Der 19. Juli 2012 gilt als Beginn der „Rojava-Revolution“. Damals begann die Bevölkerung in Westkurdistan (Nord- und Ostsyrien) ihre eigene Selbstverwaltung aufzubauen. Das kollektive Selbstbestimmungs-Projekt Rojava auf Grundlage einer direkten, rätebasierten Demokratie sowie der umfassenden Frauenbefreiung, wurde einer breiten Weltöffentlichkeit dann spätestens zwei Jahre danach im heroischen Kampf um Kobanê bekannt. Nach 11-jährigem Standhalten gegen die steten Militäroffensiven und Kriegsgänge der NATO-Macht Türkei und der mit ihr verbündeten djihadistischen Mörderbanden, liegen heute allerdings erneut dunkle Wolken über Rojava resp. der „Demokratischen Föderation Nord- und Ostsyrien“.
Im Herbst 2014 hielt die Welt den Atem an, blickte gebannt auf die Stadt an der türkischen Grenzregion und fieberte quer durch die politischen Landschaften mit den Kurden und Kurdinnen in ihrem Kampf um Kobanê gegen die Mörderbanden des „IS“ mit. Nach vier Monaten erbittertem Gefecht, gelang es den kurdischen FreiheitskämpferInnen der YPG und YPJ zusammen mit ihren kommunistischen Verbündeten aus der Türkei und internationalistischen Freiwilligen im Herbst 2014 und Jänner 2015 dann bekanntlich Kobanê vollständig zurückzuerobern und zu befreien. Völlig zu Recht stieg die Schlacht um Kobanê zum Symbol der Unbeugsamkeit des kurdischen Selbstbestimmungskampfes wie Widerstands gegen den IS-Terror auf. Zum 11. Jahrestag liegen aufgrund der seit eineinhalb Jahren tobenden abermaligen Militäroffensive Ankaras gegen die der „Demokratischen Föderation Nord- und Ostsyriens“ sowie die kurdischen Medya-Verteidigungsgebiete in den Kandil-Bergen in Südkurdistan/Nordirak und türkischen Bombardierungen Kobanês jedoch erneut dunkle Wolken über Westkurdistan (Nord- und Ostsyrien) und dem Rojava-Projekt, sowie die akute Gefahr einer von Ankara geplanten, großangelegten demographischen Neuordnung der Region.
Während die kurdisch geführten Syrischen Demokratischen Streitkräfte (SDK) die djihadistischen Kalifat-Krieger des Daesch Dorf für Dorf und Stadt für Stadt niederrangen und kurz vor Newroz 2019 die letzten Bastion des IS eingenommen und die schwarzen Fahne der Dunkelheit unter dem geleisteten Blutzoll von über 11.000 gefallener eigener KämpferInnen endgültig hinweggefegt haben, und inmitten der Kampfwogen die Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse und den Aufbau eines revolutionären Neulands in Angriff nahmen, eröffnete die Türkei eine Kaskade schmutziger Kriege und Militärinterventionen gegen Rojava – um sich dem verhassten Projekt an seiner Südgrenze und dessen Ausstrahlung in Gesamtkurdistan sowie den Regionen im Nahen und Mittleren Osten zu entledigen. Sowohl die in der „Demokratischen Föderation Nord- und Ostsyrien“ Gestalt annehmende Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts wie auch das Modell des multiethnisch- und multikonfessionellen Selbstverwaltung Rojava und dessen rigoroser antipatriarchaler Charakter einer Frauenrevolution (mit dem ein neues Kapitel in der Geschichte der Frauenbefreiungskämpfe geschrieben wird), ist den türkischen Eliten ein derartiger Dorn im Auge, dass es mit allen nur erdenklichen Mitteln – oder in Erdoğans eigenen Worten: „wie hoch der Preis auch sein mag“ – besiegt und mit Stumpf und Stiel beseitigt werden soll. In der kurdischen, nordsyrischen Region Afrin unternimmt nach dessen Besatzung das AKP/MHP-Regime seither folglich auch eine großangelegte bevölkerungspolitische Neuordnung.
Mit dieser Weichenstellung holte Erdoğan zugleich die faschistische Partei der Nationalistischen Bewegung MHP – besser bekannt als Graue Wölfe – unter deren Vorsitzendem Devlet Bahçeli ins Boot und schmiedete die seitherige außen- wie innenpolitisch gleichermaßen militant nationalistische und aggressive AKP/MHP-Koalition. Die NATO und die „westliche Wertegemeinschaft“ wiederum, nahmen weder am reaktionären, faschistischen Charakter der AKP/MHP-Regierungskoalition, noch an den mittlerweile bereits 8 Jahre andauernden und im Windschatten des Ukraine-Kriegs nochmals eskalierten schmutzigen Kriegen des Partners am Bosporus gegen Kurdistan Anstoß. Um internationale Kritik, Ächtung, gar Sanktionen, muss sich Ankara aufgrund der doppelten Standards des Westens daher nicht scheren. Vielmehr erfolgen seine Kriege mit grünem Licht, Öffnungen des Luftraums und Waffenlieferungen des transatlantischen Bündnisses.
Entsprechend konnte Erdoğan auch am 23. Mai des Vorjahres in aller Öffentlichkeit ungeschminkt ankündigen, erneut den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen Rojava / Nord- und Ostsyrien zu eröffnen. Und mit dem jüngsten Tauziehen um die NATO-Erweiterung um Finnland und Schweden wurden die Kurden und ihre Verbündeten auch von Stockholm schon mal geopfert und die syrisch-kurdischen Selbstverteidigungskräfte der YPG und YPJ zu „Terrororganisationen“ gestempelt. Am Donnerstag startete denn auch gerade eine neue Angriffswelle der türkischen Luftwaffe und türkischer Bodentruppen im Nordirak.
Zugleich forciert das türkische Regime im Windschatten der imperialistischen Konfrontations- und Kriegspolitik seine neo-osmanischen und immer stärker auch panturanistisch-völkisch konnotierten Ambitionen: einer Ausweitung der türkischen Grenzen auf die nördlichen Regionen Syriens (die es zwischen Tall Abjad und Ras al-Ain bereits mit Segen der Großmächte kontrolliert) bis in die erdölreichen Gebiete um Kirkuk im Nordirak, sowie die Wiedereröffnung der Mossul-Frage – mischte aber auch im Kaukasus-Konflikt 2016 und 2020 offen mit oder intervenierte in Libyen und ist heute ein gewichtiger Schutzpatron al-Sarradsch‘ und seiner islamistischen Milizen in Tripolis. Mit seinen steten Militäroperationen im Nordirak wiederum setzt sich die Türkei Schritt für Schritt dauerhaft im Irakisch-Kurdistan fest und okkupiert neben syrischem zusehends auch irakisches Territorium. Zugleich trachtet die Türkei mit einem neuerlichen Kriegsgang ihren Plan eines „arabischen Gürtels“ umzusetzen. Sprich: Über eine Million syrischer Geflüchtete zur demographischen Neuordnung der Region entlang der Grenze anzusiedeln um die Demographie in den Gebieten ethnisch zu verändern und die nord- und westkurdischen Gebiete zwischen Syrien und der Türkei voneinander zu trennen.
Ob und inwieweit sich das nach wie vor inthronisierte, reaktionäre, neo-osmanische Kriegskabinett in Ankara gegen das Selbstbestimmungs-Projekt Rojava und die kurdische Freiheitsbewegung jedoch durchzusetzen vermag, hängt dabei nicht zuletzt auch vom internationalen Widerstand ab, der den Schlächtern am Bosporus in internationaler Solidarität mit Rojava / der Demokratischen Konföderation Nord- und Ostsyrien entgegengesetzt zu werden vermag.
Gleichzeitg kommt die, zumal nach Wegfall des einstigen sowjetischen Atomwaffenschirms für Freiheitsbewegungen, der politischen Lage entspringenden, notwendig flexiblere Bündnispolitik einer Ausnutzung der Widersprüche der Groß- und Regionalmächte sowie der grundlegenden Unterscheidung zwischen partiellen, taktischen Partnern und subalternen strategischen Verbündeten einer Gratwanderung gleich. Und freilich mag man unterschiedliche Schritte dabei im Einzelnen verschieden bewerten und verschieben sich auch die Spielräume und taktischen Optionen beständig, die es entsprechend im Konkreten einzuschätzen und zu justieren gilt. Eine ständige Gratwanderung, die nach den ins Stocken geratenen Verhandlungen mit Damaskus und der Zuspitzung des Konflikts Syriens, Russlands und des Irans mit den USA in Syrien aktuell einem Drahtseilakt ähnelt.
Im Wissen um die Gewitterwolken über dem Rojava-Projekt und dessen heikle Lage findet für alle InternationalistInnen, AntifaschistInnen, die kämpferisch-proletarischen Flügel der Frauenbewegung, KommunistInnen, Revolutionäre und kämpferisch-internationalistischen Teile der revolutionären ArbeiterInnenbewegung sowie FeundInnen kommenden Samstag und Sonntag 29./30. 7. in der Jurekgasse, 1150 Wien, auch heuer ein „Rojava Straßenfest“ statt, um den 11. Jahrestag der „Rojava-Revolution“ und das radikal-demokratische, kollektive Selbstbestimmungs-Projekt sowie die Frauenrevolution in Rojava zu begrüßen und der drohenden türkischen Militäroffensive, es vom Erdboden radieren zu wollen, entgegenzutreten, sowie auch die aufgeworfenen Fragen kollektiv zu erörtern und diskutieren.