Ist Selenskyj am Ende?

Es ist wohl kaum eine gewagte These, dass die vorrangig Durchhalteparolen verpflichtete heimische Medienberichterstattung zum Ukraine-Krieg so ziemlich jedem Informationsstandard selbst der internationalen westlichen Presse entbehrt. Freilich General Valerie Saluschnyjs jüngste Erklärung als Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, der Krieg sei in eine „Pattsituation“ geraten, konnte nicht ganz übergangen werden. Ebenso, dass ihm Vitali Klitschko öffentlich zur Seite sprang. Oder auch der zuletzt ebenfalls neu hochkochende Konflikt Selenskyjs mit seinem Vorgänger Petro Poroschenko (immerhin des Westens vorhergehendem Liebling). 

An die teils ungeschminkten Berichterstattungen der US-Leitmedien wie der „New York Times“ oder „Washington Post“ über das Desaster Kiews, Washingtons erschöpftem wie verfehltem Stellvertreterkrieg und einem opferreichen drohenden militärischen Kollaps der Ukraine, reichen solch gelegentlich aufploppende Unbilden in der bellizistischen Propaganda und deren Kriegs-Narrativ mitnichten auch nur im Entferntesten heran. Während die Rekrutierungsprobleme von 450.000 bis 500.000 zusätzlichen Soldaten (aufgrund der rapide geschrumpften Bereitschaft sich zum Kriegsdienst zu melden und als Kanonenfutter für „sinnlose“ Offensiven, so Überlebende) auch in den hiesigen Medien noch wiederhall finden, halten hochrangige US-Militärexperten indes viel weitreichender selbst die „Patt-Formel“ Saluschnyis für einen Euphemismus und rechnen á la longue vielmehr mit einem (mindestens partiellen) „Zusammenbruch“ der ukrainischen Front, vor dessen Hintergrund sie westlich-kiewsche Kriegspolitik ‚bis zum letzten Ukrainer‘ und Kriegszielstrategie schlicht als „Suizidmission“ charakterisieren. Selbst NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg kündigte bereits an, dass die NATO „auf schlechte Nachrichten vorbereitet sein sollte“. Und während das offizielle Österreich unbeirrt an seinen Durchhalteparolen festhält, plädieren vor diesem Hintergrund schon manch gewichtige Stimmen offen für einen Kurswechsel und demokratischen Regimewechsel in der Ukraine.

Thomas Fazi, italienischer Journalist, Schriftsteller und Übersetzten publizierte dazu auf MAKROSKOP unlängst einen instruktiven Beitrag, den wir aus besagten Gründen hier denn auch übernehmen.

Die westliche Öffentlichkeit kennt das Bild einer in ihrem unerschütterlichen Engagement für einen totalen Sieg über Russland vereinten Ukraine. Zuletzt hat dieses Bild Risse bekommen – und es gibt Rufe nach einem Regimewechsel.

Trotz des inzwischen allgemein anerkannten Scheiterns der von der NATO unterstützten ukrainischen Gegenoffensive hält Selenskyj weiterhin an der maximalistischen „Sieg-um-jeden-Preis“-Erzählung fest. Demnach müsse die Ukraine weiterkämpfen, bis sie jeden Zentimeter des verlorenen Territoriums, einschließlich der Krim, zurückerobert hat. Mit Putin darf nicht verhandelt werden. Diese Haltung ist insofern verständlich, als Selenskyj alles darangesetzt hat, dieses Ziel zu erreichen – weniger als das Maximum dürfte das Ende seiner politischen Karriere bedeuten.

Doch Selenskyj scheint mit seiner Position zunehmend isoliert zu sein. Im Time Magazin schrieb der Journalist Simon Shuster, dass selbst sein Stab der derzeitigen Politik skeptisch gegenüberstünde. Den Glauben des Präsidenten an den endgültigen Sieg der Ukraine über Russland sollen sie für „starrsinnig, fast schon messianisch“ halten.

Anfang November erklärte kein Geringerer als der Oberbefehlshaber der Ukraine, General Valerie Saluschnyj, gegenüber The Economist, dass der Krieg mit Russland eine Pattsituation erreicht habe und sich zu einem langen Zermürbungskrieg entwickle, in dem Russland im Vorteil sei. Viele verstanden dies als Zeichen, dass der General die Zeit für gekommen hält, mit Russland zu verhandeln. Die Folge war eine öffentliche Auseinandersetzung zwischen Saluschnyj und Selenskyj, der die Lagebeurteilung des Generals zurückwies und seine Weigerung bekräftigte, mit Moskau über einen Waffenstillstand zu verhandeln.

Seitdem hat sich die Rivalität zwischen den beiden zu einem regelrechten Machtkampf ausgeweitet. Der ukrainischen Nachrichtenseite Ukrainska Pravda zufolge sieht sich Selenskyj durch die Popularität von Saluschnyj politisch bedroht – und die jüngsten Ereignisse haben die Befürchtungen des Präsidenten verstärkt. In der Tat ist die Loyalität der Armee gespalten: hier denjenigen, die Saluschnyj unterstehen, dort jene, die dem Befehlshaber der Bodentruppen, Oleksandr Syrskyi, einem Verbündeten von Selenskyj, treu sind.

Doch Saluschnyj steht mit seiner Kritik an Selenskyj nicht alleine. Der Kiewer Bürgermeister Vitali Klitschko sprang Saluschnyj öffentlich zur Seite und erklärte, dass Selenskyj nun „für die von ihm gemachten Fehler bezahlt“. Anfang des Monats flammte auch ein langjähriger Konflikt zwischen Selenskyj und dem ehemaligen Präsidenten Petro Poroschenko wieder auf, als die ukrainischen Behörden den ehemaligen Staatschef daran hinderten, das Land zu einem geplanten Treffen mit dem ungarischen Premierminister Viktor Orbán zu verlassen.

Nach Ansicht seiner Kritiker ist das ein Beweis für Selenskyjs zunehmend autoritären Führungsstil. „Irgendwann werden wir uns nicht mehr von Russland unterscheiden, wo alles von der Laune eines einzigen Mannes abhängt“, sagte Klitschko dem Spiegel. Iwanna Klympusch-Tsinzadse, Poroschenkos ehemalige Vizepremierministerin, sprach von einer „autoritären Regression“.

Doch Selenskyj steht nicht nur wegen der Frage des Zukunftskurses der Ukraine unter Beschuss; einige Kritiker sind vielmehr der Ansicht, die gesamte Strategie sei von Anfang an verpfuscht worden. Oleksij Arestowytsch, Selenskyjs ehemaliger Präsidentenberater schrieb kürzlich, dass „der Krieg mit den Istanbuler Vereinbarungen hätte enden können und ein paar Hunderttausend Menschen noch am Leben wären“, womit er sich auf eine Runde von Friedensgesprächen bezog, die im März und Anfang April 2022 unter Vermittlung der Türkei stattfanden.

Damals hatten die russischen und ukrainischen Unterhändler eine vorläufige Einigung über die Grundzüge einer vorläufigen Friedensregelung erzielt. Russland hatte im Gegenzug für die Neutralität der Ukraine einem Truppenrückzug entlang der Linien vor dem 24. Februar 2022 zugestimmt. Die Vereinbarung wurde jedoch angeblich von Boris Johnson und Vertretern des amerikanischen Außenministeriums und des Pentagons blockiert. Sogar David Arakhamia, der Parlamentsvorsitzende von Selenskyjs eigener Partei „Diener des Volkes“, der die ukrainische Delegation bei den Friedensgesprächen mit Moskau leitete, behauptete kürzlich, Russland „sei bereit gewesen, den Krieg zu beenden, wenn wir die Neutralität akzeptieren“. Die Gespräche, so Arakhamia, seien aus mehreren Gründen gescheitert; unter anderem wegen Johnsons Besuch in Kiew, bei dem er den ukrainischen Beamten mitteilte, dass sie weiterkämpfen sollten.

Doch Selenskyj sieht sich nicht nur mit dem wachsenden Widerstand rivalisierender Politiker und Militärs konfrontiert, sondern auch mit dem der Straße. Im ganzen Land protestierten Familien von Soldaten, um eine Begrenzung der Militärdienstzeit und die Rückkehr derjenigen zu fordern, die 18 Monate oder länger gedient haben. Zudem verlangten sie Informationen über die mehr als 15.000 im Einsatz vermissten Soldaten. Inzwischen erreichte eine Petition, die eine Änderung der Mobilisierungsregeln fordert, die erforderliche Mindestanzahl von 25.000 Unterschriften, um vom Präsidenten beachtet zu werden. Selenskyjs Vorstoß zu einer weiteren Truppenmobilisierung dürfte das erschweren. Schon jetzt entzieht sich eine große Anzahl Wehrpflichtiger dem Dienst.  

Diese zunehmende Feindseligkeit gegenüber dem Präsidenten – als auch der ukrainischen Kriegsstrategie im Allgemeinen – stellt Selenskyjs politische Zukunft mehr und mehr in Frage. Einer kürzlich durchgeführten Umfrage zufolge liegen die Zustimmungswerte für Selenskyj und Saluschnyj nun fast gleichauf. The Economist berichtet, dass das Vertrauen in den Präsidenten auf 32 Prozent gefallen ist. Einer anderen Umfrage zufolge ist Selenskyj immer noch der beliebteste Kandidat, aber sowohl Poroschenko auf dem zweiten Platz als auch Saluschnyj (der noch keine politischen Ambitionen gezeigt hat) werden immer populärer und einflussreicher.

Die Unterstützung des Westens bröckelt

Es überrascht also nicht, dass Selenskyj unter Hinweis auf Sicherheits- und Finanzierungsprobleme die Durchführung der ursprünglich für den kommenden März geplanten Wahlen ausgeschlossen hat. Berichten zufolge unterstützen die meisten Ukrainer diese Entscheidung. Aber damit sind die Probleme Selenskyjs nicht gelöst. Das Scheitern der Gegenoffensive weckt auch bei seinen westlichen Unterstützern Zweifel, die nun erkennen müssen, dass die Ukraine ihre Position auf dem Schlachtfeld wahrscheinlich nicht verbessern wird.

Einige westliche Analysten zeichnen ein noch düstereres Bild, nachdem die Ukraine nicht einmal in der Lage ist, den territorialen Status quo zu verteidigen: „Alle Faktoren stehen zu Gunsten Russlands und werden sich weiter zu seinen Gunsten entwickeln“, so der ehemalige Oberstleutnant der US-Armee Daniel Davis, Senior Fellow und Militärexperte bei Defense Priorities. Selbst NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg kündigte an, dass die NATO „auf schlechte Nachrichten vorbereitet sein sollte“.

Angesichts dieses wachsenden Pessimismus sind die neuen Hilfszusagen für die Ukraine auf den niedrigsten Stand seit Beginn des Krieges gesunken. Die EU-Mitgliedstaaten ringen, vor allem wegen des Widerstands Ungarns, seit Monaten um ein 50-Milliarden-Euro-Hilfspaket. Es ist kein Geheimnis, dass die europäischen Staats- und Regierungschefs des Krieges in der Ukraine überdrüssig“ sind, wie Giorgia Meloni kürzlich zwei russischen Trickbetrügern am Telefon sagte, die sich als Beamte der Afrikanischen Union ausgegeben hatten. Der militärische Stillstand bestärkt in Deutschland und in britischen Diplomatenkreisen die Meinung, dass Verhandlungen mit Moskau im besten Interesse der Ukraine wären.

Jenseits des Atlantiks ist die Unterstützung für Selenskyjs Strategie derweil auf einem Rekordtief. Die immer verzweifelteren Versuche der Regierung Biden, den Kongress davon zu überzeugen, eine neue Runde von Soforthilfemitteln für die Ukraine zu bewilligen, scheiterten letzte Woche erneut, als der Senat ein weiteres Hilfsgesetz blockierte. In gewisser Hinsicht befindet sich Biden in einer ähnlichen Lage wie Selenskyj: Er hat durchgehend einen vollständigen ukrainischen Sieg versprochen und sich geweigert, mit Putin zu verhandeln. Eine Kehrtwende vor den nächsten Wahlen wäre ein Eingeständnis des Scheiterns. In US-Verteidigungskreisen wächst jedoch das Bewusstsein, dass ein langwieriger Konflikt die Interessen der USA ernsthaft gefährden würde.

Eine gesichtswahrende Möglichkeit für die Regierung Biden wäre es, den Konflikt vorerst – zumindest bis zu den US-Wahlen – durch eine Art informelles Abkommen mit Russland „einzufrieren“. Doch diese Strategie birgt ihre eigenen Probleme: Es ist nicht nur alles andere als klar, dass Russland ein Einfrieren des Krieges akzeptieren würde, solange es einen taktischen Vorteil genießt. Sondern es wäre auch erforderlich, Selenskyj ins Boot zu holen – oder ihn von der Bildfläche verschwinden zu lassen.

Aus Sicht der USA wäre ein demokratischer Regimewechsel in der Ukraine wohl die bessere Lösung, aber wie bereits erwähnt, stehen Wahlen derzeit nicht zur Debatte. Das bedeutet nicht, dass es keine Veränderungen geben wird; das Risiko steigt, dass Selenskyjs Gegner – innerhalb und außerhalb des Landes – versuchen, ihn mit anderen Mitteln loszuwerden.

Selenskyj selbst äußerte kürzlich die Befürchtung, dass in der Ukraine ein neuer Staatsstreich nach Art des Maidan geplant sei – allerdings beschuldigte er Russland und nicht seine lokalen Gegner, hinter diesen Plänen zu stecken. Unabhängig davon, für wie glaubwürdig man dieses Szenario hält, zeigt das Selenskyjs veränderten Status auf der Weltbühne: Auf der Suche nach einer Ausstiegsstrategie betrachten westliche Länder und wichtige Teile des ukrainischen Establishments den derzeitigen ukrainischen Präsidenten nicht mehr als Aktivposten, sondern als Belastung.

Foto: BMEIA/Gruber, CC BY 2.0 Deed, edited

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