Mali 2021, Burkina Faso 2022, Guinea 2021 und nun der Armeeputsch in Niger 2023 – einem trotz seines Ressourcenreichtums (nicht zuletzt an Uran und Öl) der ärmsten Länder der Welt, in dem über 40% der Bevölkerung in extremer Armut leben und gerade einmal 13% der Bevölkerung Zugang zu Elektrizität haben, die sozialen Verhältnisse immer weiter erodieren und sich die Sicherheitslage seit längerem nochmals dramatisch verschlechtert hat. So ähnlich die Staatsstreiche, so vergleichbar die tiefen gesellschaftlichen, politischen und strukturellen Probleme der Länder – nicht zuletzt deren neokoloniale Ausbeutung und die krachend „gescheiterten“ westlichen Militäreinsätze. Und nun drohen dem Land und dem Sahel ein „Uran- und Kolonial-Krieg“. Damit steht die Region am Rande einer beispiellosen Eskalation. Schon der kleinste Funkten könnte das Pulverfass zur Explosion bringen und einen Flächenbrand in Westafrika entzünden.
Nach fast zehnjährigem Militärengagement musste die ehemalige Kolonialmacht Frankreich aufgrund zunehmender antifranzösischer Proteste und des neuen Windes aus Bamako seine Truppen bereits letzten August aus Mali abziehen. Analoges gilt für Großbritannien und Deutschland. Aber freilich, so einfach gedachte sich der Imperialismus Brüssels, Paris‘, Berlins, Londons wie auch Washingtons im Sahel nicht abschütteln zu lassen. Entsprechend war die EU gerade dabei weitere Truppen in Malis östlichem Nachbarland Niger zu stationieren, um sich die Rohstoffe und Einflusssphäre zu sichern und allem voran Russlands wie auch Chinas wachsenden Einfluss im Sahel geopolitisch einzuhegen und am besten zu annihilieren.
Niger verfügt zudem ähnlich wie Mali über gewaltige Uranvorkommen, die insbesondere der französische Großkonzern Orano (ehem. Areva) in seinen zahlreichen Minen im Land abbaut, während im Ölvertrieb wiederum das französische Ölflaggschiff Total einen Marktanteil von rund 40% hält und die Wasseraufbereitung- und Verteilung in den Fittichen von Frankreichs Wasser-Premiumkonzern Veolia S.A. liegt.
Mit den Interessen des Niger hat dies freilich ebenso wenig zu tun, wie die in den westlichen Hauptstädten zur Schau gestellten Sorgenmäntelchen um die Demokratie und Selbstbestimmung im Sahel. Mit pro-westlichen Putschmilitärs, Autokratien und Diktaturen hatten die EU und Washington denn auch noch nie ein Problem. Weder historisch, noch aktuell.
Entsprechend haben Brüssel und Paris zeitgleich mit den Umbrüchen im Sahel etwa die Machtergreifung von Mahamat Idriss Debyim im Tschad 2021 ebenso wohlwollend gebilligt (und Frankreich bis heute Truppen stationiert), wie sie mit der Rückkehr Tunesiens zum Autokratismus und Suspendierung des Parlaments unter Kaïs Saïed kein Problem haben. Im Gegenteil, das Land ist mit dem gerade geschlossenen „Migrationsabkommen“ nach Vorbild der Türkei und um Schutzsuchende wortwörtlich in die „Wüste zu schicken“, dafür ebengerade mit einer knappen Milliarde Euro Blutgeld ausstraffiert worden. Ein Aspekt, der auch in den Militär-Engagements der EU im Sahel eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt – um sowohl Schutzsuchenden vor dem djihadistischen Terror in ihren Ländern sowie Migrationsbewegungen aufgrund der teils kollabierten Sozialverhältnisse einen Riegel auf ihrem Weg ans Mittelmeer vorzuschieben. Und das Königreich Marokko hat für die „neue strategische Allianz“ mit dem „Wertewesten“, sowie seinem Wasserstoff und investitionsheischenden Küsten, in seinem Expansionismus letztes Jahr im Gegenzug wie zu Zeiten der Berliner ‚Kongo-Konferenz‘ 1884/85 am europäischen Verhandlungstisch die Westsahara als Kolonie übergegeben bekommen.
Mit dem (über die Ressourcenhoheit in „unserem Interesse“, Macron) etwaigen Verlust des letzten militärischen Rückzugsorts europäischer Truppen im Sahel, insbesondere jener der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich, und der beiden nun vakanten, von den USA unterhaltenen Militärbasen in Niger, hat sich die Lage aus westlicher Sicht indessen dramatisch zugespitzt. Entsprechend unverhohlen droht nicht nur der Élysée Palast in gewohnter Kolonialmanier gegen seinen zunehmenden politischen Verlust an Boden in Afrika, sondern stößt auch etwa der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell freimütig ins Kriegshorn: „Die Europäische Union unterstützt alle Maßnahmen, die die ECOWAS als Reaktion auf den Staatsstreich ergriffen hat und wird sie rasch und entschlossen fördern“ – was angesichts der per Ultimatum angedrohten Militärintervention des westafrikanischen Zusammenschlusses ECOWAS nicht weniger als einer offenen Kriegserklärung gleichkommt. Wenn auch fürs Erste noch stärker hinter den Kulissen operierend, da – wie der französischen Tageszeitung Le Monde zu entnehmen –, die ehemaligen Kolonialmächte und Länder des „Wertewestens“ aktuell nicht „in der ersten Reihe erscheinen“ wollen. Im Gegenzug erklärten denn auch Mali und Burkina Faso (übrigens beide eigentlich ihrerseits Mitglied „des“ ECOWAS) jede militärische Intervention gegen Niger zugleich als Kriegserklärung gegen ihre Länder zu betrachten und darauf entsprechend zu reagieren. Auch Algerien hat dem Vernehmen nach mittlerweile erklärt, dem Niger im Falle eines Angriffs „fremder Mächte“(ECOWAS/EU-Länder/USA) zur Seite zu stehen.
Denn nicht nur unter den Militärs und breiten Bevölkerungsschichten Nigers war die Regierung Bazoum zunehmend unbeliebter bis verhasst und stieß deren Ausbau der militärischen Kooperation mit dem Westen, zumal mit der alten Kolonialmacht Frankreich, auf rigorose Ablehnung. Immer breitere Kreise des Sahels und Afrikas sehen es ähnlich dem Anwalt und pan-afrikanischen Menschenrechtsaktivisten Sipho Mantula, der jüngst im südafrikanischen Fernsehen äußerte: „Die Rolle der Franzosen und der USA, die dort eine Militärbasis haben, dient nur schändlichen Zwecken. Sie sagen, dass sie die Dschihadisten bekämpfen, aber wir wissen, dass sie dort sind, um das Uran im Niger abzusaugen“ (immerhin, lt. Europäischen Versorgungsagentur Euratom (ESA) sind zuletzt 24% der EU-Importe an (Natur-)Uran aus Niger gekommen) – und sehen es als unumgänglich an, dem Westen seine angemaßte weltpolitische Richtlinienkompetenz zu entziehen.
Aktuell steht die Region damit, wie schon einleitend hervorgestrichen, am Rande einer beispiellosen Eskalation. Schon der kleinste Funkten könnte das Pulverfass so zur Explosion bringen und einen Flächenbrand in Westafrika entzünden. Französische Parlamentarier und BeobachterInnen sehen in der hastigen Evakuierung europäischer StaatsbürgerInnen gleichviel untrügliche Zeichen, „dass eine Militärintervention in Vorbereitung ist“. Als strategisches Scharnier dafür dürfte in einem von Analysten erwarteten Angriff aus dem Süden, aus Nigeria her (selbst, obschon westafrikanische Hegemonialmacht, ein failing state), die französische Luftwaffenbasis am Flughafen der nigrischen Hauptstadt Niamey dienen. Parallel ließ vorgestern wiederum der Senegal aufgrund ausgebrochener antifranzösischer Proteste vorübergehend das mobile Internet und Radio und Fernsehen abschalten. Ähnliche Proteste werden auch aus der Elfenbeinküste gemeldet. Vor diesem Hintergrund und angesichts der Brisanz übernehmen wir zum Staatsstreich und zur Lage im Sahel und Niger, in gekürzter Form, begleitend zudem den aufschlussreichen Artikel Von Vijay Prashad und Kambale Musavuli „Keine Marionetten mehr“ aus der aktuellen jungeWelt. (Als Ganzes nachlesbar: https://www.jungewelt.de/artikel/456019.milit%C3%A4rputsche-im-sahel-keine-marionetten-mehr.html)
Keine Marionetten mehr
Der Putsch in Niger folgt auf ähnliche Staatsstreiche in Mali (August 2020 und Mai 2021), Burkina Faso (Januar 2022 und September 2022) und Guinea (September 2021). Jeder dieser Putsche wurde von Militärs angeführt, die über die Anwesenheit französischer und US-amerikanischer Truppen und die ständigen Wirtschaftskrisen in ihren Ländern verärgert waren. Diese Region Afrikas – die Sahelzone – ist mit einer Kaskade von Krisen konfrontiert: die Austrocknung des Landes im Zuge der Klimakatastrophe, der Aufstieg islamistischer Militanz aufgrund des NATO-Krieges in Libyen 2011, die Zunahme von Schmugglernetzwerken, die Waffen, Menschen und Drogen durch die Wüste schmuggeln, die Aneignung natürlicher Ressourcen – einschließlich Uran und Gold – durch westliche Unternehmen, die für diese Reichtümer nicht angemessen bezahlt haben, und die Verankerung westlicher Streitkräfte durch die Errichtung von Stützpunkten und das ungestrafte Vorgehen dieser Armeen.
Erfahrene Führung
Zwei Tage nach dem Staatsstreich wurden die Namen der zehn Offiziere bekanntgegeben, die den seit dem 28. Juli regierenden Nationalen Rat für den Schutz des Vaterlandes (Conseil National pour la Sauvegarde de la Patrie, CNSP) führen werden. Sie kommen aus dem gesamten Spektrum der Streitkräfte […] Inzwischen ist klar, dass eines der einflussreichsten Mitglieder des CNSP General Salifou Mody ist, ehemaliger Generalstabschef des Militärs und Führer des Obersten Rates für die Wiederherstellung der Demokratie, der den Putsch gegen Präsident Mamadou Tandja im Februar 2010 anführte und der Niger bis zum Sieg von Bazoums Vorgänger Mahamadou Issoufou bei den Präsidentschaftswahlen 2011 regierte. Während Issoufous Amtszeit errichtete die US-Regierung die weltweit größte Drohnenbasis in Agadez, und die französischen Spezialeinheiten besetzten die Stadt Arlit im Auftrag des Uranbergbauunternehmens Orano (das früher zu Areva gehörte).
Es ist wichtig zu erwähnen, dass General Salifou Mody aufgrund seines Einflusses in der Armee und seiner internationalen Kontakte als einflussreiches Mitglied des CNSP angesehen wird. Am 28. Februar traf Mody mit dem US-Generalstabschef Mark Milley während der Konferenz der afrikanischen Verteidigungschefs in Rom zusammen, um »regionale Stabilität, einschließlich der Zusammenarbeit bei der Terrorismusbekämpfung und des fortgesetzten Kampfes gegen gewalttätigen Extremismus in der Region« zu erörtern. […]
Korrupte Struktur
Laut einer gut informierten Quelle in Niger sei der Grund, warum das Militär gegen Bazoum vorgegangen ist, der, dass »er korrupt ist, eine Marionette Frankreichs. Die Nigrer hatten die Nase voll von ihm und seiner Bande. Sie sind dabei, die Mitglieder des abgesetzten Systems zu verhaften, die öffentliche Gelder veruntreut haben und von denen viele in ausländische Botschaften geflüchtet sind«. Das Thema Korruption ist in Niger, einem Land mit einem der lukrativsten Uranvorkommen der Welt, allgegenwärtig. Bei der »Korruption«, von der hier die Rede ist, geht es nicht um kleine Bestechungsgelder von Regierungsbeamten, sondern um eine ganze Struktur, die während der französischen Kolonialherrschaft entwickelt wurde und die Niger daran hindert, die Souveränität über seine Rohstoffe und seine Entwicklung zu erlangen.
Im Mittelpunkt der »Korruption« steht das sogenannte Joint Venture zwischen Niger und Frankreich, die Société des mines de l’Aïr (Somaïr) – Eigentümerin und Betreiberin der Uranindustrie im Lande. Auffallend ist, dass Somaïr zu 85 Prozent im Besitz der französischen Atomenergiekommission und zweier französischer Unternehmen ist, während nur 15 Prozent im Besitz der nigrischen Regierung sind. Niger produziert mehr als fünf Prozent des weltweiten Urans, aber sein Rohstoff ist von sehr hoher Qualität. Die Hälfte der Exporteinnahmen Nigers stammt aus dem Verkauf von Uran, Öl und Gold. Eine von drei Glühbirnen in Frankreich wird mit Uran aus Niger betrieben, während gleichzeitig 42 Prozent der Bevölkerung des afrikanischen Landes unterhalb der Armutsgrenze leben. Die Menschen in Niger haben jahrzehntelang zugesehen, wie ihnen ihr Reichtum durch die Finger glitt. […]
Frankreich hat die Verwendung des Franc im Jahr 2002 eingestellt, als es zum Euro überging. 14 ehemalige französische Kolonien verwendeten jedoch weiterhin den Communauté Financière Africaine (CFA), was Frankreich immense Vorteile verschafft. […] Im Jahr 2015 sagte der Präsident des Tschad, Idriss Déby Itno, dass der CFA »die afrikanischen Volkswirtschaften nach unten zieht« und dass es »an der Zeit ist, die Schnur zu kappen, die Afrika an der Entwicklung hindert«. In der Sahelzone wird jetzt nicht nur über den Abzug der französischen Truppen gesprochen – wie in Burkina Faso und Mali geschehen –, sondern auch über einen Bruch mit der französischen Wirtschaftsmacht in der Region.
Verlässliche Verbündete
Auf dem Russland-Afrika-Gipfel Ende vergangener Woche trug der Präsident von Burkina Faso, Ibrahim Traoré, eine rote Baskenmütze, die an die Uniform des ermordeten sozialistischen Führers seines Landes, Thomas Sankara, erinnerte. Traoré reagierte scharf auf die Verurteilung der Militärputsche in der Sahelzone, auch auf den jüngsten Besuch einer Delegation der Afrikanischen Union in seinem Land. »Ein Sklave, der nicht rebelliert, hat kein Mitleid verdient«, sagte er. »Die Afrikanische Union muss aufhören, Afrikaner zu verurteilen, die sich entscheiden, gegen ihre eigenen Marionettenregime des Westens zu kämpfen.«
Im Februar war Burkina Faso Gastgeber eines Treffens, an dem auch die Regierungen von Mali und Guinea teilnahmen. Auf der Agenda dieses Zusammenschlusses steht die Schaffung einer neuen Föderation aus diesen Staaten. Es ist wahrscheinlich, dass auch Niger zu diesen Gesprächen eingeladen werden wird.