Doskozil und die Neujustierung der Mindestlohndebatte

Selbst der IWF (Internationale Währungsfonds), auch nur der geringsten Parteinahme für die Arbeitenden gänzlich unverdächtig, musste schon in seinem letzten Bericht vor Ausbruch der Corona- und Wirtschaftskrise und Anbruch der jetzigen Hochinflationszeit eingestehen: Die Lohnquote (der Anteil der Löhne am Volkseinkommen) nimmt in den reichen Ländern seit den 1980er Jahren stetig ab und ist heutigentags auf den tiefsten Stand seit 50 Jahren abgesunken. Ab der zweiten Jahreshälfte 2021 setzte daraufhin noch die neue Teuerungswelle ein. Demgemäß hat der ÖGB seine Mindestlohnforderung zwischenzeitlich auch auf 2.000 Euro hinaufgesetzt. Und zwar auf kollektivvertraglicher Basis. Der neue SPÖ-Vorsitzende Hans-Peter Doskozil verficht demgegenüber – zum Unmut der Gewerkschaften – einen gesetzlichen Mindestlohn. Das klingt zunächst vielleicht wie ein Streit um des Kaisers Bart. Ist es aber nicht.

Um der drückenden Inflation, zunehmenden Armutsgefährdung und Lohnarmut und den vielfach unhaltbaren Hungerlöhnen einen Riegel vorzuschieben, braucht es in der Tat dringend einen robusten, flächendeckenden Mindestlohn im Land, der diesen Namen auch verdient. Dementsprechend unterstützen wir als KOMintern auch die neue ÖGB-Forderung nach einem Lebensstandard sichernden kollektivvertraglichen Mindestlohn von (mind.) 2.000 Euro, um der eklatanten Erosion der sozialen Verhältnisse der Beschäftigten, Familien mit niedrigem und mittlerem Einkommen, BezieherInnen sozialer Transferleistungen und PensionistInnen dringend entgegenzusteuern. Und diesen bewusst nicht auf gesetzlicher, sondern kollektivvertraglicher Basis. Das klingt, wie bereits eingangs erwähnt, zunächst vielleicht wie ein Streit um des Kaisers Bart. Ist es aber nicht. 

Anders als in anderen europäischen Ländern existiert in Öster­reich (aus historischen und institutionellen Bedingungen, wie einem hohen gewerkschaftlichen Organisierungsgrad) einetrotz aller Angriffegut etablierte Form der Kollektivverträge, die (im Unterschied zu anderen Ländern) für so gut wie alle Betriebe verbindlich sind. So wird der Mindestlohn für die Beschäftigten bisher denn auch, ähnlich wie in Dänemark, Schweden und Finnland, über gewerkschaftlich ausgehandelte Kollektivverträge bzw. Mindestlohntarife u.a. geregelt, und deckt bis zu 98% aller un­selbständigen Werktätigen ab.

Kollektivvertrag vs. Gesetz

Seit geraumer Zeit fordern nun auch einige AK- und Gewerkschafts-Fraktionen, aufgrund der Lohnmisere, einen gesetzlichen Mindestlohn. Das klingt auf den ersten flüchtigen Blick auch einmal ganz unverfänglich. Aber ist es das auch?

Nun, eine solche Mindestlohnregelung beinhaltete zunächst einmal einen gravierenden, in der 2. Republik noch nie dagewesenen staatlichen Eingriff in die gewerkschaftliche Kollektivvertrags-Autonomie und würde die Frage des Mindestlohns den unmittelbaren gewerkschaftlichen Lohnauseinandersetzungen entziehen.

Damit würde die künftige Festsetzung der Mindestlöhne direkt den politisch-parlamentarischen Kräfteverhältnissen und jeweiligen Regierung überantwortet. Um sich maximal durchsichtig vor Augen zu führen, was das bedeutet, muss man den Blick noch nicht einmal auf stramm konservative oder neoliberale Regierungskabinette mit ihrem vielfachen jahrelangen Einfrieren der Mindestlöhne richten.

Dazu genügt bereits ein Streiflicht auf die Amtszeit des einst von breiten Massen mit großen Hoffnungen ins US-Präsidentenamt gehievten Barack Obama bzw. der jetzigen Biden-Administration. Der gesetzliche Bundes-Mindestlohn befand und befindet sich in den USA seit Jahrzehnten im Sinkflug und liegt inflationsbereinigt heute deutlich niedriger als zu seiner Einführung 1968. Nichts desto trotz harrte der Mindestlohn auch während der achtjährigen Präsidentschaftsperiode Obamas vergeblich auf eine weitere Anhebung und verblieb unverändert auf läppischen 7,25 Dollar. Und der auf Druck Bernie Sanders und Alexandra Ocasio-Cortez, sowie aus wahltaktischen Gründen, ins Wahlprogramm der Demokraten und von Joe Biden aufgenommene Mindestlohn von 15 Dollar wurde bereits zum Amtsantritt schon wieder vom Tisch gefegt. (Hatte in den Händen dieser regelrechten Personifizierung des Washingtoner Establishments und politischen Personals der Wall Street aber ohnehin kaum Glaubwürdigkeit auf Umsetzung). Versprach Biden im Wahlkampf gegen die unter Donald Trump zu verzeichnenden regelrechten Lohneinbrüche noch vollmundig der über die Parteigrenzen hinweg äußerst populären Forderung nach einem landesweiten Mindestlohn von 15 Dollar eine besondere Priorität einzuräumen und in mehreren Stufen bis 2025 zu realisieren, haben die Demokraten diesen bereits im Zuge ihrer Antrittsverhandlungen im Senat Anfang 2021 sogleich wieder eingemottet. Der „Fight for 15“ ist damit wie ehedem eine Frage der Verschiebung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse und gewerkschaftlichen Klassenkämpfe.

Auch in zahlreichen anderen Ländern, die über einen gesetzlichen Mindestlohn verfügen, wurde dieser vielfach über Jahre und Dezennien nicht mehr erhöht – zumal in Zeiten nachhaltiger Austeritäts- und Rotstiftpolitik und angespannter Budgets.

Autonomie statt Regierungswillkür

Einen solchen heute in Österreich zu fordern, entwindet also den Mindestlohn nicht „nur“ den Gewerkschaften als unmittelbaren Bestandteil ihres Lohnstreits, sondern hätte ihn zuletzt gar in die Hände der willigen schwarz-blauen Vollstrecker des Kapitals gelegt und würde ihn heute in die Verfügung von Schwarz-Grün und zukünftig, soweit vorhersehbar, in nicht hoffnungsvollere Kabinette legen. Genauer noch: zuletzt in jene der Unsozialministerin Hartinger-Klein, die dann per Gesetzesvorlage über seine Höhe bestimmt hätte und bekanntlich der Auffassung war, man könne (abzüglich der Wohnkosten) in Österreich auch von 150 Euro gut leben. Heute in die Verfügung der Regierung Nehammers.

Um einer solchen gänzlich freien Verfügung und Regierungswillkür über einen gesetzlichen Mindestlohn zu entgehen, wird von manch nachdenklicheren VertreterInnen dann vorgeschlagen, ihn etwa an den Verbraucherpreisindex zu binden – und damit sozusagen eher dem „Statistischen Zentralamt“ zu überantworten. Bloß, eine solche an den Verbraucherpreisindex gebundene Variante, beinhaltet wie selbstverständlich die unausdrückliche Voraussetzung, dass die jetzt gerade vorhanden Verteilungsverhältnisse als Fixpunkt angesehen und hingenommen werden, ja, die Mindestlohnquote am Volkseinkommen sich aufgrund der Produktivitätsentwicklung verteilungspolitisch sogar mehr und mehr verschlechtert. Und würde in dieser Perspektive zugleich die gegebenen Klassenkräfteverhältnisse im Blick auf den Mindestlohn in Stein meißeln und einzementieren. Bei jedem KV-Abschluss als bloßem Inflationsausgleich ohne Reallohnsteigerung würden die besagten Fürsprecher eines gesetzlichen Mindestlohns gleichzeitig – zurecht – inbrünstig aufschreien. Dass sie uns aber – bestenfalls! – genau das mit ihren Konzepten für die GeringverdienerInnen aufschwatzen wollen, scheinen sie nicht einmal zu bemerken.

So verlockend und unschuldig sich die Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn vielleicht im ersten Moment anhört – gewerkschaftspolitisch tragfähig ist sie nicht. Stärker noch: gewerkschaftlich stellt sie vielmehr eine desaströse, gefährliche Fehlorientierung dar. Dass Doskozil Anfang 2020 für alle Beschäftigten im Einfluss des Landes die vormalige (Brutto-)Mindestlohnforderung des ÖGB im Burgenland – netto! – eingeführt hat und dieser mittlerweile – erneut netto! – bereits die neue Mindestlohnforderung der Gewerkschaften erklommen hat, soll damit (was immer man ansonsten von Hans-Peter Doskozil hält) mitnichten kleingeredet werden. Im Gegenteil. Die verbliebenen SP-Landeskaiser wären durchaus angehalten, sich daran ein Vorbild nehmen. Zumal Wien wird man nach 10 Jahren ‚sozialdemokratisch-linkem‘ Lieblingsprojekt einer rot-grünen Koalition, die zudem noch bis in den Herbst 2020 amtierte, von solchem ‚Versäumnis‘ nicht außenvor lassen können. Nur, ist die Frage eines robusten Mindestlohns als solchem komplizierter gestrickt. Dass an der SP-Spitze nun ein Fürsprecher und vehementer Verfechter eines gesetzlichen Mindestlohns das Ruder übernommen hat, tendiert (alles andere im hiesigen Kontext zurückgestellt lassend) dahingehend zu einem hartnäckigen, gewerkschaftspolitischen Minenfeld.

Update: Aufgrund der SPÖ-Parteitags-Farce hat sich inzwischen allerdings Andreas Babler anstatt Hans-Peter Doskozil als neuer Vorsitzender herausgestellt. Vorläufig zumindest, möchte man fast anfügen …

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