2. Solidaritätsfrühstück der „Initiative internationale Frauensolidarität“ & Interview aus Epizentrum der Erdbebenkatastrophe

2. Solidaritätsfrühstück der „Initiative internationale Frauensolidarität“ zur Errichtung eines Frauenzentrums im Erdbebengebiet Hatay (Türkei)

Wenn auch weitgehend aus der medialen Öffentlichkeit verschwunden: Die verheerenden Folgen des desaströsen Erdbebens von Anfang Februar in der Südosttürkei sind auch heute erst notdürftig behoben. Entsprechend betreiben denn auch zahlreiche Initiativen nach wie vor zivile Hilfs- und Aufbauprojekte, gezielte Katastrophenhilfen, Containerdörfer, bis hin zum Projekt der „Initiative internationale Frauensolidarität“ zur Errichtung eines Frauenzentrums im Erdbebengebiet Hatay – die diesen Sonntag, 10.9., von 11.00 bis 15.00 Uhr, auch zu einem Solidaritätsfrühstück mit Musik, Gedichten und einer Lesung einlädt.

Begleitend dazu möchten wir das Interview mit einer der Aktivistinnen aus dem letzten KOMpass, „Aus dem Epizentrum der Erdbebenkatastrophe in der Türkei“, online stellen, das wir mit İpek Yüksek, die unmittelbar nach der Erdbebenkatastrophe zur Unterstützung in die Südosttürkei aufgebrochen ist, nach ihrer Rückkehr Ende Februar führten – indem sie ihre seinerzeitigen Eindrücke, Erfahrungen und Einblick in die konkrete zivile Hilfe vor Ort gab.

Aus dem Epizentrum der Erdbebenkatastrophe in der Türkei

Ipkek, du bist wenige Tage nach dem Erdbeben schon im Flugzeug Richtung Katastrophengebiet gesessen. Warum?

Die meisten meiner Verwandten leben in Samandağ und Antakya. Beide Städte in der Provinz Hatay liegen jetzt in Trümmern. Ich habe die ersten Tage hauptsächlich damit verbracht alle zu erreichen und ihnen so gut wie möglich zu helfen.

Ich hab dann für mich schnell beschlossen, dass das in der Türkei effektiver sein würde und den ersten passenden Flug genommen. Ich wollte in dieser schwierigen Situation bei meiner Familie, meinen Freund:innen und Genoss:innen sein.

Wo bist du hingefahren und was hast du dort vorgefunden?

Ich bin zuerst nach Istanbul und habe mich dort an Solidaritätsaktionen beteiligt. Dort ging es vor allem darum schnell Hilfsgüter aller Art zu finden und sie in die betroffenen Regionen zu bringen. Danach flog ich direkt nach Hatay – der Flughafen hatte gerade erst wieder geöffnet, das war schon etwas über eine Woche nach den Erdbeben.

Alles sah furchtbar aus. Die Ebene war zerstört und in Trümmern, das Zentrum von Antakya stand nicht mehr. Auch das Haus, in dem ich aufgewachsen war. Ausnahmslos alle Menschen vor Ort hatten traumatische Erfahrungen gemacht, es gibt fast keine Familie, die keine Toten zu beklagen hat. Auch ich habe zwei Cousins und eine Cousine verloren.

Wie konntet ihr konkret den Frauen helfen?

Die feministische Solidaritätsarbeit ist ein ganz besonderer Aspekt. In den am stärksten betroffenen Regionen Maraş, Antep, Malatya, Adıyaman und Hatay fehlt es an allem. Zwei Sachen sind besonders wichtig: Unterbringung und sanitäre Versorgung. An beidem mangelt es.

Die schlechten sanitären Möglichkeiten, mangelnde Hygiene- und Periodenartikel und die fehlenden Rückzugsräume treffen besonders auch Frauen. Das Wasser aus den Leitungen ist auch zum Duschen oder Wäsche waschen kaum noch zu gebrauchen. Das führt auch zu gesundheitlichen Problemen, Infektionskrankheiten, die leicht verhinderbar wären, breiten sich aus.

Doch es bildeteten sich schnell Selbstorganisierungsstrukturen von Frauen für Frauen heraus. Eigene Frauenzelte wurden gegründet und die notwendigen Produkte mit einer gewaltigen Schnelligkeit aus andren Teilen der Türkei organisiert.Viele sagen: „Nicht nur das Erdbeben, sondern der türkische Staat tötet“.

Wie hast du das erlebt?

Erdbeben sind Naturkatastrophen und nicht zu verhindern. Aber dennoch ist im Zusammenhang mit den Geschehnissen und all den Versäumnissen vonseiten des Staates vor und während der Beben von einem Massaker zu sprechen.

Zum einen wurden baurechtliche Vorschriften nicht eingehalten. Die benutzten Materialien waren oft schlecht, es wurde gespart, damit die Baufirmen große Profite einfahren. Zum anderen war die staatliche Reaktion nach der Katastrophe unzureichend. Das hatte aber damit zu tun, wie die zuständigen Stellen vom Erdoğan-Regime behandelt wurden und welches Verständnis von Staat vorherrscht. Nämlich kein Staat, der im Interesse der Menschen arbeitet, sondern ein Staat, der auf Unterdrückung und Schein ausgerichtet ist und die meisten anderen wichtigen Grundlagen der Daseinsvorsorge privatisiert oder mit regimetreuen aber völlig unfähigen Vasallen besetzt.

Die zuständige Behörde, AFAD, ist viel zu schlecht ausgerüstet und aufgestellt, um wirklich effektiv vorzugehen. Ein Freund, der bei AFAD arbeitet, berichtete uns: „Wir arbeiten alle rund um die Uhr, aber die Führungsstruktur ist völlig paralysiert“. Und alles war zu spät: Es dauerte Tage, bis die ersten Hilfsteams eintrafen, obwohl wir alle wissen: bei einem Erdbeben zählt jede Minute.

Die Menschen organisierten sich selbst – und das ist das einzig Positive in der ganzen Katastrophe. Linke und sozialistische Organisationen waren dabei federführend. Solidarität bleib kein leeres Wort, sondern wurde konkret organisiert. Während der Staat „versagte“, , wurden nach ein paar Wochen  wieder Demonstrationen angegriffen, die Solidaritäts- und Organisationsarbeit vor Ort wurde attackiert, Sozialist:innen verhaftet.

Was ist deiner Meinung nach jetzt das Wichtigste mit Blick auf die betroffenen Frauen?

Auch wenn wir noch nicht an einem Punkt sind, an dem ein wirklicher Wiederaufbau gelingen kann, ist diese Frage doch grundlegend. Wer wird den Wiederaufbau politisch anführen? Um diese Frage geht es bei den bevorstehenden Wahlen. Werden die Menschen Möglichkeiten haben sich am Prozess zu beteiligen und wird  er gemäß ihrer Interessen vorangetrieben? Gerade für die Regionen, die der türkische Staat nur zu gerne assimilieren möchte, ist es wichtig, dass die Menschen vor Ort bleiben können, damit der Wiederaufbau nicht über ihre Köpfe hinweg gemacht wird.

Innerhalb dieses Rahmens gilt es auch besonders darauf zu achten, dass für die Frauen ein gutes, ein besseres Leben wieder aufgebaut wird. Es war ja nicht so, dass vor den Beben alles in Ordnung war. Patriarchale Gewalt und Unterdrückung waren eine Realität für viele Frauen. Mit der Selbstorganisierung nach den Protesten können die Frauen vielleicht zu wirklichen Subjekten ihrer eigenen Geschichte werden.

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