Anfang dieses Jahres vom Obersten Gerichtshof der Türkei das direkte Verbot der oppositionellen HDP. Die Mission der von Alparslan Türkeş1969 gegründeten MHP – die das Land einst mit ihren paramilitärischen Todesschwadronen überzog – besteht seit ihrer Gründung im rabiaten Kampf gegen die türkische und kurdische Linke.

Wenig später wetterte dann auch der 1. Berater von Erdoğan – Fahrettin Altun – in dieselbe Richtung, flankiert von einer kurz drauf durch Innenminister Süleyman Soylu (AKP) losgetretenen, breiten medialen Hetzkampagne gegen die Partei der Völker. Davor hatte im unmittelbaren Anschluss an Fahrettin Altun auch noch Meral Aksener, die Vorsitzende der IYI-Partei (eine MHP-Abspaltung), ihre Zustimmung zu einem HDP-Verbotsverfahren angekündigt. Die rechte Kleinpartei und ihre Vorsitzende und vormalige Innenministern im Kabinett Erbakan 1996/97, sind vor dem Hintergrund der allwöchigen Enthüllungen des flüchtigen Mafiapaten und faschistischen Schwerverbrechers Sedat Peker über die Strukturverbindungen der politischen Eliten, des tiefen Staates und den türkischen Mafia-Kartellen zwischenzeitlich allerdings auf Tauchstation gegangen und zittern sich offensichtlich von Youtube-Video zu Youtube-Video über extralegale Morde und Spezialkriegsführung gegen den kurdischen Freiheitskampf und die linke Opposition, Korruption, akkordierten Drogenhandel. Allem voran Bahçeli macht derweilen jedoch Ernst.

Mit dem von der Erdoğan und Bahçeli hörigen Oberstaatsanwaltschaft der Türkei eingereichten Verbotsantrag gegen die HDP beim Kassationsgerichtshof, droht folglich schlicht der finale institutionelle Frontalangriff gegen die linke Partei der Völker – um sich damit der stärksten linken und parlamentarischen Opposition zu entledigen und die pro-kurdische Linke für die Präsidentenwahlen 2023 auszuschalten.

Der ursprüngliche Antrag des Oberstaatsanwalts Bekir Sahin,der – nach einem attestierten Formfehler unmittelbar vor dem Besuch der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyens Anfang April – zur Überarbeitung und Neueinbringung abgewiesen wurde, ist seit wenigen Tagen in einem zweiten Anlauf erneut eingebracht. Wie bereits der erste Antrag, enthält er neben dem Verbot der HDP auch die Beantragung des Verbots der politischen Betätigung hunderter HDP-Mitglieder, darunter allem voran ihrer bekannten politischen RepräsentantInnen und Köpfe, sowie zahlreicher früherer und jetziger Vorstände und Abgeordneten. Unter ihnen natürlich auch gegen den seit 2016 inhaftierten früheren HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş, gegen welchen die Staatsanwaltschaft im parallel geführten sogenannten „Kobanê-“Prozess überhaupt 15.000 Jahre (!) Haft fordert.  Damit soll sichergestellt werden, dass die bekanntesten Gesichter und erfahrensten PolitikerInnen der HDP, nach deren Schließung für eine linksdemokratische Neugründung und Nachfolgepartei ausgeschaltet bleiben. Unter welchem politischen Druck seitens Ankaras die Justiz hinsichtlich des finalen Stoßes gegen die HDP dabei steht, lässt sich neben der – wenn nicht so todernst – ansonsten eher einen Eintrag im Guinnessbuch erheischenden Strafausmaßforderung gegen Demirtaş dem Umstand entnehmen, dass der erste Verbotsantrag in seiner sichtlichen Auftragshektik auch ein Verbot der politischen Betätigung für mehrere bereits verstorbene Politiker und Linke forderte.

Zugleich schwebt mit dem nun augenscheinlich final auf den Weg gebrachten Verbots-Antrag gegen die HDP das Damoklesschwert der allgegenwärtigen Terrorismus-Keule der vermeintlichen „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung“, der Anklage des „Separatismus“ und der „Untergrabung des türkischen Staates“ faktisch über sämtliche gewählte FunktionsträgerInnen, Mitglieder und SympathisantInnen der Partei der Völker, die damit für vogelfrei erklärt werden.

Alevitentum im Visier des „Palasts“

Dieser Frontalangriff auf die HDP ist zugleich ein Angriff auf die Millionen AlevitInnen in der Türkei und andere religiöse Minderheiten am Bosporus. Denn die HDP versteht sich explizit als zugleich linkes Sprachrohr und politische Vertretungder Rechte und Interessen auch der kleineren ethnischen Minderheiten und unterdrückten religiösen Gruppen. Insbesondere auch der AlevitInnen, deren Unterdrückung und Verfolgungen in westlichen Medien kaum zur Kenntnis genommen wird. Das Alevitentum begann sich im 13. Jdt. zu organisieren und zu institutionalisieren – wird aber in der Türkei bis heute nicht als eigenständige Religion anerkannt. Dementsprechend sahen sich die AlevitInnen – seit einer berühmt-berüchtigten Fatwa des 16. Jhdt. „als die minderwertigsten Menschen, die es überhaupt gibt“ bezeichnet – zeit ihrer Geschichte blutigen Massakern und Pogromen ausgesetzt. Eine brachiale Unterdrückung der Millionen großen Religionsgemeinschaft, die unter Erdoğan unvermindert statthat und jüngst mit der Begnadigung des Drahtziehers des Sivas-Massakers – dessen Jahrestag gerade unmittelbar vor uns steht – auf präsidialem Geheiß in eine offene Verhöhnung der alevitischen Opfer gipfelte. Dass die Machthaber in Ankara auch offen den Gedanken eines weiteren Massakers an den widerspenstigen AlevitInnen wälzen, haben die jüngsten Enthüllungen des – sich den Machthabern in Ankara zuletzt überworfen habenden –  turanistischen Faschisten und berüchtigten Mafiapaten Sedat Peker über einen geplanten Anschlag auf ein alevitisches Gemeindehaus (Cemevi) aufgezeigt.

Backlash wider Emanzipation, Frauenbewegung und LGBTIQ+-Personen

Im selben reaktionären Aufwaschen rücken die Vertreter türkisch-islamischen Synthese zugleich den errungenen Frauenrechten, der geschlechtlichen Emanzipation, der erstarkenden Frauenbewegung und LGBTIQ+-Personen zu Leibe. Der Austritt der Türkei auf Präsidialdekret Recep Tayyip Erdoğans aus der Istanbuler Konvention für Frauenrechte ist dahingehend nochmals besonders bezeichnend.

Dass das faschistische AKP/MHP-Regime diese erste internationale völkerrechtsverbindliche Vereinbarung und damit Rechtsrahmen für Frauenrecht gerade inmitten der grassierenden Corona-Pandemie suspendiert hat, bildet dabei eine besondere Provokation. Gerade in der Pandemie stieg die Gewalt an Frauen noch einmal in all ihren Dimensionen an. Entsprechend zählte die Plattform „Wir werden Frauenmorde stoppen“ (KCDP) in der Türkei alleine im vergangenen Jahr 300 Femizide. Hinzu kommen Fälle hunderter Frauen, die auf verdächtige Weise tot aufgefunden worden sind.

Dem türkischen Aus der Konvention ging bezeichnender Weise eine von einer religiös-konservativen Plattform losgetretene, mehrmonatige Debatte voraus, die in der Istanbuler Vereinbarung in ihrem anachronistischen Weltbild eine Gefährdung der „Religion“, „Ehre“ und des „Anstands“ sah. Die LGBTIQ+-Personen wurden derweil vom türkischen Innenminister Süleyman Soylu schlicht als „Perverslinge“ verunglimpft.

Der Austrittstermin aus der Istanbul-Vereinbarung wurde zwischenzeitlich per Amtsblatt mit bevorstehendem 1. Juli (2021) angesetzt. Angesichts der politischen Lage in der heutigen Türkei fast schon müßig zu erwähnen: Begleitend wurde in Ankara dieser Tage ein Prozess gegen Aktivistinnen und Journalistinnen der „Frauenplattform gegen den Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention“ eröffnet.

Nachtrag: Die Begründung der eingangs erwähnten heutigen Ausreiseuntersagung für die Friedensdelegation nach Erbil seitens der deutschen Behörden ist unter anderem übrigens: Eine Delegation gegen den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Ankaras von Staatsbürgern aus Deutschland und Europa würde die Beziehungen zur Türkei belasten. Darin spiegelt sich nicht nur unverhohlen die aktive Unterstützung für den NATO-Partner und Verbündeten, sondern diese Begründung verhängt geradezu einen unfassbaren, generellen Maulkorberlass gegen die Friedensbewegung im staats- und außenpolitischen Interesse.

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