Am 3. Juni 2003 fand in Österreich der letzte Generalstreik statt. Über eine Million Beschäftigte – grob etwa jeder dritte Lohnabhängige – waren seinerzeit im Ausstand. Der folgende Text ist eine stark gekürzte und redaktionell leicht bearbeitete Version eines Beitrags von Eric Wegner aus dem Magazin „Marxismus“ zu „Streiks in der 2ten Republik“ aus dem Jahr 2013, den wir anlässlich des 20ten Jahrestages des damaligen Generalstreiks auch unsererseits nochmals veröffentlichen und breiter zugänglich machen möchten.
Zwei Jahre lang hat die ÖGB Führung den Angriffen der ÖVP-FPÖ Regierung auf den Lebensstandard der Lohnabhängigen de facto tatenlos zugesehen, also höchstens verbal und mit symbolischen Aktionen protestiert, aber keine ernsthaften Kampfmaßnahmen organisiert. Angesichts der geplanten Pensionskürzungen sollte der ÖGB dann allerdings die größten Mobilisierungen seit Jahrzenten durchführen.
Im März 2003 veröffentlichte die Regierung ihr Konzept einer radikalen Pensionsreform. Es beinhaltete eine weitgehende Abschaffung der Frühpensionen und eine Erhöhung des Pensionsantrittsalters von 61,5 auf 65 Jahre, wobei es bei früheren Antritt Abschläge geben sollte. Eine volle Pension sollte statt nach bisher 40 Jahren erst nach 45 Versicherungsjahren erreicht werden. Bei der gleichen Anzahl von Versicherungsjahren würde die Pension um diese Maßnahmen um 11% gesenkt werden. Der Durchrechnungszeitraum sollte von 15 auf 40 Jahre erhöht werden; das bedeutet, dass nicht mehr die besten 15 Jahre die Bemessungsgrundlage sein sollten, sondern der Durchschnitt aus 40 Jahren. Alles in allem beinhalteten diese Änderungen – nach einer Berechnung der Arbeiterkammer – Pensionsverlusten von 15-40%.
Hinter dem Frontalangriff auf die Pensionsvorsorge der Lohnabhängigen stand einerseits das Ziel, durch Kürzungen öffentliche Gelder einzusparen beziehungsweise umzuschichten, um eben das Finanzkapital zu unterstützen und generell mehr Gelder für Steuererleichterungen für Großunternehmer zur Verfügung zu haben. Darüber hinaus betrieb die Regierung mit einer staatlichen Förderung von Privatpensionen eine massive Umschichtung in Richtung privater Pensionsfonds, was für das Finanzkapital zusätzliche Möglichkeiten schuf, mit diesen Geldern zu spekulieren. Und schließlich ging es der Regierung darum, den Gewerkschaften eine öffentliche Niederlage und Demütigung zuzufügen und somit das Kräfteverhältnis zu Gunsten des Kapitals zu verändern.
Die Empörung über die Pensionspläne der Regierung waren von Anfang an enorm. In Umfragen erklärten etwa drei Viertel der Bevölkerung, dass sie Streikaktionen gegen diese Pläne für gerechtfertigt hielten. Die Gewerkschaftsführung geriet so unter massiven Druck. Der damalige Arbeiterkammer-Rat des GLB und spätere KOMintern-Aktivist, Helmuth Fellner, berichtete: „Die ÖGB-Führung wurde durch den Druck der Basis und der mittleren und unteren Funktionärsebene in den Einzelgewerkschaften zu Kampfmaßnahmen gedrängt“
In vielen Betrieben war die Stimmung ausgesprochen aufgebracht. In Betriebsversammlungen wurde von Streiks und Generalstreik gesprochen. Die Gewerkschaftsspitze war alles andere als glücklich über diese Entwicklung, aber musste nun etwas tun. Ein weiterer Aspekt, warum sich die Gewerkschaftsführung diesmal für Streikaktionen entschied, war, dass ihr langsam dämmerte, dass sie bei der „sozialpartnerschaftlichen Mitwirkung“ zurückgedrängt werden sollte.
Dabei bekannte sich die ÖGB-Führung zu einer Pensionsreform (akzeptierte also die “Notwendigkeit“ von Verschlechterungen) kritisierte aber den überfallsartigen Charakter und die Radikalität der Reformen. Sie forderte längere Übergangsfristen und eine generelle Abmilderung der Maßnahmen.
Die Regierung aber befürchtete eine Verwässerung der Kürzungen und ging auf die Forderungen der Gewerkschaften nicht ein. Die ÖGB-Spitze musste gegenüber dem Kapital und der ArbeiterInnenklasse ihre Existenzberechtigung beweisen und sah sich zum Handeln gezwungen, um nicht ihr Gesicht zu verlieren und einen Aufruhr der Basis zu verhindern. Der Streikbeschluss vom 24. April bekannt sich dazu „gemeinsam mit den Arbeitgebern eine umfassende Reform zur mittel- und langfristigen Sicherung der Pensionen zu erstellen“, damit der „soziale Friede in unserem Land erhalten bleibe“.
Es begann eine Protestwelle in den Betrieben wie sie das Land seit 1950 nicht mehr gesehen hatte. Etwa 500.000 Lohnabhängige nahmen am 6. Mai 2003 in der einen oder anderen Form an Aktionen, Kundgebungen, Demonstrationen oder Betriebsversammlungen teil. Die Stimmung auf den Betriebsversammlungen und Kundgebungen war von einem kämpferischen Geist der Solidarität geprägt.
Der ÖGB vermied aber einen wirklichen Generalstreik und sorgte dafür, dass Konzerne durch den Streik nicht zu stark getroffen wurden. Schließlich sei der Gegner nicht „die Wirtschaft“, sondern die Regierung. Weite Teile der Privatwirtschaft wurden nicht bestreikt und in Großbetrieben wurde darauf geachtet, dass es zu keinen Produktionsausfällen kam. Wirklich weh getan haben die Aktivitäten vom 6. Mai deshalb weder dem Kapital noch der Regierung.
Als die Regierung nach dem 6. Mai nicht einlenkte, führte der ÖGB am 13.Mai einen neuerlichen Streiktag durch. Zusätzlich wurde in Wien eine zentrale Großdemonstration abgehalten, die es auf die wirklich bemerkenswerte Zahl von 200.000 TeilnehmerInnen brachte und damit gezeigt hat, dass die Gewerkschaften in den Betrieben sehr wohl noch organisieren können und sich die Massen sehr wohl mobilisieren lassen, gegen eine scharfe und brutale Attacke der Herrschenden auf die Straße zu gehen. Die Kraft der Mobilisierung machte offenkundig auch Eindruck auf die Regierung. Sie willigte nun in Gespräche ein. Ein „Runder Tisch“ wurde einberufen, an dem VertreterInnen der Regierung mit den „Sozialpartnern“ über die Reformen diskutieren sollten.
Folgende „Kompromissvorschläge“ wurden nun von der Regierung präsentiert. Die Frühpensionen sollten nicht 2013, sondern erst 2017 abgeschafft sein und die Pensionsverluste sollten mit 10% „gedeckelt“ werden. Das wurde auch von der ÖGB-Bürokratie als „Taschenspielertrick“ bezeichnet, denn in Wirklichkeit führten die flankierenden Maßnahmen des Pensionsraubes sogar bei der günstigsten Variante zu Abschlägen von etwa 15%.
Der ÖGB, der gleich nach dem 13.Mai die Streiks ausgesetzt hatte, weil die Regierung sich gesprächsbereit zeigte, stimmte den minimal abgeänderten Regierungsplan nicht zu und rief für den 3. Juni einen neuen Streiktag aus. Der ÖGB-Spitze ging es dabei vor allem um eines: Um jeden Preis die „Sozialpartnerschaft“ am Leben zu erhalten – und sei es unter Einsatz des Kampfmittels Streik. Daher das ewige Lamento einer nach einer Pause bis September, um den „Sozialpartnern“ die Möglichkeit zu einem „gemeinsamen Vorschlag für eine sozial gerechte Pensionsreform“ zu geben.
Diesmal nahmen nach ÖGB-Angaben sogar mehr als eine Millionen Menschen – also etwa jeder dritte Lohnabhängige – an Aktionen in etwa 18.000 Betrieben und Dienststellen teil. Allerdings wurden die öffentlichen Protestaktionen wieder deutlich zurückgefahren. Mit dem fadenscheinigen Argument, man wolle ja nicht „die Bevölkerung“ treffen, scherten ganze Gewerkschaften de facto aus der Streikfront aus.
Wer so kämpft wie die ÖGB-Spitze, der will gar nicht gewinnen. Dementsprechend erklärte der seinerzeitige ÖGB-Vorsitzender Verzetnitsch seine Strategie: Die Kritikpunkte der Gewerkschaft blieben aufrecht. Im nächsten Schritt sollen nun die NR-Abgeordneten von den Forderungen des ÖGB überzeugt werden und ein harmonisiertes Gesamtkonzept erarbeitet werden. Kein Wort von weiteren Streiks, kein Wort selbst von Aktionstagen, stattdessen eine nebulöse “ Infokampagne“
Die Mobilisierung vom 3. Juni war letztlich eine halbherzige Angelegenheit, die sich als Theaterdonner entpuppte, und bei dem diejenigen, die ihn tragen sollten, das Gefühl aufkam, nichts anderes als Marionetten in einem undurchschaubaren Machtspiel zu sein. Dabei sind die Mobilisierungsmöglichkeiten und die Kampfkraft bei weiten nicht ausgeschöpft worden. Die Regierung hatte gewusst, dass der ÖGB keine ernsthafteren und längeren Streiks durchführen wollte und war entsprechend entschlossen gewesen, die Proteste einfach auszusitzen, was ihr angesichts der beschriebenen Politik der Gewerkschaftsspitze auch gelang. Drei Tage nach dem verhaltenen Generalstreik, also am 6. Juni, die leicht abgeänderte Gesetzesvorlage im Parlament zur Abstimmung und beschloss mit der Mehrheit ihrer Abgeordneten die Einschnitte beim Pensionssystem.
Für die ArbeiterInnenklasse waren die Proteste von Mai und Juni 2003 eine zweischneidige Angelegenheit. Einerseits zeigten sie die Kraft und das Potential der ArbeiterInnenbewegung und viele machten zum ersten Mal mit Streiks und Demonstrationen. Andererseits endeten die Proteste gegen den Pensionsraub mit einer klaren Niederlage. Die Regierung hatte sich mit ihrem Frontalangriff weitgehend durchgesetzt und war dabei auch noch ziemlich stabil geblieben. Die Niederlage brachte auch demoralisierende Effekte für teilnehmende ArbeiterInnen. Es wurde wieder überdeutlich, wie verheerend sich die sozialdemokratische reformistische Vorherrschaft in der österreichischen ArbeiterInnenbewegung auswirkt und welche drastischen Folgen das weitgehende Fehlen einer Verankerung von klassenkämpferischen und revolutionären Kräften in den Großbetrieben hat.
Gleichzeitig haben die Streiktage des Frühjahrs 2003 und der 3. Juni eindrucksvoll gezeigt, „dass die Gewerkschaften in den Betrieben sehr wohl noch organisieren können und sich die Massen sehr wohl mobilisieren lassen, gegen eine scharfe und brutale Attacke der Herrschenden auf die Straße zu gehen.“