Zum Zeitpunkt des Sturzes des verhassten Daud-Regimes 1978 lag die Analphabetenrate in Afghanistan bei exorbitanten rund 97% der Bevölkerung. Die Quote der in Analphabetismus gehaltenen afghanischen Frauen lag nochmals höher. Von einer Stellung im öffentlichen Leben konnte bis dahin überhaupt keine Rede sein. Mit der nun in Angriff genommenen Umgestaltung des Landes nahmen Frauen erstmals führende Positionen am Hindukusch ein und wurde Anahita Ratebzad Bildungsministerin.
Erst der bewaffnete Aufstand vom 27. April 1978 öffnete den afghanischen Frauen den Weg zur Fortschritt, Demokratie und Emanzipation. Ende 1978 verkündete Nur Mohammad Taraki, Präsident des revolutionären Rats von Afghanistans, danndas berühmteDekret Nr. 7. Dieses zielte auf eine Reform des Ehegesetzes, durch Veränderung der finanziellen Grundlagen, um eine Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen zu fördern.
Unter der Regierungder DVPA (Demokratischen Volkspartei Afghanistans) von 1978 – 1992nahmen Frauen zugleich auch im öffentlichen Leben erstmals führende Position ein und stritten mit Konservativen, Theokraten und theologischen Faschisten über die verschiedensten Fragen – inklusive ihre Emanzipation.
Anahita Ratebzad etwa, war eine führende afghanische Marxistin mit Sitz im Revolutionsrat sowie Mitglied des Politbüros der DVPA, und bekleidete 1978 in der ersten Regierung der DRA (Demokratische Republik Afghanistan) zunächst kurzzeitig die Funktion der Sozialministerin Afghanistans und fungierte von 1980 bis 1981 als Bildungsministerin des Landes. Ratebzad war auch die Autorin desbekannten Kabul Times-Leitartikels (28. Mai 1978), der verkündete: „Frauen haben das Recht auf gleichwertige Ausbildung, sichere Arbeitsplätze, Gesundheitsfürsorge und freie Zeit, damit für die Zukunft des Landes eine gesunde Generation heranwachsen kann. Diese Regierung wird der Bildung und Aufklärung von Frauen große Aufmerksamkeit schenken.“
Allerdings: ebenso wie in der Umsetzung der längst überfälligen Bodenreform die Stammesstrukturen nicht geboten berücksichtigt wurden – nicht selten waren die Großgrundbesitzer auch die Stammes- und Religionsführer und galt Afghanistan den Ethnologen als die größte noch bestehende Stammesgesellschaft der Welt –, gilt selbiges auch für die ansonsten völlig zurecht umgehend in Angriff genommene Alphabetisierungs- und Bildungskampagne. Diese war zwar zunächst derart erfolgreich, dass schon binnen eines halben Jahres etwa 1,5 Millionen Menschen lesen und schreiben lernten, wofür das revolutionäre Afghanistan seinerzeit gar einen Preis von der UNESCO erhielt.Als die Bekämpfung des Analphabetismus jedoch mehr und mehr auch auf die ländlichen Regionen des damals rund 13,5 Millionen EinwohnerInnen umfassenden Landes ausgedehnt wurde, ließ es die Regierung allerdings am nötigen Gespür und einer effektiven Berücksichtigung der sozialen und gesellschaftlichen Verhältnisse vermissen.Das war auch Anahita Ratebzads Ansicht, die dazu festhielt: „Mit Gewalt kann man die Bevölkerung nicht alphabetisieren“. Denn, diese Maßnahmen wurden ohne Rücksicht auf die im Land herrschenden Bedingungen und Berücksichtigung der tief patriarchal, religiös und tribalistisch geprägten Strukturen durchgesetzt.So wurden, um nur ein Beispiel für vermeidbare Widerstände zu nennen, z. B. Mädchen und Frauen „gezwungen“, gemeinsam mit den Männern an den Kursen teilzunehmen. So löblich freilich der dahinterstehende Anspruch war, so viel Friktionen, Reibungen und umgehbare Barrieren zeitigte er indes zugleich. Zumal die Alphabetisierungskampagne in ihrer Durchführung vielen dazu noch als restriktive „Zwangs-Alphabetisierung“ galt.
Wie Marx einst treffend dazu bemerkte: „Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden.“ Wie kompliziert dieses gesamte materielle und ideelle Amalgam, verschärft um die am Hindukusch nochmals besonders prekäre Sicherheitslage der Mädchen und Frauen, die Lage tatsächlich macht, zeigt ein nüchterner Blick auf das Bildungsexportversprechen des Westens – mit dem als beständig vor sich hergetragener wohlfeiler Monstranz er unter anderem am Hindukusch intervenierte. 2016, 15 Jahre nach Einmarsch der US- und NATO-Truppen, lag die Analphabetenrate unter Frauen noch immer bei 80% und konnten nur 22% der afghanischen Mädchen zur Schule gehen. Dass es zeitgleich auch in anderen Weltregionen um die weiblichen Bildungschancen im Argen stand und 2016 rund eine halbe Milliarde Frauen weltweit des Lesens und Schreibens unkundig waren bzw. gehalten wurden, zeigt lediglich das ungebrochene globale Vorherrschen patriarchal-repressiver Strukturen, vermag allerdings das auch unter westlicher Regie verbliebene Bildungsdefizit der afghanischen Gesellschaft nicht zu relativieren. Und es waren beiher zunächst, also – noch vor dem Aufstieg der Taliban – in den 1980er Jahren, genau die damaligen und später erneuten Bündnispartner der westlichen „Koalition der Willigen“, die tausende Schulen zerstörten, Lehrkräfte umbrachten und systematisch das Trinkwasser der Schulen vergifteten.
Freilich, die „einmalig extreme“ Frauenfeindlichkeit der jetzt wieder an die Macht gelangten Taliban und ihre mittelalterliche Interpretation stand und steht gleichviel selbst noch im krassen Widerspruch zur herkömmlichen Kultur und Tradition der afghanischen Völker: Verstümmelungen von Gliedmaßen von Frauen, die Hände oder Finger bemalen, das Berufsverbot für Frauen, Entführungen und Verkauf von Frauen an reiche Araber, Steinigungen von Frauen und vieles mehr waren auch am Hindukusch ein Novum.
Über die Menschen des Landes wird das künftige „Emirat“ nunmehr abermals das islamische Recht der Scharia verhängen. Die Letztentscheidungen des erneuten Ausschlusses von Frauen aus dem öffentlichen Leben, des barbarischen patriarchalen Strafregimes gegen sie, oder auch ob Frauen eine Burka, einen Hijab oder „nur“ eine Abaja zu tragen verpflichtet sein werden, wird nun erneut einem islamischen Gelehrtenrat obliegen. Die Frauen Afghanistans selbst haben über ihre Rechte jedenfalls nichts mehr mitzureden.
Befragt nach den frühen Jahren des national-demokratischen Aufbruchs in Afghanistan führte die 2014 in Dortmund verstorbene Anahita Ratebzad später aus: „Wir sahen uns schweren Herausforderungen gegenüber, sowohl innerhalb des Landes – durch diejenigen, die eine reaktionäre gesellschaftliche Auffassung vertraten – als auch außerhalb des Landes – durch unsere Gegner in den Vereinigten Staaten und Pakistan.“ „Schon Monate nach unserem Amtsantritt 1978 wussten wir, dass sich unsere Feinde zusammengetan hatten, um uns zu untergraben und die Einführung von Demokratie und Sozialismus in Afghanistan zu verhindern“.
Wie immer man die Periode der DVPA in Afghanistan von 1978 – 1992 im Einzelnen und ihrem Gesamtcharakter auch einschätzen mag – mit und in ihr wurde zweifellos ein neues Kapitel in der Geschichte der Frauenbefreiungskämpfe Afghanistans geschrieben. Anahita Ratebzad schlossen sich damals eine ganze Reihe weiterer beachtenswerter weiblicher Führungspersönlichkeiten wie Sultana Umayd, Suraya, Ruhafza Kamyar, Firouza, Dilara Mark, Prof. R. S. Siddiqui, Fawjiyah Shahsawari, Dr. Aziza, Shirin Afzal und Alamat Tolqun an – Namen, die zu Unrecht längst vergessen sind, jedoch wie kaum andere am Hindukusch für den sozialen, gesellschaftlichen und politischen wie ideellen Emanzipationskampf der Frauen Afghanistans stehen.
Mit der neuerlichen Machtübernahme in Kabul durch die radikal-islamistischen Taliban, den schlimmsten Frauenhassern in Afghanistan, steht den Frauen am Hindukusch eine düstere patriarchal-terroristische Perspektive bevor. Umso notwendiger wird es für die demokratischen, säkularen und antiimperialistisch-sozialistischen Kräfte und Frauen des Landes sein, in ihren Kämpfen auch das Erbe von Anahita Ratebzad und ihren Mitstreiterinnen anzutreten und wirksam zu machen und dieses wieder dem Vergessen zu entreißen. Und Letzteres gilt zumal nicht minder für uns selbst, um gegen die vielfach mit ebenso heißen Nadeln gestrickten wie aus xenophoben, chauvinistischen Vorurteilen entstammenden ad hoc ‚Erklärungen‘ der Renaissance der Herrschaft der Gotteskrieger an das ‚andere, feministische und revolutionäre Afghanistan‘ anzuknüpfen und in unsere internationale Solidarität einfließen zu lassen.