Aufgrund des Inflations-Tsunamis, der verbreiteten Niedriglöhnerei, der prekären Arbeitssituationen und dem drohenden sozialen Absturz von Millionen Briten, wogt in Großbritannien die größte Arbeitskampf- und Streikwelle seit den 1980er Jahren. Seit Monaten anhaltend, steuert sie nun auf einen vorläufigen Höhepunkt zu. Um den Arbeitskämpfen im Vereinigten Königreich mit allen Mittel zu Leibe zu rücken, wollen die Torys abermals das Streikrecht verschärfen, um die Streikfähigkeit der britischen Gewerkschaftsbewegung gesetzlich noch weiter einzuschränken, und das Militär zum Streikbruch einsetzen. Dabei hat Großbritannien selbst nach den Worten des einstigen New-Labour Aushängeschilds Tony Blair ohnedies bereits „die restriktivsten Gewerkschaftsgesetze der westlichen Welt“ – die freilich auch in der aggressiv neoliberalen New-Labour-Ära 1997 bis 2010 nicht aufgehoben wurden. Premier Rishi Sunak gab nichts desto weniger jüngst bekannt, an „neuen harten Gesetzen“ gegen Arbeitskämpfe zu arbeiten und erwägt auch die Armee zum Streikbruch abzukommandieren.
Die Größte Streikwelle seit den 1980er Jahren
Die seit Monaten anhaltende Streikwelle in Großbritannien ist in ihrem Ausmaß und ihrer Wucht seit Jahrzehnten beispiellos.Sämtliche Sektoren des Landes sind im Aufruhr: EisenbahnerInnen, MitarbeiterInnen der Londoner U-Bahn, HafenarbeiterInnen, Flughafenbeschäftigte, Postangestellte und Callcenter-Beschäftigte, BuslenkerInnen, KrankenpflegerInnen, AssistenzärztInnen, Rettungssanitäter, Autobahnarbeiter, Telekommunikationsbeschäftigte, FahrerInnen von Lieferdiensten, FahrprüferInnen, Reinigungskräfte des öffentlichen Sektors, Amazon-LagerarbeiterInnen, MüllarbeiterInnen, Beamte, Sicherheitsbeamte, Grenzbeamte, bis hin zu UnidozentInnen und RechtsanwältInnen.
Offener Konfrontationskurs gegen die Gewerkschaften
Elizabeth Truss, ursprüngliche Johnson-Nachfolgerin und mit 6-wöchiger Kapriolenamtszeit geschichtliche Kürzest-Premierministerin Großbritanniens, hatte sich in Tradition der Eisernen Lady Margaret Thatcher bereits weitere Anti-Gewerkschaftsgesetze (bis hin zur Behinderung von Gewerkschaftsarbeit im Betrieb) auf die Fahne geheftet und suchte mit Antrittsbeginn als neue Premierministerin von Anfang an die Konfrontation mit den Gewerkschaften. Und Labour-Vorsitzender Keir Starmer, schon bisher kein Unterstützer von Arbeitskämpfen, ist ganz in die Fußstapfen Tony Blairs geschlüpft. Stärker noch: während Londons neuer Premier Rishi Sunak an seinen neuen Gesetzen zur Unterminierung des Streikrechts zimmert, fällt dem Labour-Führer nichts Absonderlicheres ein, als von der Regierung ein noch härteres Vorgehen gegen Streiks zu fordern. „Die Regierung ist nicht ernsthaft gewillt, diese Streiks zu verhindern“, ließ er gerade seinen Sprecher verkünden. „Wir haben die Regierung immer wieder aufgefordert, Haltung zu zeigen und alles zu tun, um diese Streiks zu unterbinden, damit die Öffentlichkeit nicht gestört wird.“
Erster Baustein der neuen Anti-Streik-Gesetze schon auf den Weg gebracht
Der erste Baustein des weiteren gesetzlichen Unterlaufens des Streikrechts wurde an ihrem letzten Arbeitstag in der Downing Street noch von Elizabeth Truss auf den Weg gebracht. Die „Transport Strikes (Minimum Service Levels) Bill“ sieht nicht weniger vor als eine „Mindestversorgung“ an öffentlichem Verkehr während Streiks gesetzlich zu verankern – und damit wirksame Ausstände der EisenbahnInnen und anderweitiger Beschäftigter im Verkehrs- und Transportwesen zu unterlaufen. Ein Punkt, der sich, kaum beachtet, bereits im Wahlprogramm der Torys von 2019 findet. Zu Amtsantritt deutete Truss, dahingehend einen Konsens der politischen Hauptfiguren des britischen Establishments zum Ausdruck bringend, zudem bereits an, analoge gesetzliche Regelungen auch auf andere Branchen und Sektoren auszuweiten.
Heute und morgen: EisenbahnerInnen trotzen der Kriegserklärung der Regierung
Allerdings, weder die EisenbahnerInnen noch die Beschäftigten anderer Branchen und Sektoren der G7- und NATO-Macht lassen sich durch den ihnen hingeworfenen Fehdehandschuh in die Knie zwingen. Ab heute Dienstag noch vor 7.30 Uhr werden denn auch allem Konfrontationskurs der Regierung zum Trotz rund 40 000 Beschäftigte von 14 privaten Bahnbetreiberfirmen und dem staatlichen Schienenbetreiber Network Rail dem Aufruf der britischen Eisenbahnergewerkschaft RMT (National Union of Rail, Maritime and Transport Workers) folgen und für angemessene Lohnerhöhungen, eine Garantie dass keine weiteren Stellen mehr abgebaut werden und gegen die steten Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen zwei Tage lang die Arbeit niederlegen. Um ihren Forderungen in der monatelangen Hängepartie im Bahnkonflikt nochmals zusätzlich nötigen Nachdruck zu verleihen wird der Streik Freitag und Samstag für zwei weitere Tage fortgesetzt und der Arbeitskampf auf der Schiene weiter verschärft. Über Weihnachten erfolgen dann anderweitige Kampfmaßnahmen (Dienst nach Vorschrift, keine Annahme von Buchungen vom 24. bis 27. Dezember, …) bzw. auch regionale Ausstände und Stilllegungen der Schiene, bevor es am 3. und 4. sowie 6. und 7. Jänner mit zwei weiteren 48-stündigen Streiks weitergeht.
Übermorgen: Erster landesweiter Streik der KrankenpflegerInnen
Am Donnerstag und nächsten Dienstag folgt der Streik im Gesundheitssektor, in dem nicht nur überhaupt erstmals in Britanniens Geschichte die KrankenpflegerInnen im gesamten Land – und mithin mehr als 100.000 PflegerInnen – in den Streik treten werden, sondern dem sich mit 21. und 28.12. zudem auch die Fahrer von Ambulanzen und 25.000 RettungssanitäterInnen des Landes angeschlossen haben. In mehr als der Hälfte aller Krankenhäuser hat sich das Pflegepersonal bei einer wochenlangen Abstimmung für den Streik entschieden, wie die größte Gewerkschaft für diese Berufsgruppe, das Royal College of Nursing (RCN), unlängst bereits mitteilte. Die Kampagne »Fair Pay for Nursing« fordert neben Gehaltserhöhungen von fünf Prozent über der Inflationsrate, die aktuell bei fast zwölf Prozent liegt, Maßnahmen gegen unbezahlte Überstunden.
Kabinettsminister Zahawis wildes Denken: Kampf der PflegerInnen gegen Lohnkürzungen „ist genau das, was Putin sehen will“
Als versuchte Stimmungsmache gegen die Streiks im Gesundheitssektor ist der Regierung nebenbei keine Klaviatur zu blöd, um sie zu spielen. So erklärte Nadhim Zahawi, Minister ohne Geschäftsbereich in der Regierung Sunak, unlängst in haarsträubender Rabulistik, die PflegerInnen würden mit ihren Lohnforderungen und ihrem Arbeitskampf vorrangig Wladimir Putin in die Hände spielen, indem sie die Inflation anfeuern und die britische Gesellschaft spalten. Ein Streik der PflegerInnen im Gesundheitsbereich „ist genau das, was Putin sehen will“. Diese Brücke zum Kriegsgeschehen in der Ukraine zu schlagen, benötigt schon einiges an verwilderter Phantasie, die von der RCN auch als „ein neuer Tiefpunkt“ in der versuchten Denunziation der Arbeitsniederlegung durch die Regierung bezeichnet wurde. Der Krieg in der Ukraine „als Rechtfertigung für eine Lohnkürzung für britische Pfleger“, rief selbst bei hartgesottenen GewerkschafterInnen der Insel Erstaunen hervor.
Abkommandierung der britischen Armee zum Streikbruch im Gesundheitssektor
Dagegen könnte im Gesundheitssektor durchaus schon der seitens der Regierung angekündigte Einsatz des Militärs zur Unterminierung der Streiks schlagend werden. Regierungsangaben zufolge befindet sich das Verteidigungsministerium bereits in Gesprächen mit der britischen Gesundheitsbehörde NHS, um die Armee für Krankenfahrten abzukommandieren und einzusetzen. Dieser Kriegserklärung gegenüber betont die zuständige Gewerkschaft GMB (General, Municipal, Boilermakers and Allied Trade Union): Die Rettungssanitäter sind am Limit: „Sie haben zwölf Jahre Lohnkürzungen hinter sich, sie haben in der vordersten Reihe gegen die Pandemie gekämpft und jetzt stehen sie vor der schlimmsten Krise der Lebenshaltungskosten seit einer Generation.“
Streikverbote, Streikverbote, Streikverbote und Ausbildung des Militärs in ein Streikbrecher-Corps
Gesundheitsminister Gillian Keegan erklärte unterdessen, dass für den Gesundheitssektor unter dem Titel „kritischer Infrastruktur“ eventuell ebenfalls ein gesetzliches Streikverbot eingeführt werden könnte. Auch Premier Rishi Sunak lässt keinen Zweifel darüber aufkommen, dass er Arbeitskämpfe gesetzlich einschränken will und in neuer Rigorosität gesetzlich zu verhindern trachtet. Für den anstehenden Streik käme ein solches gesetzliches Verbot freilich nicht mehr zeitgerecht. Aber die Ausdehnung des Streikverbots vom Gesundheitssystem, über das Lehrpersonal bis zu den Passkontrollbeamten an Großbritanniens Grenzen, gegen deren Ausstand wie auch jenem an den Flughäfen schon 2.000 Soldaten als sie dann ersetzende Streikbrecher der Armee trainiert werden, ist ebenso heiß in Diskussion, wie der breitgefächerte Einsatz der Armee, um Streikende im öffentlichen Dienst und darüber hinaus zu ersetzen und Streiks auf breiter Front mit Hilfe der Streitkräfte zu unterlaufen.